Lange war eine Tätowierung ein Stigma, heute ist sie Ausdruck von Individualität und modisches Accessoire. In Deutschland ist in den letzten Jahren eine vielfältige Tattoo-Szene entstanden und auch die Kunstwelt legt ihre Berührungsängste ab.
„Eigentlich ist das Tattoo-Handwerk viel zu wunderbar für eine Dienstleistung“, sagt Valentin Hirsch, einer der angesehensten Tätowierer in Deutschland. Hirsch sticht vor allem Tiermotive und geometrische Muster in einer künstlerischen Qualität, die seine Ausbildung als klassischer Druckgrafiker verrät. Der Wechsel ins Tätowierfach war für den 1978 geborenen Hirsch einerseits naheliegend – „auch bei einer Radierung muss man etwas zerstören, um etwas zu erschaffen“ – und zugleich eine große Verlockung. Das Tattoo ist für Hirsch viel individueller als die Grafik und muss, weil die menschliche Haut nun mal kein Stück Papier ist, auf Anhieb funktionieren. Seine Arbeit empfindet er als einzigartige Form der Kommunikation: „Ich brauche die Anreize der Kunden.“ Dieses enge Vertrauensverhältnis zwischen Künstler und Käufer ist für Hirsch einerseits eine Bereicherung, eine Erweiterung seines Mediums – und andererseits auch das künstlerische Dilemma des Tätowierens.
Teil der Alltagskultur
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Foto (Ausschnitt): © Valentin Hirsch, Foto: Ludwig Hörner
Valentin Hirsch bei der Arbeit
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Foto (Ausschnitt): © Valentin Hirsch
Tiermotiv von Valentin Hirsch
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Foto (Ausschnitt): © Valentin Hirsch
Tiermotiv von Valentin Hirsch
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Foto (Ausschnitt): © Valentin Hirsch
Tiermotiv von Valentin Hirsch
Valentin Hirsch gehört zu einer Generation, für die das Tattoo ein selbstverständlicher Teil der Alltagskultur geworden ist. Noch bis in die 1980er-Jahre trugen Tätowierungen das Stigma von Kriminalität und sozialer Marginalisierung: Sie fanden sich – als Treue- oder Zugehörigkeitszeichen – fast nur bei Seeleuten, Häftlingen oder Angehörigen der Unterwelt. Doch in den späten 1980er-Jahren entwickelten sich Tattoos zum Modetrend und heute hat sich etwa in Berlin eine bunte und teilweise enorm kreative Tätowierszene etabliert. Das Tattoo ist heute in beinahe sämtlichen Gesellschaftsschichten als modisches Accessoire und individueller Ausdruck akzeptiert, was sich nicht zuletzt in verschiedenen Museumsausstellungen (etwa 2015 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe) zur Geschichte der Tätowierung zeigt. Auch die Grenzen zur Kunstszene werden immer fließender: Während der gelernte Grafiker Hirsch eine lange künstlerische Tradition in sein neues Betätigungsfeld mitnimmt, entdecken bildende Künstler den symbolischen Gehalt der Tätowierung neu.
Verletzung als Heilung
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Foto (Ausschnitt): © Studio Stellmach
Natascha Stellmach (li) bei der Performance von The Letting Go im Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg (2015)
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Foto (Ausschnitt) © Natascha Stellmach, Galerie Wagner + Partner
Natascha Stellmach: Tag 1, Frauke’s Letting Go (2015)
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Foto (Ausschnitt): © Natascha Stellmach, Galerie Wagner + Partner
Natascha Stellmach: Tag 2, Markus’s Letting Go (2015)
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Foto (Ausschnitt): © Natascha Stellmach, Galerie Wagner + Partner
Natascha Stellmach: Culpa
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Foto (Ausschnitt): © Natascha Stellmach, mit Genehmigung von Galerie Wagner + Partner
Natascha Stellmach, Agent Provocateur: Hannah trägt Varookamcsalt, Süden der USA (2012)
Natascha Stellmach (Jahrgang 1970) kam über den Umweg der Schriftkunst zum Tattoo. Auf der internationalen Kunstausstellung
Documenta 2012 schrieb sie Besuchern verletzende Kommentare, die sie selbst als Reaktion auf ein anderes Kunstprojekt erhalten hatte, mit bunten Kinderfarben auf die Haut. Seit 2013 arbeitet die Deutsch-Australierin an ihrem
Letting Go-Projekt: Dafür sucht sie gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zunächst nach einem Wort, das für diese eine besondere Bedeutung hat. Dann sticht sie ihnen dieses Wort ohne Tinte so unter die Haut, dass die Buchstaben aus dem Blut der Menschen gebildet werden – und nach Tagen oder Wochen von selbst wieder verschwinden. Stellmachs Projekt ähnelt einer Therapiesitzung, die buchstäblich unter die Haut geht. Das Tätowieren ist für sie weniger Selbstzweck als ein Medium: „Ich finde es toll, am Körper zu arbeiten, dabei entsteht eine besondere Intimität, beinahe wie bei einer Beichte.“ Sie redet mit den Menschen über tief sitzende Ängste und wie man mit ihnen umgehen kann. „Anders als beim richtigen Tätowieren geht es mir gerade um das Vergängliche, um das Verschwinden“ – aber bevor etwas verschwinden oder heilen kann, muss es erst einmal spürbar und sichtbar werden. Stellmach ist es wichtig, dass ihr Studio auch dann noch ein Schutzraum bleibt, wenn sie jemanden im Rahmen einer öffentlichen Aufführung tätowiert. Und sie stellt immer wieder fest, dass auch die Besucher, die sich nichts stechen lassen möchten, fasziniert zuschauen: „Was wir mit unserem Körper machen, das ist eine der menschlichen Grundfragen.“
Stigma und Kunst
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Foto (Ausschnitt): © Timm Ulrichs, Foto: Volker Warning
Timm Ulrichs lässt sich eine Zielscheibe tätowieren
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Foto (Ausschnitt): © Timm Ulrichs, Foto: Ludwig Hörner
„The End“ auf Timm Ulrichs rechtem Augenlid (1981)
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Foto (Ausschnitt): © Timm Ulrichs, Foto: Roland Schmidt
„© by Timm Ulrichs“ auf seinem rechten Unterschenkel (2005)
Auch Künstler staunen heute, was Menschen alles mit ihrem Körper machen, und wie gründlich die über Jahrzehnte mit der Tätowierung verknüpfte Stigmatisierung zur modischen Selbstdarstellung umgedeutet wurde. Immer noch sind Tattoos vor allem Treuezeichen und Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit, körperlicher Schmuck und verstecktes Erkennungsmerkmal – aber eben nicht mehr nur in gesellschaftlich „geächteten“ Kreisen. Für die Pioniere der Körperkunst war dieses Stigma hingegen noch ein zentrales Motiv.
Legendär ist das Strumpfhalter-Motiv, das sich die Medien- und Performancekünstlerin Valie Export 1970 aus Protest gegen die Fetischisierung der Frau auf den linken Oberschenkel tätowieren ließ. 1974 präsentierte sich der damals 34-jährige „Totalkünstler“ Timm Ulrichs (Jahrgang 1940) mit einer gestochenen Zielscheibe über dem Herz, um sich demonstrativ den Pfeilen des Schicksals und der Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft preiszugeben: „Wenn man als Künstler mit dem eigenen Körper arbeitet“, sagt Ulrichs heute, „dann kommt man zwangsläufig zur Tätowierung.“ In den 1960er-Jahren geißelte er sich selbst vor Publikum, dagegen mag dieses erste Tattoo eine Entspannungsübung gewesen sein. „Das war mehr gerissen als gestochen“, kommentiert Ulrichs, „den Tätowierer, ein ehemaliger Fremdenlegionär, hatte das Goethe-Institut für mich ausfindig gemacht.“
Berühmt wurde Ulrichs 1981, als er sich die Worte „The End“ auf sein rechtes Augenlid tätowieren ließ – jedes Blinzeln war jetzt ein Vanitas-Motiv, ein Zeichen der eigenen Vergänglichkeit. Ulrichs nutzte die gesellschaftliche Stigmatisierung der Tätowierung, um sich als Gezeichneter zu inszenieren, und geht doch weit darüber hinaus. Im Jahr 2005 erklärte er sich schließlich zur Marke und zu seiner eigenen Schöpfung: Seither ziert der Schriftzug „© by Timm Ulrichs“ seinen linken Unterschenkel.
Tattoos, Moden und Marken
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Foto (Ausschnitt): © Dots to lines/Chaim Machlev
Chaim Machlev: Dots to lines
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Foto (Ausschnitt): © Dots to lines/Chaim Machlev
Chaim Machlev: Dots to lines
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Foto (Ausschnitt): © Dots to lines/Chaim Machlev
Chaim Machlev: Dots to lines
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Foto (Ausschnitt): © Dots to lines/Chaim Machlev
Chaim Machlev: Dots to lines
Ein gesundes Markenbewusstsein zeichnet auch die boomende deutsche Tätowierszene aus. Im riesigen, durch zahllose Facebook- und Instagram-Seiten vervielfältigten Angebot ist es künstlerisch geradezu überlebenswichtig, einen unverwechselbaren Stil zu kultivieren. Und manchmal schadet es auch nicht, eine gute Geschichte zu haben. Von Chaim Machlev etwa heißt es, dass sein erstes Tattoo für ihn ein Erweckungserlebnis war: Er ging fünf Tage in die Wüste, kündigte seinen alten Beruf, verkaufte seinen gesamten Besitz und zog von Tel Aviv nach Berlin, um als Tätowierkünstler neu anzufangen. Machlev, 1981 geboren, ist für eher abstrakte Motive bekannt. Bei ihm schlängeln sich schon mal zwei einander umspielende Linien vom Nacken bis zur Fußspitze herab. Sehr beliebt sind auch seine „Paare“: Linien, Muster oder Ornamente, die sich über beide Arme oder zwei Leiber ziehen und diese symbolisch miteinander verschmelzen.
Simone Pfaff und Volko Merschky, geboren 1973 und 1965, haben mit
Trash Polka einen eigenen Untergrund-Stil geschaffen, der virtuos mit dem düsteren Image des Tattoo spielt. Ihre Motive enthalten oft Totenköpfe, sind in der Regel großflächig, ineinander verschachtelt und weitgehend deckend aufgebracht; spärliches Rot dient als Signalfarbe in den ansonsten durchweg schwarzen, oft mit Grafik und Schrift kombinierten Tattoos. Als sie vor 15 Jahren mit
Trash Polka begannen, so Merschky, war dieser Stil in Deutschland absolut ungewöhnlich, genau wie ihre damalige Regel, den Kunden kein Mitspracherecht bei der Gestaltung einzuräumen. Bis heute stehen das Vanitas-Motiv und die Vergänglichkeit des Fleisches im Zentrum ihrer Bildwelt – mit
Trash Polka ist der Tod ein ständiger Begleiter.
Reif fürs Museum
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Foto (Ausschnitt): © Simone Pfaff, Volker Merschky
Volker Merschky und Simone Pfaff
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Foto (Ausschnitt): © Simone Pfaff, Volker Merschky
Simone Pfaff, Volker Merschky: Trash Polka
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Foto (Ausschnitt): © Simone Pfaff, Volker Merschky
Simone Pfaff, Volker Merschky: Trash Polka
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Foto (Ausschnitt): © Trash Polka
Simone Pfaff, Volker Merschky: Trash Polka
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Foto (Ausschnitt): © Simone Pfaff, Volker Merschky
Simone Pfaff, Volker Merschky: Death Polka - Ausstellung im Macro Museum of Contemporary Art of Rome (2016)
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Foto (Ausschnitt): © Trash Polka
Simone Pfaff, Volker Merschky: Trash Polka
Am Duo Pfaff/Merschky zeigt sich sehr schön, wie sich im Umfeld von Jugend- und Subkulturen Tattoostile entwickeln und verfestigen; experimentelle Tattoo-Künstler wie Valentin Hirsch oder Chaim Machlev sind mit ihren Anleihen in der Kunstgeschichte dagegen schon eher bürgerlicher Mainstream und
Trash Polka ist in Ausstellungen zu sehen. Auch das klassische Tätowierhandwerk mit seinen durchstochenen Herzen, starken Farbkontrasten und Seemannssehnsüchten ist in Deutschland noch nicht ganz ausgestorben. Aber man muss es suchen und findet es vielleicht bald nur noch im Museum: Im Jahr 1975 gab Timm Ulrichs eine Mappe mit klassischen Tattookitsch-Motiven als Siebdrucke heraus. Es war sein Beitrag zur Pop Art – mittlerweile scheint die gesamte Tattoo-Gattung in Deutschland museumsreif zu sein.