Interview 5 plus 1
Welche Normen bestimmen unser Leben?
Wir treffen Camara Lundestad Joof, die neue Hausdramatikerin des Nationaltheaters, im Café Tranen. Wir kennen sie bereits aus ihrer Zusammenarbeit mit dem deutschen Theaterregisseur Jan Bosse am Goethe-Projekt „FREIRAUM“. Seitdem arbeiten die beiden zusammen.
Wann hast du deine künstlerische Ader entdeckt, was treibt dich an?
Meine künstlerische Ader? Meine Hauptantrieb war immer politisch. Und dann fand ich heraus, dass Kunst die empathischste Form der Begegnung und des Meinungsaustauschs ist. Das hat dazu beigetragen, meinen Blick auf die Welt zu formen; er wurde geschärft in der Begegnung mit anderen künstlerischen Blicken. Die Möglichkeit, meine eigene Perspektive zu erweitern, war mein Eingang in die Kunst. Ich bin mit einem Vater im Gefängnis aufgewachsen, mit Asylpolitik und viel Zeit in Gerichtssälen. Von Kindesbeinen an habe ich Rassismus erfahren und Klassengegensätze wahrgenommen, und gleichzeitig fand ich es sehr schwierig, für all diese Aspekte der Ausgrenzung eine Sprache zu finden. Angesichts der Strukturen und starren Muster hat sich viel Wut angehäuft. Es gab eine Sprache der Auseinandersetzung, aber sie war eher poetisch als formell. Sehr früh entdeckte ich das Politische, aber auch den Wunsch, durch Kunst zu vermitteln.
Du hast den Kulturpreis der Stadt Oslo 2020 für deine Arbeit mit dem Kinder- und Jugendtheater „Den mangfaldige scenen“ (etwa: Bühne der Vielfalt) bekommen. Woran dachtest du zuerst, als du das erfuhrst?
Es ist eine sehr große Anerkennung. In den letzten Jahren habe ich mich viel mit meinen eigenen Büchern und Theaterstücken befasst. Aber dieses Theater, „Den mangfaldige scenen“, mitaufzubauen und Tausenden von Kindern die Möglichkeit eines kostenlosen Kunst- und Kulturangebots zu unterbreiten, ist nach meinem Gefühl das Beste, was ich je gemacht habe. Dabei wissen vermutlich gar nicht so viele Menschen von dieser Sache, denn hier geht es weniger um Öffentlichkeit, als darum, im Kleinen zu arbeiten und Kindern die Chance zu geben, gesehen zu werden. Es geht also nicht um tolle Zeitungsberichte von Premieren oder Festivals. Deshalb freue ich mich so unglaublich über diese Auszeichnung.
Außerdem bist du neulich Hausdramatikerin am bedeutendsten Theater Norwegens geworden, dem Nationaltheatret. Bald hat dein erstes Theaterstück Premiere, De må føde oss eller pule oss for å elske oss (wörtlich: «Ihr müsst uns gebären oder uns vögeln, um uns zu lieben“).
Ehrlich gesagt hielt ich das erst für einen Scherz, als ich die E-Mail der Theaterintendantin las. Ich rief meine Dramaturgin am „Dramatikkens hus“ (Haus der Dramatik) an und fragte sie: „Glaubst du, die meinen das ernst?“ Und sie meinten es ernst.
Viele glauben, dass das Stück davon handelt, Frau zu sein, aber das ist nicht der Fall. Es geht um Minderheitenperspektiven, die auf vielfältige Weise interpretiert werden können. Das Stück handelt davon, dass auch das Intime politisch ist. Wie navigiere ich meinen Körper in der Welt, in engen Beziehungen, in Liebesverhältnissen oder mit der Familie? Meine Großeltern, Großmutter und Großvater, sind Antirassisten bis auf die Knochen. Sie mussten es ja werden. Sie bekamen plötzlich einige dunkelhäutige Enkelkinder. Sie sahen, dass die Welt diese Enkelkinder anders behandelte als die Enkelkinder anderer Menschen. Und dann dachten sie: niemand darf meine Enkel so behandeln! Und hier beginnt der Prozess, dass niemand so behandelt werden sollte. Das alles durchlief meinen Körper, und die unangenehmen und schönen Dinge darin versuche ich in Worte zu fassen.
Szene aus Camara Lundestads Joof erster Vorstellung am Nationaltheater Oslo
| Foto: ©Erika Hebbert
„Peng, peng, Patriarchat, du bist tot!“, lässt du die weiblichen Protagonisten deines Stückes rufen. Nicht zuletzt die MeToo-Bewegung hat zum Tod des Patriarchats beigetragen. Hast du eine Vision von dem, was als nächstes kommt?
Strukturen, auch die patriarchalen, sind eine wichtige Prämisse in allen Minoritätsfragen. Welche Normen bestimmen unser Leben? Wir kommen aus diesen alten kolonialen Strukturen. Aber am übelsten in diesem Stück ergeht es der weißen Frau.
Es gibt eine Szene im Stück, in der die schwarze Frau den weißen Mann vor der weißen Frau beschützt und sagt: „Lass ihn in Ruhe!“ Er wird dauernd beschimpft. Er wird zu Tode analysiert. Jetzt ist er so verletzlich geworden, dass man ihm erlauben sollte, sich auszuruhen. Ich stimme ihr zu.
Ich denke, alle Bürgerinnen und Bürger sind in den Strukturen gefangen, in denen wir aufgewachsen sind. Nun sprichst du Visionen an, und genau davon handelt das Stück. Man wird so traurig und müde, wenn man diese Kämpfe immer wieder führt. Ich sehe keine Welt, in der ich es nicht tue. Ich habe die Utopie aus den Augen verloren. Meine Vision ist, dass wir uns lange genug ausruhen können, damit wir wieder träumen können. Meine Vision ist, dass wir uns diese Zeit zum Ausruhen auch nehmen.
Während deiner Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut, unter anderem am Projekt „FREIRAUM“, hast du den deutschen Theaterregisseur Jan Bosse kennengelernt; seitdem arbeitet ihr zusammen. Gibt es künstlerische Übereinstimmungen zwischen euch? Habt ihr so etwas wie eine gemeinsame Botschaft?
Das war wirklich eine große Überraschung. Ich habe schon mit vielen Regisseuren zusammengearbeitet, aber niemand hatte einen so großen Namen wie Jan. Wenn man in eine solche Situation gerät, ist sie oft geprägt von Autorität und Arroganz. Aber Jan, und das hat mich erstaunt, ist die neugierigste Person, die ich je getroffen habe. Sein ganzes Gesicht öffnet sich, wie bei einem Kind. Ich habe noch nie mit jemandem gearbeitet, der so zuhört wie er. Er hat eine ganz eigene Fähigkeit, verschiedene Perspektiven in meinen Projekten zu ermöglichen. Er sucht sie. Und auf meine eigene Weise tue ich das auch. Dass wir uns in unseren sehr unterschiedlichen künstlerischen Praktiken begegnen können und dass wir uns dabei gegenseitig bereichern, ist wirklich ein Geschenk. Ich bin sehr dankbar dafür, dass das Goethe-Institut uns zusammengebracht hat.
Plus 1: Welchen anderen Beruf hättest du dir vorstellen können, wenn du nicht Schriftstellerin geworden wärst?
Ich glaube, ich wäre Anwältin geworden. Grenzkonflikte, wie wir als Nationen miteinander umgehen, wie wir unsere Asylsysteme aufbauen – es gibt viele große Themen.