Interview 5 plus 1
Auf der Suche nach Tränen-Geschichten
Die Künstlerin Uta Plate arbeitet gerne mit „Expert*innen des Alltags“ zusammen, wie sie es nennt. Unter anderem erforscht sie mit Fachleuten aus Medizin, Psychologie und Theater nach der Bedeutung von Tränen und deren Verbindung zur Einsamkeit. In unserer Interview-Reihe erzählt sie von ihren Projekten.

Uta Plate | Foto: ©Uta Plate
Zwei Fragen bewegen mich: Wie kann ich als Theatermacherin Räume schaffen, in denen Menschen Erfahrungen sammeln und neue Entdeckungen machen, um Chancenungleichheiten abzubauen, die uns in Sackgassen führen – im Denken, Fühlen und Handeln? Und wie kann ich gleichzeitig durch „complicité artistique“ neue Formen und Inhalte in die Künste bringen?
Deshalb arbeite ich mit „Expert*innen des Alltags“ zusammen. Gemeinsam erkunden wir, was auf individueller und gesellschaftlicher Ebene oft ungesehen und verborgen bleibt.
Zentral ist für mich das Zusammenspiel von Menschen, deren Wege sich sonst wenig kreuzen: ob ein neuer Generationenvertrag zwischen einheimischen Senior*innen und geflüchteten Jugendlichen ausgehandelt wird oder 40 Mitwirkende mit verschiedenen Familienhintergründen Formen der Zusammengehörigkeit erkunden.
Denn Theater ist nicht nur miteinander reden, sondern zusammen eine neue Sprache entwickeln.
Ihre neueste Arbeit, die Sie zu uns nach Norwegen führt - eine Kooperation der Kunsthochschule in Oslo (KHIO) - widmet sich vergossenen und unvergossenen Tränen. In vielen Volksmärchen verwandeln sich Tränen in Perlen – werden also als wertvoll angesehen. Welche Bedeutung geben Sie dem Weinen?
Weinen ist für mich ein Lackmustest für unsere Verbindung zu den eigenen Gefühlen und den gesellschaftlichen Druck, diese zu kontrollieren. Denn Emotionen sind mehr als spontane Gefühlsausbrüche: Sie sind das Ergebnis eines Prozesses, der Bewertungen unserer Umwelt mit unserer inneren Welt verknüpft.
Vielen Kindern wird früh beigebracht, ihre Gefühle zu unterdrücken. Später verstärkt die Fixierung auf Selbstoptimierung dieses Muster. In einer Gesellschaft, die Effizienz priorisiert, gilt emotionaler Ausdruck oft als Schwäche. Selbstoptimierungstrends erhöhen den Druck, auch Emotionen zu „perfektionieren“. Warum entschuldigen sich eigentlich Erwachsene beim Weinen? Und warum dürfen Fußballer*innen weinen und Manager*innen nicht?
Bitte erzählen Sie doch mehr über besagtes Tränen-Projekt mit Mads Thygesen, Professor für Dramaturgie an der Künstlerischen Hochschule Oslo (KHIO) und der Universität Aarhus!
Wir haben uns auf die Suche gemacht nach Tränen-Geschichten aus Oslo, Berlin und Aarhus. Menschen, verschiedenen Alters und mit verschiedenen Hintergründen, haben uns ihre Tränen-Geschichten erzählt: In welcher Situation haben sie aus Freude, Trauer, Wut usw. geweint? Die aufgenommen Geschichten haben wir in einem Koordinatensystem visualisiert. In Improvisations-Workshops mit den Studierenden wurde mit Impulsen aus tränenreichen Popsongs, Dramen oder Gemälden gearbeitet.
Außerdem haben wir Fachleute aus Medizin, Psychologie und Theater nach der Bedeutung von Tränen und deren Verbindung zur Einsamkeit befragt. Mads und ich entwickeln nun eine Textfassung aus all den Begegnungen.
In der Zusammenarbeit mit den Studierenden der KHIO fragen Sie diese danach, welches politische Ereignis bei ihnen zuletzt Weinen ausgelöst hat? Was würden Sie selbst darauf antworten?
Es gibt vieles, das mich zum Weinen bringen könnte. Aber wann fließen tatsächlich Tränen? Bei Trumps erster Wahl, ja. Doch bei seiner Wiederwahl war es eher bittere Resignation. Wirklich geheult habe ich 2021 nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan und dem Einmarsch der Taliban in Kabul. Die Bilder von Zehntausenden, die verzweifelt versuchten zu fliehen. Immer wieder gab es solche Momente, etwa als Deutschland die Ortskräfte im Stich ließ. Wenn ich sehe, was es nun für Frauen bedeutet: Verschleierung ist Pflicht, und ihre Stimmen gelten als ‚Laster‘, die verborgen werden müssen.
Doch diese Wut-Tränen geben auch Kraft für politisches Handeln - eine Art Welle, die mich trägt.
Mit welchen Projekt-Ideen blicken Sie in die Zukunft?
Mit meinem Kollektiv HIATUS und dem Videokünstler Aaike Stuart werden wir nun unsere eigene Recherche beginnen zu menschlichen und nicht-menschlichen Tränen. Wir wollen in Dialog mit verschiedenen Stadtgesellschaften eine immersive Installation und Live-Performance verwirklichen. Ein Traum wäre an verschiedenen Orten dieser Welt „Tränen-Stationen“ aufzubauen!
In Berlin beginne ich zusammen mit den Kindern der Kurt-Schumacher-Schule und dem HAU-Theater das Projekt „Mehring-Manga“, unterstützt von ‚Wege ins Theater‘. In ihrem Alltag erfahren die Kinder viel Enge, somit wird ihre Leidenschaft für Mangas unser kreativer Ausgangspunkt. Sie erschaffen Manga-Wesen-Puppen, ziehen mit ihnen durch Kreuzberg und initiieren unerwartete Begegnungen, die wir filmen. Auf der Bühne erschaffen sie Fantasiestädte, und mit Minikameras lassen sie das Publikum an ihren Visionen einer neuen Realität teilhaben.
Plus 1-Frage:
Welchen Beruf hätten Sie gewählt, wenn Sie nicht Theater-Regisseurin geworden wären?
Ich liebe es zu fotografieren, richtigen Postkartenkitsch. Doch auf die Dauer würde das wohl nicht reichen, also Dokumentarfotografin oder -filmerin.