Visuelle Repräsentation von Indigenen Gemeinschaften
Hin zu einer selbstbestimmten visuellen Kultur

Semion Semionovich mit dem Berg Mesa im Hintergrund.
Semion Semionovich mit dem Berg Mesa im Hintergrund. | Foto (Detail): Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

Was ist Kultur und wie ist ihr Wiederaufleben mit Kunst und Digitalisierung verbunden? Svetlana Romanova beschreibt die entscheidende Bedeutung der kulturellen Teilhabe der Bewohner der Arktis auf der öffentlichen Agenda und die Rolle der visuellen Souveränität Indigener Völker für die Nachhaltigkeit Indigener Identitäten.

Von Svetlana Romanova

Es ist eine schwierige Aufgabe, fest verwurzelte Ideologien darüber, was Kultur ist, zu durchbrechen, denn es erfordert nicht nur die Einführung in die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen, die in den letzten Jahren aufgekommen sind, sondern auch die Umerziehung des Blicks und des Geistes, um bereit zu sein, diese Formen aufzunehmen. Die Feinheiten der künstlerischen Ausdrucksformen können durch die Verwendung vertrauter Formate wie der Videoproduktion vereinfacht werden. Bewegte Bilder werden in unserem täglichen Leben als Kommunikationsmittel verwendet und sind als visuelle Repräsentationsform wenig bis gar nicht verdächtig. Die Veränderungen des Inhalts und des Kontexts könnten auch etwas von Bedeutung umsetzen – einsetzbar für die täglichen Mittel oder das Gemeinwohl betreffend.

  • Semion Semionovich, Ältester des Dorfes Kyusyur auf dem Weg zum Amerikanischen Berg im Bezirk Bulunsky Foto: Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

    Semion Semionovich, Ältester des Dorfes Kyusyur auf dem Weg zum Amerikanischen Berg im Bezirk Bulunsky

  • Semion erforschte die Geschichte der Region Bulunksy auf seinen Skitouren und entdeckte zahlreiche Geschichten, die er dokumentierte, um sie aus der Perspektive der lokalen Bevölkerung zu erzählen. Foto (Detail): Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

    Semion erforschte die Geschichte der Region Bulunksy auf seinen Skitouren und entdeckte zahlreiche Geschichten, die er dokumentierte, um sie aus der Perspektive der lokalen Bevölkerung zu erzählen.

  • An diesem Amerikanischen Berg endete die Expedition von George De Long Washington. Foto (Detail): Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

    An diesem Amerikanischen Berg endete die Expedition von George De Long Washington.

Ziel ist es, die Indigene Bevölkerung die Art und Weise, wie Kultur in der globalen Welt praktiziert wird, überdenken zu lassen und aufzuklären, wie die Kunst als Instrument genutzt wird, um international Fürsprache zu erlangen.

Wer wird als Indigene Person eingestuft?

Sibirien nimmt rund siebenundsiebzig Prozent des russischen Territoriums ein und ist in drei Arten von Föderalbezirken unterteilt: Republiken, Krais, Oblasten und autonome Okrugs. Die Republik Sacha-Jakutien liegt in der Region Sibirien und hat acht anerkannte ethnische Gruppen, von denen fünf nach einer offiziellen Berechnung der russischen Regierung als "geringfügig" Indigen eingestuft werden. Diese offizielle Einstufung als Indigene Gruppe ist beunruhigend, da sie in erster Linie auf Bevölkerungszahlen und der vermeintlichen Gefahr beruht, auszusterben. Dieses Definitionssystem in Verbindung mit dem aktuellen Stand der Sozioökonomie führt zu verwirrenden Unterscheidungen zwischen den Ureinwohnern der Region. So verfügen beispielsweise die Jakuten, der dominierende Stamm in der Republik Sacha, über eine unvergleichliche kulturelle, politische und wirtschaftliche Macht. Aufgrund ihrer relativ großen Bevölkerung von 350.000 Menschen werden sie aber nicht als Indigene eingestuft. Obwohl ihnen der Status als Indigenes Volk verweigert wurde, ist es den Jakuten (Original: Sakha) gelungen, die Kontrolle über die Erstellung und Verbreitung von Bildern zu erlangen, die die Vielfalt der arktischen Gemeinschaften der Republik wiedergeben.     

Das Gefühl der drohenden Gefahr des Aussterbens, das mit der Zuordnung als Indigen verbunden ist, vermittelt das Gefühl, sich zwangsläufig für das Wohlergehen und die Zukunft dieser Kulturen einzusetzen. Dies lässt sich leicht auf das Schicksal Indigener Völker übertragen, aber auch auf die Art und Weise, wie wir das Wort Arktis zuordnen und assoziieren. Zum Beispiel ist das Bild der arktischen Entbehrung in der westlichen Welt zu einem Stereotyp geworden.
  • Sommeranfang: Überreste des Wintereises an den Ufern der Lena im Dorf Kyusyur. Foto (Detail): Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

    Sommeranfang: Überreste des Wintereises an den Ufern der Lena im Dorf Kyusyur. Ein Teil davon dient als Trinkwasserquelle.

  • Leute holen Eiswasser. Foto (Detail): Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

    Leute holen Eiswasser. Aufgrund des Klimawandels kann man in letzter Zeit beobachten, wie der Wasserspiegel ansteigt, was zu einem Rückgang der Eisstücke führt.

  • Ein Wissenschaftler erklärt die Besonderheiten der lokalen Geo-Landschaft im Museum des Nationalparks Tiksi. Foto (Detail): Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

    Ein Wissenschaftler erklärt die Besonderheiten der lokalen Geo-Landschaft im Museum des Nationalparks Tiksi.

  • Der Berg Mesa ist eine kleine Formation in der Mitte des Lena-Deltas. Foto (Detail): Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

    Der Berg Mesa ist eine kleine Formation in der Mitte des Lena-Deltas.

  • Semion Semionovich mit dem Berg Mesa im Hintergrund. Foto (Detail): Standbild aus dem Kurzfilm „Voyage“ © Svetlana Romanova

    Semion Semionovich mit dem Berg Mesa im Hintergrund.

Die Bewohner*innen der arktischen Regionen verlieren rapide ihre traditionellen Lebensweisen

Dieses Landschaftsbild ist die totale Auslöschung der Bewohner, wodurch rentable Gebiete für die zukünftige Ausdehnung der Territorien geschaffen werden. Die Produktion und Verbreitung von abgeänderten Bildern ist keine abstrakte Kraft, sondern ein Mechanismus der Macht, der aktiv geworden ist. Diese beunruhigende Sichtweise verletzt nicht nur die Präsenz der einheimischen Bevölkerung aus historischer Sicht, sondern schließt sie auch von der Teilnahme an zukünftigen Dialogen über das Land, das sie bewohnen, aus. Man kann sich fragen, ob dieses sorgfältig ausgearbeitete Narrativ von dem Wunsch getrieben wird, die Bedürfnisse der Konzerne zu befriedigen, und wie die Auswirkungen dieser Strukturen die unmittelbare Realität in den Arktisgebieten gefährden. Von größerer Relevanz ist es, wie diese künstlich konstruierte Idee von dem Land und seinen Menschen aktuell die Identität der arktischen Bevölkerung irritiert. Das Werkzeug ist ein »Image«, das kreiert und massenweise projiziert wird. In diesem Szenario haben sich Bilder als Währung etabliert, durch die die Kommodifizierung (Umwandlung von Geld in Wirtschaftsgüter) nach bestimmten sozioökonomischen Normen berechnet und die als Waffe eingesetzt wird, um soziale Identitäten zugunsten des Kommerzes zu formen und ausgedehnte Territorien zu erobern.

Im Zuge der fortschreitenden Entwicklung und der neuen Politik der „modernen“ Wirtschaft verlieren die Bewohner der arktischen Regionen rapide ihre traditionellen Lebensweisen und die Gebiete, in denen sie diese praktizieren. Zu diesen Bedingungen trägt die Verknappung von Land für die Weidewirtschaft bei; dieses Land wird von den Institutionen der Ressourcenwirtschaft besetzt. Ein weiterer Faktor ist das sinkende Interesse an den traditionellen Praktiken selbst: Wildtierhaltung, Fischerei, Jagd und so weiter.
  • Der Hauptdarsteller im Film „Stado9/Kyusyur“ schaut über die Weite der Arktis. Foto: Standbild aus dem Film „Stado9/Kyusyur“ © Svetlana Romanova

    Der Hauptdarsteller im Film „Stado9/Kyusyur“ schaut über die Weite der Arktis.

  • Es fehlt die romantische Weite. Stattdessen sieht man den Menschen, der in sie hineinschaut (eine Art Vorschlag für die Weite mit ihrer Abwesenheit), und einen buchstäblichen Blick, wie die besetzte Weidefläche aussieht. Foto: Standbild aus dem Film „Stado9/Kyusyur“ © Svetlana Romanova

    Es fehlt die romantische Weite. Stattdessen sieht man den Menschen, der in sie hineinschaut (eine Art Vorschlag für die Weite mit ihrer Abwesenheit), und einen buchstäblichen Blick, wie die besetzte Weidefläche aussieht.

Dies wird nicht nur durch die Perspektivlosigkeit in den traditionellen Industrien diktiert (niedriges Einkommen, harte Arbeit usw.), sondern auch durch den erzeugten Mythos beschleunigt. Der Mythos ist hier die Darstellung der Realität eines Menschen durch das Prisma des Kapitalismus. Die Zugänglichkeit des jüngsten technologischen Fortschritts (Handys, Kameras, Computer usw.) hat ein Umfeld geschaffen, in dem die Übermittler dieses Mythos zu einer Verlängerung unseres Körpers geworden sind. Die visuelle Sprache ist in diesen Stämmen nicht nur zu einer neuen Kommunikationsform geworden, sondern hat sich auch zu einer Kraft entwickelt, die Konzepte, Kontexte und Narrative besetzen und monopolisieren kann, indem sie neue Normen für die visuelle Darstellung schafft und den bevorzugten Archetyp diktiert. Der Zwiespalt in einer repräsentativen Idee eines Bildes führt dazu, dass diese Bildrealität die Komplexität der Realität der arktischen Gemeinschaften im globalen Bewusstsein ausblendet. Es wird deutlich, dass es an Mechanismen und Plattformen mangelt, die eine autonome und selbstbestimmte Produktion von Inhalten aus der Perspektive der Urbevölkerung unterstützen. Dies würde nicht nur der Kultur zugutekommen und ihren Erhalt in der heutigen Form sichern, sondern auch als Schutzschild fungieren, indem man in einen neuen Kontext setzt, was die Arktis ist und wer sie bewohnt. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass dadurch die Bedeutung der kulturellen Bewahrung wiederbelebt wird und neue alternative Wege gefunden werden, wie sich Traditionen ethisch an das gegenwärtige Zeitalter anpassen können.

Isuma.TV als Beispiel für kollektive Emanzipation

Ein gutes Beispiel dafür, wie kulturelle Wiederbebung im digitalen Zeitalter aussehen kann, ist Isuma.TV. Es ist das Projekt des Regisseurs Zacharias Kunuk aus Nunavut, das sich mit der vielschichtigen Kultur der Einwohner von Nunavut beschäftigt. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um einen ständig neu ergänzten Katalog von Videos, die von Menschen vor Ort produziert werden. Bei der Produktion der Bilder gibt es einen Wechsel in der Einstellung – sie spricht nicht über die Gemeinschaft, sondern aus der Gemeinschaft heraus, über die Gemeinschaft und zu der Gemeinschaft. Das Hauptziel besteht nicht nur darin, die Sprache und die kulturellen Traditionen zu bewahren und zu dokumentieren, sondern auch einen sicheren Raum (real oder virtuell) zu schaffen, in dem Informationen ausgetauscht und Gespräche über relevante Themen geführt werden können, die für die Region spezifisch sind und komplexe kulturelle Werte haben. Soziale Praktiken dieser Art bauen Brücken und verbinden Generationen von Menschen. Das Ergebnis ist eine Veränderung des sozialen Klimas, indem das Interesse an sich selbst und am Wohlergehen der eigenen Gemeinschaft gestärkt wird. Isuma.TV beweist, dass eine kollektive Emanzipation erreicht werden kann und dass der Zugang zur Kontrolle der visuellen Repräsentation der eigenen ethnografischen Identität nicht nur die Schaffung eines Images ist, sondern eine aktive politische Position, die zur Ethnogenese (Entstehung einer Ethnie) führen und nachhaltige Wissenssysteme schaffen kann.
           
Um solch herausragende Ergebnisse zu erzielen, sollte man sich einen Weg durch die vielen Felsen  bahnen. Felsen, die sich in der Republik Sacha beispielsweise durch Modernisierungsmangel in allen Bereichen darstellen. Damit sich die Kultur entfalten kann, muss es einen Mechanismus zur Unterstützung der Infrastruktur geben. Wir sind nicht nur mit der konzeptuellen Isolation konfrontiert, die als Synonym für das Wort „Arktis“ verwendet wird, sondern auch mit der faktischen Isolation, die sich aus den hohen Kosten für alle zugänglichen Verkehrsmittel ergibt, die uns mit der großen Welt verbinden. Darüber hinaus gibt es keine nachhaltigen Kommunikationsformen und -kanäle – das Internet ist so gut wie nicht vorhanden. Der mangelhafte Austausch von Informationen führt zu einer Stagnation, die leicht zu erkennen ist, wenn man sich den aktuellen Zustand der kulturellen Organisationen und die Art und Weise, wie sie gesteuert werden, ansieht. Abhängig von der Rollenerfüllung, die nach der archaischen Vorstellung des Begriffs „Indigen“ entwickelt wurde, existiert das lokale Kunsthandwerk in einer abgekapselten Zeitblase. Das soll nicht heißen, dass die aktuellen Kunst- und Handwerkstraditionen, die immer noch praktiziert werden, entmutigt werden sollen, sondern es geht vielmehr darum, neu zu formulieren, wie diese Produkte genutzt, geteilt und im Zusammenhang mit dem Besitz der kulturellen Produktionsmittel wahrgenommen werden können.

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