Interview 5 plus 1
Pinas Erbe
Ein Gespräch über Pina Bausch, den Tod und künstlerische Herausforderungen mit dem norwegischen Choreographen Alan Lucien Øyen in der Oper Oslo, ein paar Stunden vor der Aufführung von seinem "Neues Stück II", Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.
Mit dieser Spielzeit, der 44., hat am Tanztheater Wuppertal Pina Bausch eine neue Ära begonnen. Neue Handschriften wie auch die von Ihnen in „Neues Stück II“ prägen jetzt und künftig die Gestaltung auf der Bühne. Auf welche Weise würden sie diesen weiterentwickelten, künstlerischen Ausdruck beschreiben?
Ich denke gleichzeitig, dass Pina Bausch immer eine Kompanie war, die sich an der „forefront of creation“ befand. Pina war ja ein fantastisches Genie und immer kreativ. Ich finde es sehr positiv, dass die Kompanie jetzt etwas zusammen erarbeitet. Unabhängig vom Resultat – und eben auch, weil die Kompanie heute etwas gemeinsam entwickelt –glaube ich, dass die Werke, die jetzt entstehen, ausschließlich positiv wirken werden und dazu beitragen, Pinas Repertoire aufrechtzuerhalten. Wenn wir zurückschauen und ihr Werk aufgreifen, handelt es sich auch um das gemeinsame Erlebnis eines schöpferischen Prozesses. Es gibt ja heute Tänzer in der Kompanie, die nie mit Pina zusammengearbeitet haben. Klar gibt es eine Hierarchie, aber dass die Tänzer so eng zusammenarbeiten, bringt uns als Gruppe weiter. Auf diese Weise sind wir in der Lage, Pinas Erbe zu bewahren.
Der Titel „Neues Stück II“ fällt durch seine Schlichtheit auf. Worte sind natürlich beim Tanzen nicht so wichtig wie die Sprache des Körpers und seine vielfältigen Bewegungen. Zugleich gibt diese Überschrift Raum für eine weitläufigere Performance – Stichwort transdisziplinär. Was reizt Sie besonders an dieser spartenübergreifenden Arbeit?
Für mich ist dies der einfachste Weg. So findet man die Sprache, die jede Situation oder Idee erfordert. Manches muss man mit Tanz erzählen. In anderen Fällen eignen sich Worte besser. Ich bin da recht intuitiv und arbeite mit den Erlebnissen und Erfahrungen der Tänzer. Die Form ist also bis zu einem gewissen Grad zweitrangig. Der Inhalt ist der Kern der Arbeit. Und der kommt auf verschiedene Weise zum Ausdruck.
In dem Stück geht es nicht zuletzt um Grenzerfahrungen menschlichen Lebens, um Tod und Schmerz, bis zu traumatischen Ereignissen und die Erinnerung daran – in jedem Fall Themen, die gemeinhin immer noch gesellschaftlichen Tabus unterliegen. Was ist für Sie auf diesem Gebiet die künstlerische Herausforderung?
Ich habe mich immer für den Tod interessiert – die äußere Grenze dessen, was wir das Leben nennen. Wir wissen nicht, was nach dem Tod passiert. Im verdichteten Raum zwischen Geburt und Tod entfaltet sich das Leben. Deshalb ist der Tod so wichtig; er war immer wichtig für meine Arbeit. Diese Produktion haben wir ohne Thema begonnen, deshalb der Titel „Neue Stücke II“. Wir wussten nicht, wohin das führen wird. Wir fingen mit allen Tänzern und mir am Punkt Null an und versuchten herauszufinden: Worüber wollen wir heute sprechen? Und ausgehend von den Geschichten, die auftauchten, war uns klar, dass wir uns mit diesem Thema befassen wollen. Den Tod als „Tod“, wie wir ihn kennen, gibt es ja in jeder Form eines Übergangs, z.B. wenn ich jetzt Abschied von dir nehme oder wenn man aus einem Haus auszieht. Wann ist es wichtig loszulassen, wann hält man an etwas fest? Wie verhält man sich zu etwas, was nicht mehr existiert? Alles ist Erinnerung; die Menschen, die hier waren, existieren nicht mehr.
Auch „Neues Stück II“ ist nach seiner Premiere Anfang Juni in Wuppertal auf Reisen gegangen. Was sind die Stationen, und wie haben Sie die Premiere in Oslo und das norwegische Publikum erlebt?
Wir werden in London, Paris und Berlin spielen. Die Premiere in Oslo ist sehr positiv aufgenommen worden. Ich konnte fühlen, dass es ein warmherziges, aufgeschlossenes Publikum war. Ich war zum zweiten Mal sehr erleichtert. Beim ersten Mal in Wuppertal war ich sehr nervös, als ich die Tänzer ohne Pina auf die Bühne schickte. Wie würde Wuppertal reagieren? Aber es war unglaublich schön und bewegend zu sehen, wie sie das Projekt in ihr Herz schlossen. Dasselbe passierte hier in Oslo. Es wirkt so, als würden die Tänzer einen Akkord anschlagen, der das Publikum trifft.
Wim Wenders hat einst den Film “Pina“ gemacht, sein aktueller handelt vom Papst, was ich nur erwähne, weil Pina Bausch, neun Jahre nach ihrem Tod eine ähnliche Unsterblichkeit wie ein solcher erlangt hat. Inwieweit bezieht sich das Tanztheater Wuppertal weiterhin in seinen Inszenierungen auf die legendäre Choreographin?
Meine Arbeitsweise unterscheidet sich nicht grundlegend von der von Pina, auch weil sie so großen Einfluss auf die Bühnenkunst generell hat. Pina hat mich sehr beeinflusst. Ich arbeite mit den Erfahrungen der Tänzer, und ihre Erfahrungen stammen aus der Arbeit mit Pina. Deshalb lebt Pinas Geist in ihnen weiter. Und es ist wahnsinnig schön, diesen gemeinsamen Nenner zu spüren. Wenn du dir „Neue Stücke I“ und „Neue Stücke II“ anschaust, kann man sich kaum zwei Stücke denken, die unterschiedlicher sind, aber dennoch siehst du den gemeinsamen Nenner. Die Projekte hängen zusammen. Das ist Pina.
Plus 1: Welchen anderen Beruf hättest du dir auch für dich vorstellen können?
Arzt. Weil die Sachen, mit denen wir uns beschäftigen, eine existentielle Wichtigkeit haben. Wir befassen uns mit den Gefühlen der Menschen. Ich glaube, dass das Theater sehr wichtig ist.