Interview 5 plus 1
„Ich liebe Menschen, und ich höre gerne zu“

Wir sind zu Besuch bei der Filmregisseurin Nefise Özkal Lorentzen, um mit ihr über ihren aktuellen Dokumentarfilm Sex, revolusjon og islam (Sex, Revolution und Islam) zu sprechen - ein Porträt der ersten Imamin in Deutschland, Seyran Ateş. Der Film wird im November auf dem internationalen Filmfestival "Film fra sør" in Oslo gezeigt.
 

Kannst du uns etwas über deinen Hintergrund als Filmregisseurin erzählen? Was hat deine Berufswahl beeinflusst?

Ich bin in der Türkei geboren und aufgewachsen. Zunächst studierte ich Politikwissenschaft. Als ich nach Norwegen kam, begann ich ein Studium der Medienwissenschaft. Alles lief auf eine Wahl hinaus: Wissenschaft oder internationale Politik. Es wurden jedoch die Medien. Ich begegnete während des Studiums einem Lehrer namens Peter Watkins, einem Dokumentarfilmer. Er hat meine Pläne gründlich verändert. Nach einem Kurs bei ihm beschloss ich, Filmemacherin zu werden. Seit meinem Master-Abschluss arbeite ich nur noch an Filmprojekten.

Deine Dokumentarfilme haben immer eine politische und humanistische Botschaft. Die Protagonistin deines neuen Films, Seyran Ateş, Imamin aus Berlin, ist für viele ein    Vorbild, weil sie gegen überkommene Ideen revoltiert und den Islam mit der Moderne versöhnen will. Wie hast du die Idee bekommen, über sie einen Film zu drehen?

Das war im Grunde ein ziemlicher Zufall. Ich habe nach 9/11 einige Filme zum Thema Islam und Gender gedreht. Das Datum war ein Wendepunkt für mich. Ich dachte, ich könnte es nicht mehr ertragen, ein Teil dieser Religion zu sein. Dann sprach ich mit einigen schwulen Freunden. Sie erklärten mir, wie wichtig ihnen der Islam sei und dass sie Muslime bleiben wollten. Allerdings wollte der Islam sie nicht. Das führte dazu, dass ich mich mehr für den Islam zu interessieren begann. Ich wollte wissen, was der Islam ist und was nicht – eine Art Erkundung also. Ich war schon kurz davor, mich ganz abzuwenden. Der erste Film, den ich zu diesem Thema gemacht habe, war Gender me. Im nächsten Film, A ballon for Allah, ging es um das Verhältnis von Islam und Feminismus. Danach kam Manislam. Islam and Masculinity. Ich habe etliche Jahre an dieser Trilogie gearbeitet und dachte eigentlich nicht, dass ich noch weitere Filme über den Islam drehen würde. Aber dann las ich über weibliche Imame in China. Das war alles sehr faszinierend. 2014 begann ich mit dem Research. Der Film bekam den Arbeitstitel „Das erste Abendmahl“, inspiriert vom „letzten Abendmahl“. Meine Idee war, etwas über eine Frau zu machen. Irgendjemand muss das „erste Abendmahl“ zubereitet haben. Ich war ziemlich ehrgeizig: ich wollte die weiblichen Imame in China und Europa treffen und Interviews mit ihnen führen. Am Ende wollte ich die Frauen nach Nord-Norwegen einladen, und dort sollten wir gemeinsam „das erste Abendmahl“ einnehmen. Das war der Traum. Aber eines Tages zeigte mir meine Mutter einen Artikel aus der „New York Times“ über Seyran Ateş, die in Berlin ihre eigene Moschee gegründet hatte. Und ich dachte: Wow, das ist ja großartig! Ihre Moschee steht Männern und Frauen offen – und auch Menschen, die sich nicht zum Islam bekennen. Dann nahm ich Kontakt zu Seyran auf und reiste nach Berlin.

Seyran Ates in der Kirche
Seyran Ates in der Kirche | Foto: ©Integral film
Wie erinnerst du dich an dein erstes Treffen mit ihr?

Das erste Treffen mit ihr war sehr faszinierend, weil ich zum ersten Mal in ihre Moschee kam. Sie lief herum und trug einen großen Tisch, einen Küchentisch von einem Platz zu einem anderen. Sie fasste überall mit an und führte sich überhaupt nicht wie eine Königin auf, obwohl die ganze Welt sie mittlerweile kannte. Sie tat, was nötig war. Seyran gibt alles für die Menschen, mit denen sie zusammenkommt, behandelt sie mit Respekt. Und ich bin fasziniert davon, wie sie zuhört. Sie kann sehr still sein. Aber wenn die Welt es braucht, dann schreit sie.

Der Film dokumentiert den Kampf um sexuelle Befreiung. Er wird im November auf dem Festival "Film fra Sør" gezeigt, und Seyran Ateş wird sich im „Kritischen Raum“, wie das Diskussionsforum des Festivals heißt, der Debatte stellen. Was sind nach deiner Meinung die wichtigsten Fragen, die diskutiert werden sollten?  

Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass ein religiöser Führer der muslimischen Welt über den Himmel spricht. Die Beschreibung des Himmels ist für viele Muslime sehr wichtig. Und wir brauchen eine sexuelle Revolution. Sollte ich in den Himmel kommen, würde ich gerne wissen, ob es dort Filmfestivals und Poesie gibt. Ja, ich würde gerne mehr über den Himmel hören, und nicht nur, dass es dort 17 Jungfrauen gibt. Das Leben nach dem Tod ist im Islam sehr wichtig, es ist eine philosophische Frage. Der Film über Seyran, Sex, revolusjon og islam, handelt auch von unserer Zukunft, von einer neuen Vision. Für mich ist die Revolution nicht zuletzt eine Möglichkeit, Kreativität zu nutzen. 

Du bist auch Cineastin und liebst das Kino. Was muss ein Film haben, damit er deine Anerkennung als Zuschauerin bekommt?

Für mich ist wichtig, dass ein Film es wagt, innovativ zu sein. Es kann dabei um sozialen Realismus oder irgendetwas anderes gehen. Zwei Filme bedeuten mir besonders viel und inspirieren mich bis heute: der erste ist der deutsche Film Der Himmel über Berlin von Wim Wenders. Der zweite ist der philosophische Science-Fiction-Film Arrival des kanadischen Regisseurs Denis Villeneuve. Ich mag Filme, die mir eine neue Perspektive eröffnen. Solche Filme können uns ein neues Bewusstsein geben.

Plus 1: Welchen anderen Beruf hättest du dir vorstellen können, wenn du nicht Filmregisseurin geworden wärst?

Vielleicht hätte ich mich dafür entschieden, Psychologin zu werden. Ich liebe Menschen und ich höre gerne zu.
 

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