Rosinenpicker
Von Frauen und ihren Objekten
Das Leben von Frauen in der Vergangenheit wird oft als belanglos dargestellt. Annabelle Hirsch widerspricht dieser These und führt anhand von 100 Dingen einfühlsam und abwechslungsreich durch die Geschichte der Frauen.
Von Anna Berchtenbreiter
Auf TikTok geisterte vor ein paar Monaten ein Trend namens „History repeats itself“ herum. Man sah Frauen, wie sie scheinbar alltägliche Dinge taten: Haare flechten, Bücher lesen, stricken – und dann mit dem gespiegeltem Selbst, einer „Frau aus der Vergangenheit“, darüber plauderten. Sie kamen zu dem Schluss, dass sie, obwohl sie in unterschiedlichen Jahrhunderten lebten, beide das gleiche taten. Die Videos vermittelten den Zuschauer*innen das Gefühl von Verbundenheit und Verständnis und transportierten auch ein bisschen Melancholie.
Genau das fühlt man bei der Lektüre von Annabelle Hirschs Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten. Es ist ein Sachbuch, das sich gegen die konventionelle Geschichtsschreibung stellt, in der man vor allem von herausragenden Männern hört, die heldenhafte Taten vollbracht haben. Von Frauen liest man eher weniger. Doch das heißt nicht, dass sie nicht aktiv an der Weltgeschichte mitgewirkt haben. Sie wurden jedoch, bis auf wenige Ausnahmen, nur als passives Beiwerk und nicht als Handelnde gesehen. Das zeigt auch eine Anekdote der Autorin, nachzulesen in ihrer Einleitung. Als sie nämlich einem Bekannten von ihrer Idee erzählte, scherzte dieser herablassend: „Frauen und Objekte? Frauen sind doch Objekte!“
Der private Teil der Geschichte
Auf 400 kurzweiligen Seiten zeigt die deutsch-französische Journalistin, dass Frauen definitiv keine Objekte in der Geschichte waren, sondern Akteurinnen mit eigenem Kopf. Sie schreibt über die kleinen Dinge, den intimen, privaten, oft vergessenen Teil der Geschichte: Scheren, Amulette, Kleidertaschen, Korsetts, Dildos und vieles mehr. Dinge, die Frauen bewegten, begleiteten, befreiten. Das Buch präsentiert eine persönliche Sammlung von Objekten, meint die Autorin, subjektiv und stark beeinflusst von ihrem eigenen Hintergrund.Auf drei Seiten pro Objekt schafft sie es, die Geschichten hinter den scheinbaren belanglosen Dingen aufleben zu lassen. Manches kommt einem bekannt vor, anderes dagegen ist überraschend. Lehrreich sind die Ausführungen alle. Hirsch möchte zeigen, wie vielfältig und nicht linear die weibliche Geschichte ist.
Chronologisch folgt man der Autorin auf einer Reise von circa 30.000 v. Chr. über das ausführlich dargestellte 20. Jahrhundert bis zum Endpunkt 2017. In schwarz-weiß, auf rosa Seiten, kann man zum Beispiel die Bilder eines verheilten Oberschenkelknochens, einer Hexentanz-Maske, einer Menstruationstasse und von Kim Kardashians Ring bestaunen.
Im Kapitel über ein sogenanntes Lilith-Amulett lernt man recht früh im Buch und auf der Timeline der Autorin die erste Frau in der religiösen Geschichte kennen. Das war laut hebräischen Mythen nicht Eva, sondern Lilith – eine Rebellin, die sich Adam nicht unterwerfen wollte und daraufhin das Paradies verließ. Sie wurde verteufelt als Kindsmörderin, das Böse in Person, die Frau Satans, gegen die man sich mit einem Amulett schützen könne, so der Glaube. Später, so liest man erleichtert, erlebte Lilith ein Comeback: in den 1960er-Jahren wurde sie zu einem Vorbild für jüdische Feministinnen als eine freie, unkontrollierbare Frau.
Viele Jahre und Seiten später, Hirsch ist im Jahr 1900 angekommen, sieht man das Bild einer unscheinbaren Hutnadel. Warum die im Buch gelandet ist? Weil dieses spitze Modeaccessoire Männer in den westlichen Großstädten in Angst und Schrecken versetzte, denn Frauen nutzen sie zeitweise als Mittel der Selbstverteidigung. 1903 zum Beispiel, wollte sich Leoti Blaker nicht weiter von einem Herrn im Bus belästigen lassen und stach ihm, nachdem er sie mehrfach unangemessen berührt hatte, mit ihrer acht Zentimeter langen Hutnadel in den Arm – und landete damit sogar auf der Titelseite einer Zeitung.
Verbindung in die Vergangenheit
Egal, ob es sich um das Sappho-Papyrus aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. oder ein Fahrrad aus dem Jahr 1889 handelt: Hirsch schafft es, in ihrem Buch einfühlsam eine Nähe zu den Frauen der Vergangenheit herzustellen. Man fühlt sich ihnen auf unerklärliche Weise verbunden. Man ärgert sich für sie, leidet mit ihnen oder feiert sie für ihren Mut und ihre Gewitztheit. Die Autorin bringt das Verborgene, diesen sagenumwobenen „privaten“ Raum, der lange Zeit das einzige Zuhause von vielen Frauen war, ans Licht und zeigt, dass die Frauen von damals gar nicht so passiv waren, wie viele heute denken. Die Frauen der Vergangenheit waren präsent, sie haben, wie Kristine Harthauer von SWR2 in ihrer Rezension sagt, „in der Geschichte Platz eingenommen, sie haben Dinge bewegt, verändert und geprägt. Und vor allem: Sie haben Spuren hinterlassen, die man sehen kann, wenn man will.“Am Ende legt man das Buch zwar aus der Hand, aber die Gedanken bleiben beim Thema: Welche Dinge hätte man selbst auf diese Liste der 100 Dinge geschrieben? Und wie sähe es wohl nach 2017 aus? Welche Spuren hinterlassen die Frauen? Sind sie vielleicht so laut und auffällig wie das grell-pink und orange Cover des Buches selbst? Die Zeit wird es zeigen.
Zürich: Kein & Aber, 2023. 416 S.
ISBN: 978-3-0369-5880-4
Kommentare
Kommentieren