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Rosinenpicker | Literatur
Frühstück mit Erika

Stermann: Mir geht's gut, wenn nicht heute, dann morgen
© Rowohlt / Canva

Erst trafen sie sich in seiner Talkshow, dann regelmäßig im Wiener Hotel Imperial: Dirk Stermann, Kult-Kabarettist, und Erika Freemann, Psychoanalytikerin. Als Zwölfjährige flüchtete sie vor den Nazis nach New York. Jetzt spricht sie über ihr Leben: geistreich, anrührend, sehr unterhaltsam.

Von Marit Borcherding

1927, vor fast einem Jahrhundert, kam Erika Freeman als Erika Polesiuk in Wien zur Welt. Sie wuchs in einer jüdischen Familie auf, Vater Arzt, Mutter Lehrerin – deren Leben schon auf großer Leinwand gezeigt wurde: im oscarprämierten Film Yentl, mit Barbra Streisand in der Hauptrolle. Diese und noch viele Anekdoten mehr erzählt Erika Freemann, als sie im Wiener Fernsehstudio sitzt. Und verzaubert damit nicht nur das Publikum, sondern auch den Moderator Dirk Stermann, der als in Duisburg geborener und schon lange in Wien lebender Autor, Kabarettist sowie Fernseh- und Radiostar in Österreich Kultcharakter besitzt.

Zuhause im Grand Hotel

Und so war die TV-Session nicht das Ende, sondern der Anfang einer hinreißenden Freundschaftsgeschichte; denn von nun an gab es jeden Mittwoch bei Kipferl und Melange Frühstücksgespräche der besonderen Art zwischen Dirk und Erika – weitschweifig, witzig, pointiert, tragikomisch und schließlich zusammengefasst in dem Buch «Mir geht's gut, wenn nicht heute, dann morgen.» Die fast hundertjährige Grand Dame der New Yorker Psychoanalyse, zu deren Patienten viele Hollywood-Stars zählten, hatte sich in Wien einer Herzoperation unterzogen. Dann kam Covid und verhinderte ihren Heimflug. So quartierte sich Erika Freeman im hochprämierten Hotel Imperial ein und blieb erst einmal – nicht ganz ohne Genugtuung: „Meine Rache an Adolf Hitler. Er war nur einmal im Imperial. Ich wohne hier.“

Ein kleiner Triumph, der einen allzu hohen Preis erfordert hatte: Freemanns Mutter und Tante kamen bei einem Bombenangriff 1945 in Wien ums Leben, der Vater wurde ins KZ verschleppt, sie selbst verbrachte ihre Jugendjahre auf der Flucht und im Waisenhaus. Und noch 1961 hatte ihr ein Wiener Hotel-Rezeptionist die Unterkunft mit den Worten „Wir nehmen keine Juden“ verwehrt. Jetzt war man ihr im Luxushotel stets zu Diensten – und auch Stermann profitiert, denn Erika schenkt ihm sehr liebevoll immerzu die nicht benutzte und stetig erneuerte Hotelkosmetik.

Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart

Das ganze Buch ist solcherart erzählt: Stermann – Mr. Tagesfreizeit, wie er sich selber nennt – schildert auf dem Weg zu Erika, was ihm alles in seiner Wahlheimat so auffällt – Touristenschlangen vor dem Café Central, äpfelnde Fiaker-Pferde – und was ihm an Begebenheiten in den Sinn kommt: Thomas Bernhard als Stammgast im Bräunerhof. Oder sie schlendern gemeinsam durch die Straßen, und Erika erinnert sich an ihre geliebte Mutter, die den Krieg nicht überlebt hat. Die Frühstücksgespräche drehen sich mitunter um letzte Dinge – und sind gleichzeitig Aufforderungen zum Genuss:
 
Erika: „Wovor soll man Angst haben? Sterben müssen wir alle. Und ich weiß, warum.“
Dirk: „Warum wir sterben müssen?“
Erika: „Ja, damit wir nicht zu lange Zeit haben, die Welt zu zerstören. Willst du nicht endlich auch einmal ein Croissant essen?“

Auf komische Situationen folgt ein Blick in die – zumeist abgründige – neuere Geschichte, auf ernsthafte Betrachtungen folgt ein trockener Witz, es geht viel um jüdisches Leben und jüdische Bräuche in Wien und New York und um die Details der Psychoanalyse. Immer wieder fasst Erika Freeman ihre Lebenseinstellung in einprägsamen Sätzen zusammen, oft in einer hübschen Mischung aus Deutsch und Englisch:
 
„Pessimismus ist keine Option … Treat yourself like a Mensch. Be nice to yourself … Write yourself little Zettel how good you are and put them in your pockets.”

Austausch in Freundschaft

Das mag sich unstrukturiert anhören – und ergibt doch ein großes Ganzes, nämlich eine vielschichtige Hommage an eine charismatische Wissenschaftlerin, die mit Erfolg und angstfrei um ihr Leben, ihren Beruf und ihr Glück gekämpft hat und entsprechend offensiv-positiv denkt und spricht, ohne menschliche Abgründe oder geschichtliche Katastrophen zu negieren oder kleinzureden. Das Buch, das sich mit seinem vertrauten Geplänkel und dem Aufeinander-eingespielt-Sein wie ein verschriftlichter Podcast zweier best buddies liest, ist außerdem eine Ode an die Freundschaft, an die liebevolle und fruchtbare Begegnung zweier von Herkunft und gesellschaftlichem Status unterschiedlicher Menschen, die aber gleichermaßen neugierig und empathisch sind. Allein deshalb ist es eine Freude, ihren Unterhaltungen lesend zu folgen und dabei manchen Erkenntnisgewinn einzusammeln.

Wie sehr der 7. Oktober 2023, der Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel, allerdings eine Zäsur auch für Erika Freeman darstellt, wird in einer Interviewantwort von Dirk Stermann deutlich. Die Frage, ob Erika Freeman nach dem Hamas-Angriff Angst habe, verneint er und sagt weiter:
 
„Sie erklärt immer, dass weder im Hass noch in der Rache irgendwas zu finden sei, das etwas besser machen würde. Sie versteht die Gewalt der Hamas nicht, sie versteht den wieder aufkeimenden Antisemitismus nicht. Eine Frage begleitet sie immer: „Warum werden wir Juden so gehasst, wir sind eh so wenig.“

Es ist Erika Freeman von Herzen zu wünschen, dass sie ihren 100. Geburtstag in friedlicheren Zeiten feiern kann.
 
Dirk Stermann: «Mir geht's gut, wenn nicht heute, dann morgen.» Roman
Hamburg: Rowohlt, 2023. 256 S.
ISBN: 978-3-498-00374-6
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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