Die 73. Berlinale
Zwischen Nostalgie und Aufbruch

Berlinale-Palast
©Alexander Janetzko, Berlinale 2020

Endlich kehrt das deutsche Filmfestival wieder vollständig in seinen früheren Normalzustand zurück. Ahmed Shawky berichtet von Vorfreude, organisatorischen und kulturellen Veränderungen auf der 73. Berlinale. 

Von Ahmed Shawky

Als wir vor drei Jahren zur 70. Berlinale nach Berlin reisten, geschah das unter dem Eindruck eines in China neu aufgetretenen Virus, das im Begriff war sich auszubreiten. Die Hygieneempfehlungen waren zunächst noch ganz einfach: Hände desinfizieren und viel trinken. Mit dem Auftreten erster Fälle in Norditalien und Meldungen über den vollständigen Lockdown der Region wurde das Virus während der Festivaltage zunehmend zum Gesprächsthema. Nach unserer Rückkehr nach Kairo waren es nur wenige Tage als die Pandemie offiziell ausgerufen und sämtliche Flughäfen geschlossen wurden. Erstmals in der Geschichte ging die gesamte Welt in den Lockdown.

Diese so nie dagewesene Situation hatte Folgen für alle Bereiche des Lebens, ganz besonders auch für eine Aktivität wie den Kinobesuch, bei der natürlicherweise viele Menschen zusammenkommen. Seit der Erfindung des Kinos hatte es keinen einzigen Tag gegeben, an dem sämtlicher Kinosäle der Welt geschlossen blieben, nicht einmal während der düstersten Tage der Weltkriege. Die Berlinale – jenes Festival, das stolz darauf ist, das publikumsstärkste seiner Art in Europa zu sein – war gezwungen, zwei aufeinander folgende Durchgänge unter strengen Hygieneauflagen durchzuführen.

Endlich kehrt das Festival wieder vollständig in seinen früheren Normalzustand zurück: Bei der 73. Berlinale vom 16. bis 26. Februar gibt es keine Hygieneauflagen mehr. Die Pandemie-Nachrichten müssen weichen und geben Raum für den Diskurs über das Kino, die Künste und die Sorgen unserer Zeit, die von den Filmen der kommenden Berlinale aus aller Welt aufgeworfen werden.

Der internationale Wettbewerb: Vielfalt der Formen

Natürlich richten sich alle Blicke auf den offiziellen Wettbewerb, in dem neunzehn Filme um den renommierten Goldenen Bären konkurrieren. Die Filmauswahl hat unter Beobachtern für zahlreiche Kommentare gesorgt, positive wie negative. Gut ist, dass erstmals zwei Animationsfilme für den Wettbewerb ausgewählt wurden: der chinesische Film „Art College 1994“ des Regisseurs Liu Jian sowie „Suzume“ des Japaners Makoto Shinkai. Der Film kam in Japan im vergangenen November auf den Markt und spielte 13,5 Millionen Dollar ein, was ihn zu einem der erfolgreichsten Filme in der japanischen Geschichte macht. Die Auswahl eines Films, der bereits kommerziell gezeigt wurde, ist äußerst ungewöhnlich und zeigt, wie begeistert die Festivalmacher von dem Film waren.

​​​​​​​Mit der Auswahl von sechs Filmen von Regisseurinnen zeigt das Festival ein deutliches Interesse am weiblichen Kino

Die Vielfalt der Formen beschränkt sich aber nicht auf die Animationsfilme. Sie zeigt sich auch in der Auswahl des Dokumentarfilms „On the Adamant“ des französischen Urgesteins Nicolas Philibert, in dem es um den Alltag in der Tagesklinik „Adamant“ geht. Jeden Tag werden dort psychisch kranke Erwachsene aufgenommen und es wird versucht, sie zu behandeln und ihnen dabei zu helfen, das gesellschaftliche Stigma, in dem sie leben, zu überwinden.

Zu den merkwürdigsten Auswahlentscheidungen gehört der britische Film „Bad Living“ von João Canijo, einem in singulärer Weise gewöhnlichen Film über fünf Frauen, die ein altes Hotel leiten. Als dort ein Mädchen eintrifft, brechen alte Wunden wieder auf, von denen alle dachten, dass sie für immer verheilt waren. Gleichzeitig wird aber im Wettbewerb „Encounters“ ein weiterer Film von Canijo mit unter dem Titel „Living Bad“ gezeigt, in dem laut Pressemappe und Titel der erste Film auf den Kopf gestellt wird. Der Regisseur erzählt die Geschichte aus einer anderen Perspektive, was ihr neue Dimensionen verleiht.

Mit der Auswahl von sechs Filmen von Regisseurinnen zeigt das Festival ein deutliches Interesse am weiblichen Kino. Mit mehr als 30% liegt der Anteil der Regisseurinnen damit deutlich höher als bei der an anderen großen Filmfestspielen wie in Cannes.

Zur geografischen Repräsentation

Bei aller Vielfalt der Filmarten und der Präsenz des weiblichen Kinos zeigt sich im Wettbewerb allerdings eine geringere geografische Vielfalt und das Weltkinos ist weniger präsent: Es wurden elf europäische Filme ausgewählt, alle aus Westeuropa (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien), wohingegen das osteuropäische Kino in nie dagewesener Weise überhaupt nicht vertreten ist. Dem Wettbewerb fehlen zudem jegliche Filme aus der arabischen Welt, Afrika oder Hollywood. Der einzige amerikanische Wettbewerbsbeitrag ist der unabhängige Film „Past Lives“ der koreanisch-stämmigen Regisseurin Celine Song, der bereits vor Wochen auf den Suncance-Festival gezeigt wurde und unter Kritikern großen Anklang fand.

Vielleicht sagt uns die fehlende geografische Ausgewogenheit, dass die Festivalleitung bei der Auswahl der Filme allein auf den künstlerischen Geschmack setzte, fernab aller politische Erwägungen und des Bestrebens, es allen recht zu machen. Nichtsdestotrotz ist das eine frustrierende Situation für zahlreiche Filmemacher in den Ländern der Dritten Welt, deren Arbeiten sonst auf der Berlinale besonders herzlich willkommen geheißen wurden.

Beispielsweise findet sich in der Sektion Forum erstmals kein arabischer Langfilm, weder als Dokumentar- noch als Spielfilm. Dabei wurden in dieser Sektion sonst jedes Jahr gleich mehrere arabische Filme gezeigt. Die arabische Präsenz auf der Berlinale beschränkt sich auf zwei Langfilme in der Sektion Panorama, auf zwei Jury-Mitglieder und zwei Werke in der Sektion Forum Expanded.

Die arabische Präsenz auf der Berlinale

Der arabische Beitrag besteht an erster Stelle in dem erstmaligen Auftritt des jemenitischen Kinos auf der Berlinale, mit Amr Gamals Film „Al Murhaqoon“ („The Burdened“) in der Panorama-Sektion. Darin wird die Geschichte einer Familie erzählt, die unter der erdrückenden wirtschaftlichen Not des Nachkriegsjemens leidet. Als die Frau feststellt, dass sie mit einem weiteren Kind schwanger ist, beschließen sie und der Vater, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Allerdings ist die Umsetzung des Beschlusses alles andere als einfach, selbst wenn die Entscheidung, ein weiteres Kind vor dem Leid und die Familie vor weiteren Schmerzen zu schützen, logisch erscheint.

Der zweite arabische Langfilm auf der Berlinale trägt den Titel „Under the Sky of Damascus“, ein gemeinsamer Dokumentarfilm von Heba Khaled, Ali Wajeeh und Talal Derki (dessen früherer Film „Of Father and Sons“ für einen Oscar nominiert wurde). Dieses ungewöhnliche Werk nimmt uns mit auf die Schattenseite der syrischen Kunstszene. Es geht um die Reise einer Gruppe von Schauspielerinnen, die im Laufe ihres Werdegangs Belästigungen und körperlichen Übergriffen ausgesetzt waren, die nicht nur mit Männlichkeit, sondern auch mit Machthierarchien innerhalb des Kunstbetriebs insgesamt zusammenhängen.

Für das Programm „Berlinale Talents“ wurden dieses Jahr sieben arabische Talente zur Teilnahme ausgewählt

In den offiziellen Jurys taucht mit der ägyptischen Regisseurin Ayten Amin ein einziger arabischer Name auf. Sie sitzt in der Jury für den Preis „Bester Erstlingsfilm“. Der ägyptische Kritiker Hossam Fahmy ist Mitglied der Jury der internationalen Filmkritikervereinigung FIPRESCI, die die Filme der Sektion Forum evaluiert. Dabei handelt es sich um einen zusätzlichen Preis, mit dem die Vereinigung die vier besten Filme in den Sektionen des internationalen Wettbewerbs, Encounters, Panorama und Forum auszeichnet.

In der Sektion Forum Expanded wurden die Werke zweier ägyptischer Künstler ausgewählt: Die Videoinstallation „Borrowing a Family Album“ vermischt Fotografien und Videoaufnahmen des Regisseurs Tamer El Said; dazu kommt der Kurzfilm „Simia: Strategem for Undestining“ von Assem Hendawi. Diese Beiträge entsprechen dem Charakter dieser Sektion, die verschiedene visuelle und literarische Kunstformen vermischt.

Für das Programm „Berlinale Talents“ wurden dieses Jahr sieben arabische Talente zur Teilnahme ausgewählt: der palästinensische Schauspieler Samer Bisharat, der irakische Regisseur Ali Karim, die algerische Regisseurin und Fotografin Zoulikha Tahar, der tunesische Produzent und Regisseur Bilal Othmaini, die tunesische Regisseurin und Autorin Charlie Kouka, die ägyptische Produzentin Kismet El Sayed, der ägyptische Regisseur Sameh Alaa, ausgezeichnet mit der Goldenen Palme der Filmfestspiele Canne für seinen Kurzfilm „I Am Afraid to Forget Your Face“.

Organisatorische Veränderungen

Unabhängig von der Wettbewerbsauswahl und der arabischen Teilnahme bleibt die Berlinale ein wichtiger Begegnungsort auf der jährlichen Kino-Agenda. Die Berlinale hat ihren eigenen „Club“ an Stammgästen: Kritiker, Journalisten und Branchenfachleute. In diesen Kreisen gab es in den letzten Tagen einen zunehmenden Austausch über die Erwartungen an die Form des neuen Festivaldurchgangs. Es wird, wie erläutert, der erste Durchgang sein, der wieder im klassischen Format mit voller Publikumskapazität und ohne Hygieneauflagen stattfindet. Trotzdem wird es zwei wichtige Änderungen beim Festivalbesuch geben, die schon während der beiden Post-Corona-Durchgänge ihren Anfang nahmen, nun aber erstmals für alle erfahrbar sein werden.

Die erste Veränderung betrifft das Ende der Tickets in Papierform und des bevorzugten Einlasses zu den Pressevorstellungen für Inhaber der Festivaltickets. Jetzt steht der Zugang zu allen Vorführungen einschließlich der Presse- und Branchen-Vorführungen über ein elektronisches Reservierungssystem allen offen. Dies begann schon auf den Filmfestspielen von Cannes im Sommer 2021 und rief gemischte Reaktionen hervor. Es sorgt zwar für eine geordnete Teilnahme und vermeidet langes und für manche vergebliches Anstehen. Gleichzeitig führt es zu Schwierigkeiten für ältere Teilnehmende, die die elektronische Reservierung nicht gewohnt sind. Ganz zu schweigen von der hohen Auslastung durch Nutzer auf der Reservierungswebsite am Beginn jedes Tages.

Die zweite Veränderung besteht darin, dass die Säle des CineStar nicht mehr für das Festival zur Verfügung stehen, die immer ein zentraler Ort für die Filmvorstellungen gewesen waren. Ihre Schließung verändert die Landkarte der Presse- und Marktvorführungen. Alle müssen entsprechend dieser Veränderung ihre Pläne für das Anschauen der Filme neu denken.

All das Gesagte lässt einen mit gemischten Gefühlen auf die kommende Berlinale blicken: Mit dem Wunsch, eine Neuauflage des klassischen Festivalformats genießen zu können und da sind die erwarteten Veränderungen in Bezug auf Erlebnis und Filmauswahl. Was wird das Ergebnis dieser Mischung sein? In wenigen Tagen werden wissen wir mehr.

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