Rosinenpicker | Literatur
Sein und Wahn

Agrarlandschaft mit Bauernhöfen ragt aus dem Bodennebel, Oberösterreich
Vom Nebel fast verschluckt: Bauernhöfe in Oberösterreich | Foto (Detail): © mauritius images / Wolfgang Weinhäupl / imageBROKER

Auch im dritten Teil seiner Romantrilogie über die österreichische Provinz zeichnet Reinhard Kaiser-Mühlecker ein düsteres Bild der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Von Holger Moos

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist Landwirt und Schriftsteller. Außerdem liest er gern und viel. In einem 3sat-Interview sagt er, das seien die drei „Seinszustände“, in denen er sich am allerwohlsten fühle, sonst sei er meist fehl am Platz. Seine Figuren dagegen finden in der Regel keine Seinszustände, in denen sie sich auch nur ein bisschen wohlfühlen. Schrieb jemand wie Wilhelm Genazino mit einer Mischung aus Melancholie und Komik über die „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“, so ist das menschliche Dasein bei Kaiser-Mühlecker in ein durchweg düster-bedrohliches Licht getaucht. In seinen Werken ist der Mensch des Menschen Wolf, auch Tiere sind nicht sicher vor der plötzlich hervorbrechenden Gewalttätigkeit des so genannten Homo sapiens.

Kaiser-Mühleckers neuer Roman Brennende Felder ist der dritte Teil einer Trilogie über eine Bauernfamilie in der österreichischen Provinz. Dort ist nicht nur die sich durch die Idylle schneidende Autobahn, sondern auch die Nazi-Vergangenheit stets im Hintergrund präsent. In Fremde Seele, dunkler Wald (2016) stehen die beiden Brüder Alexander und Jakob im Zentrum. Wilderer (2022) ist aus der Perspektive von Jakob erzählt. Im neuen Roman verschiebt Kaiser-Mühlecker den Fokus auf die Halbschwester Luisa. Allgegenwärtig sind in jedem der drei Romane die in der Familie herrschende  Bösartigkeit, sowie die unausweichlich wie unauflöslich scheinenden Konflikte.

Kaiser-Mühlecker: Brennende Felder © S. Fischer

Inzestuöses Begehren

In Wilderer nennt Jakob Luisa ein „nutzloses“ und egoistisches Geschöpf, das den elterlichen Hof früh verlassen hat und ein unstetes und verwerfliches Leben in Hamburg führt. Da sie ihren Halbbruder für einen Versager, „ein zurückgebliebenes Irgendwas“, hält und ihn gerne provoziert, hat er bisweilen auf sie bezogene Gewaltfantasien.

Mit 15 Jahren erfährt Luisa während eines heftigen Streits mit ihrer Mutter, dass ihr vermeintlicher Vater Robert, den sie anschließend nur noch Bob nennt,  gar nicht ihr leiblicher Vater ist. Sie fühlte sich schon als Kind – als junge Frau auch sexuell – zu ihm hingezogen. Aufgrund dieses inzestuösen Begehrens und der vielen Konflikte vor allem auch mit der Mutter verlässt sie das Elternhaus in jungen Jahren. Zwanzig Jahre später steht Bob in Hamburg unvermittelt vor Luisas Tür. Die beiden werden ein Paar, woraufhin der Kontakt zu ihrer Mutter vollends abbricht.

Geliebter Mörder

Brennende Felder beschreibt, wie Luisa in ihr Heimatdorf zurückkehrt, gemeinsam mit Bob. Der verschwindet immer wieder, vor allem nachts. Nachdem er einmal übel zugerichtet nach Hause kommt, findet sie heraus, dass er in den Nachbarhöfen auf Beutezüge geht. Dabei geriert er sich als Rächer der während der NS-Zeit enteigneten Juden. Eines Nachts wird Bob erschossen. Die Dorfgemeinschaft deklariert das als tragischen Unfall, doch Luisa glaubt an Mord.

War schon die Liaison mit ihrem Stiefvater befremdlich, ist es nicht weniger bizarr, dass Luisa anschließend eine Beziehung mit Ferdinand eingeht, genau jenem Mann, der Bob getötet hat. Als sie Bob verliert, entsteht in ihr plötzlich, erst jetzt, „eine Art Scham, die sie all die Jahre nie empfunden hatte“. Diese Scham empfindet sie merkwürdigerweise gegenüber dem „Mörder“ Ferdinand, als habe er „diese widernatürliche Verbindung“ mit seiner Tat zu Recht beendet.

Ferdinand hat einen autistischen Sohn namens Anton. Dieser tut sich schwer mit der neuen Frau im Leben seines Vaters. Doch Luisa gelingt es im Lauf der Zeit, Antons Vertrauen zu gewinnen, worauf sie stolz ist. Im Kontrast zu Luisas Bemühen um Anton steht Luisas Verhalten gegenüber ihren eigenen minderjährigen Kindern. Denn sie ist zweifache Mutter, beide Kinder leben weit weg bei ihrem jeweiligen Vater. Mehr als spontane Stippvisiten stattet sie ihnen nicht ab. Da für Luisa an allem, was ihr widerfährt, immer die anderen schuld sind, begründet sie vor sich selbst die Distanz zu ihren Kindern damit, dass die beiden Väter „ihr die Kinder abspenstig gemacht“ haben. Bald schon betrachtet Luisa jedoch auch Anton als Belastung.

Unsichtbare innere Vorgänge

„Öd und leer, so kam ihr alles vor“ – diese Worte denkt Luisa oft, und sie charakterisieren ihren inneren Zustand treffend. Luisa ist eine narzisstische, zutiefst verunsicherte und widersprüchliche Person, die stark von der Anerkennung durch andere abhängt und sich zugleich dafür verachtet. Männer werden von ihr einerseits idealisiert, sie begibt sich in große emotionale Abhängigkeit von ihnen. Andererseits dämonisiert Luisa dieselben Männer, wenn sie glaubt, nicht mehr genug Anerkennung und Liebe von ihnen zu bekommen.

Eine andere Ambition Luisas ist es, Schriftstellerin zu werden – ebenfalls mit der Motivation, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten. Es „reichte, dass sie wahrgenommen wurde nicht nur als sein Anhängsel, sondern als etwas Eigenständiges und Besonderes, eigentlich zum ersten Mal in ihrem Leben“. Den Roman durchziehen ihre Gedanken zum Schreiben. Manche dieser Gedanken sind banal, andere wiederum dürften auch Einblicke gewähren in die Gedankenwelt des Autors. So heißt es etwa, dass Luisa „die unsichtbaren und namenlosen inneren Vorgänge, die sich in äußeren – im Tun und Lassen – spiegelten“, beim Schreiben und Lesen am meisten interessieren. Eine Beschreibung, die auch für den Schriftsteller Kaiser-Mühlecker gelten könnte.

Unzuverlässige Erzählerin

Die tiefe innere Verunsicherung und ihr wahnhaftes Denken machen aus Luisa eine tickende Zeitbombe. Es brodelt ständig unter der Oberfläche. Als Luisa bei Ferdinand ein Buch des mazedonischen Schriftstellers Petre M. Andreevski findet, stößt sie auf diesen vielsagenden Satz: „Vieles gibt es, was der Mensch nicht tun will und dennoch tut.“ Am Ende geht von ihr eine (Lebens)Gefahr für andere aus, ebenso ist ihr Leben bedroht.

Reinhard Kaiser-Mühlecker hat sich in Brennende Felder für die personale Erzählperspektive entschieden, er schildert die Geschichte nur aus Luisas Sicht. Dadurch sind die Lesenden mit einer unzuverlässigen Erzählerin konfrontiert, der man aufgrund ihrer Persönlichkeit nur misstrauen kann.

In ruhigem und beiläufigem Ton lässt der Roman all diese zwischenmenschlichen Ungeheuerlichkeiten aufscheinen. Schuldhaft, widersprüchlich und unerlöst sind seine Figuren. Vollkommen zurecht erhielt Kaiser-Mühlecker den Österreichischen Buchpreis 2024: „Durch unerwartete Wendungen spielt er nicht nur mit seinen Figuren, sondern auch mit den Lesenden. So konstruiert und dekonstruiert er diese abgründige, kalte und düstere Welt immer wieder aufs Neue“, so die Jury.
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Brennende Felder. Roman
Frankfurt : S. Fischer, 2024. 368 S.
ISBN: 978-3-10-397570-3

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