Rosinenpicker
Viel Vielfalt

Nachwendezeit, Umbrüche, Queerness, Ethik und Moral: Neue Jugendbücher bieten ein breites Themenspektrum.

Von Holger Moos

Blum: Kollektorgang © © Beltz & Gelberg Blum: Kollektorgang © Beltz & Gelberg
Mario, 13 Jahre alt und gerade gestorben bei einem Kampf gegen eine Gang, beobachtet von seinem Grabstein aus, wie das Leben so weitergeht auf dem Friedhof und bei den Menschen, die ihn besuchen. Er erinnert sich an seine Kindheit und frühe Jugend im Plattenbau – mit gewalttätigen Freunden, ewig streitenden Eltern, einer Neonazi-Gang und dem neu zugezogenen Jungen Rajko, einem Boxer, dessen Schwester er liebt. David Blums Jugendroman Kollektorgang, in seiner ungewöhnlichen literarischen Sprache, in der jede Szene, jedes Gespräch mit seiner Direktheit berührt und auf Sprachfloskeln verzichtet, verbindet die Erinnerungen an eine Jugend in einem DDR-Plattenbau mit der historischen Figur des in den 1930er-Jahren berühmten Boxers Johann Wilhelm „Rukeli“ Trollmann, eines Sinto, der während der NS-Zeit verfolgt und von den Nazis umgebracht wurde. Blum erhielt für das Manuskript des Romans den Peter-Härtling-Preis 2023, die Jury überzeugte die ungewöhnliche Perspektive: „Mit diesem Kunstgriff wird die bedrückende und gewalttätige Atmosphäre einer Nachwendejugend in einer ostdeutschen Großstadt äußerst lebendig und zugleich aus jenseitiger Distanz geschildert.“

Sich auf queeres Leben einlassen

Sandjon: Die Sonne, so strahlend und Schwarz © © Thienemann Sandjon: Die Sonne, so strahlend und Schwarz © Thienemann
Die Akzeptanz von Diversität sowie die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus ist ein Themenkomplex, der in den letzten Jahren oft – und zu Recht – thematisiert wurde, auch in der Kinder- und Jugendliteratur. In ihrem Jugendroman Die Sonne, so strahlend und Schwarz erzählt Chantal-Fleur Sandjon von häuslicher Gewalt, der Liebe zweier junger Frauen, von Rassismus und Selbstbehauptung. Die afrodeutsche Autorin und Spoken Word-Künstlerin greift also ein ganzes Bündel an Aspekten auf. Zudem hat sie ihren Roman stilistisch ungewöhnlich umgesetzt – nämlich in Versform. Herausgekommen ist aber kein schwer lesbares Problembuch. Ganz im Gegenteil: Sandjon ist ein Buch voller Schönheit, Leichtigkeit und Lebensfreude gelungen, so Heike Nieder in der Süddeutschen Zeitung. Die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises 2023 war ebenfalls überzeugt, sie hat Die Sonne, so strahlend und Schwarz in der Kategorie Jugendbuch nominiert: „Chantal-Fleur Sandjon erzählt in einer eindringlich verdichteten Verssprache mit unverbrauchten Metaphern von einer komplexen Identität.“

Köller / Schautz: Queergestreift © © Hanser Köller / Schautz: Queergestreift © Hanser
Auch in der Kategorie Sachbuch wurde in diesem Jahr ein Buch, das für Respekt und Offenheit gegenüber der Vielfalt von Leben und Lieben wirbt, für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert: Queergestreift. Alles über LGBTIQA+ von Kathrin Köller und der Illustratorin Irmela Schautz. Es bietet inhaltlich fundierte und herausragend gestaltete Aufklärung, wiederum in ungewöhnlicher Form: „Das bekannte Muster des ABC-Buchs stellt dieses Sachbuch gleich zu Beginn auf den Kopf: Die repräsentativen Buchstaben der queeren Gemeinschaft (LGBTIQA+) gliedern hier die Kapitel und stellen den vielfältigen Kosmos queerer Identitäten vor… Queergestreift ist ein wichtiges Handbuch, das nicht nur queeren Jugendlichen einen sicheren Erfahrungs- und Erprobungsraum bietet, sondern auch alle anderen einlädt, sich auf queeres Leben einzulassen“ (aus der Jurybegründung).

Stolpertage und Abgründe

Sonneson: Stolpertage © © Carlsen Sonneson: Stolpertage © Carlsen
In Josefine Sonnesons Jugendroman Stolpertage erlebt die 13-jährige Jette Zeiten des Um- und Aufbruchs. Ihre beste Freundin ist weggezogen, der Kontakt zu ihr eingeschlafen. Die Eltern haben sich getrennt. Jettes Mutter möchte mit ihrem neuen Partner zusammenziehen. Der Umzug steht an und damit der endgültige Verlust des Elternhauses. Als wäre das nicht schon genug Veränderung, liegt Jettes dementer Großvater im Sterben und ihre ältere Schwester und engste Vertraute steht kurz vor dem Abitur und will anschließend ausziehen. Sonneson wurde mit ihrem Debütroman in der Kategorie „Neue Talente“ für den Deutschen Jugendliteraturpreises 2023 nominiert, die Begründung der Jury: „Nichts ist gewiss, alles ist möglich in diesen Stolpertagen, die als Metapher für die Empfindungen der jungen Protagonistin fungieren. Adoleszenz erscheint hier, inhaltlich wie sprachlich in sehr überzeugender Weise verdichtet, als Kaleidoskop von Mosaikstücken, deren Zusammensetzung und Bedeutung ganz in die Wahrnehmung der Lesenden gelegt wird.“

Muser: WEIL. © © Carlsen Muser: WEIL. © Carlsen
Fünf Abiturient*innen verbringen ein Wochenende in einem Ferienhaus. Als sie auf der Fahrt einen Anhalter mitnehmen, der ihnen mit seiner „rassistischen Kackscheiße“ unangenehm wird, lassen sie ihn an der Tankstelle stehen und werfen seinen Rucksack aus dem Auto. Einen Tag später taucht er, begleitet von zwei jungen Männern, wieder auf und bedroht sie brutal. Jeder reagiert anders auf die Gewalt und die damit verbundene Angst. Für seinen Jugendroman WEIL., in dem es um Fragen von Ethik und Moral geht, erhielt Martin Muser den Luchs des Monats Mai 2023. Die Jury überzeugte das „sadistische Kammerspiel“, der Autor benötige nur „120 sehr dichte und bestens komponierte Seiten“, um die Welt der Jugendlichen aus den Fugen zu bringen: „Jede Regel, mit der die Jugendlichen ihre Leben bisher in Gut und Schlecht unterteilt haben, ist außer Kraft gesetzt, stattdessen sehen sie sich mit den eigenen Schwächen und Abgründen konfrontiert.“ Eine weitere Stärke des Buches liege darin, dass es keine Antworten gebe, sondern viele Fragen aufwerfe, mit denen die Lesenden die eigene Moral überprüfen können, also: „Perfekter Stoff fürs Ethik-Abi, ach was, fürs Leben!“
 
Rosinenpicker © © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank
David Blum: Kollektorgang
Weinheim: Beltz & Gelberg, 2023. 121 S.
ISBN: 978-3-407-75734-0 (ab 14 Jahre)

Kathrin Köller / Irmela Schautz (Illustrationen): Queergestreift. Alles über LGBTIQA+,
München: Hanser, 2022. 288 S.
ISBN: 978-3-446-27258-3 (ab 11 Jahre)

Martin Muser: WEIL.
Hamburg: Carlsen, 2023. 128 S,
ISBN: 978-3-551-58493-9 (ab 14 Jahre)

Chantal-Fleur Sandjon: Die Sonne, so strahlend und Schwarz
Stuttgart: Thienemann, 2022. 384 S.
ISBN: 978-3-522-20286-2 (ab 14 Jahre)

Josefine Sonneson: Stolpertage
Hamburg: Carlsen, 2022. 176 S.
ISBN: 978-3-551-58462-5 (ab 12 Jahre)
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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