Rosinenpicker | Literatur
Drei Leichen in der Leinestadt

Nolte: Die Frau mit den vier Armen
© Suhrkamp Nova / Canva

Erster Auftritt Rita Aitzinger: Kriminalkommissarin – ausgerechnet in Hannover. Sie flucht, liebt Motorsport und muss eine Mordserie an jungen Männern aufklären. Jakob Nolte, Theater- und Romanautor, präsentiert seinen ersten Krimi: witzig, traurig, anspielungsreich.

Von Marit Borcherding

„Es war das erste Mal seit der Expo 2000, das Dinge, die in Hannover passierten, den Rest der Republik interessierten …“ Das steht fast am Ende des vom Verlag aufmerksamkeitsheischend als „Niedersachsen Noir“ gelabelten Krimis Die Frau mit den vier Armen von Jakob Nolte. Da sind alle Toten schon entdeckt, und die Polizei befindet sich, nachdem sie ein paarmal falsch abgebogen ist, schließlich auf der richtigen Spur.

Tatsächlich fängt der Roman Hannover-typisch gemächlich an – eine winterliche Parklandschaft, ein singender Pirol, eine Frau, die meditiert, Bananenbrot isst, den Tag begrüßt. Dann setzt sich der Pirol auf die Schulter eines jungen Mannes. Der lehnt an einem Baum und atmet nicht mehr – findet die Frau schnell heraus. Ihre Reaktion? „Halt dein Maul.“ Wie bitte? Warum so harsche Töne? Wurde nicht eben noch friedlich der Sonnengruß praktiziert? Aber so ist Kriminalkommissarin Rita Aitzinger: unverstellt, emotional; in einem Moment so, im nächsten wieder anders gestimmt. Nun muss aufgeklärt werden: „Sebastian Tamm, sagte Rita, wer hat dich gekillt?“

Die traurige Lebenswelt junger Männer

Die Suche führt Rita und ihr Team zuerst ins Elternhaus von Sebastian, schließlich an die Plätze und zu den Personen in Hannover und anderswo, an denen sich sein Alltag abgespielt hat: Wohngemeinschaft, Burger-Laden, Statisterie in der Oper, Wohnung der Ex-Freundin etc. Alles Orte, an denen die Traurigkeit, die Einsamkeit, Versagensängste und Kapitulation regieren. Die befragten Menschen strahlen dies aus, und auch Sebastian war ein Gefangener seiner Ängste, Sehnsüchte und seiner unausgegorenen Lebenseinstellung. Die Ex-Freundin: „Kennen Sie das, wenn einem eine Kleinigkeit misslingt, sagen wir, man verbrennt ein Spiegelei, und dann meint, dass dieses Spiegelei das Leben ist, was einem verbrennt?“ „Nein“, sagte Rita. „Sebastian war so.“ Bald stellt sich heraus, dass ein anderer Fall, mit dem Rita befasst war und der nie wirklich aufgeklärt wurde, in Verbindung zum Tod von Sebastian stehen könnte. So hat neben diversen anderen Gemeinsamkeiten die Täterin in beiden Fällen Gummihandschuhe getragen, rote Gummihandschuhe – siehe Umschlagbild.

Beuteschema

Kein Täter, sondern explizit eine Täterin? Darauf hatte sich Rita, zum Missfallen der Kollegenschaft, bei einer Pressekonferenz festgelegt: „Wir haben es hier mit Auftragsmorden zu tun. Sebastian Tamm und Jonas Hartung wurden hingerichtet. Von einer sanften Henkerin.“ Und wer muss sich nun in Acht nehmen, bis diese von ihrem vermuteten Typus her doch recht selten vorkommende Verdächtige gefasst sein wird? Wieder weiß Rita Bescheid: „Nur weiße Jungs, Mitte zwanzig, die Angst vorm Erwachsenwerden haben.“ Einen von ihnen wird es noch erwischen und beinahe auch einen Polizisten mit zu großer Dienstmütze. Doch dann laufen die Fäden zusammen, der Showdown ist unausweichlich – in einem Mövenpick-Restaurant. „Fühl dich eingeladen“, gibt sich Rita zum Schluss generös gegenüber der überführten und geständigen Person.

Jakob Nolte, der in seinem Buch drei verzweifelte junge Männer sterben und diese Morde am Ende genregerecht aufklären lässt, weiß, was sich für einen Krimi gehört. Aber sein Buch funkelt noch in andere Richtungen. Die Krise einer bestimmten Art von Männlichkeit wird facettenreich herausgearbeitet. Rita fasst es irgendwann in ihre Worte: „Man wird nicht geliebt. Und man hat es auch nicht verdient, geliebt zu werden … Man wird zum Mann, wenn der Drache besiegt ist. Nur dass dieser Drache Dax-Unternehmen oder die Armeen faschistischer Weltmächte sind und unbesiegbar erscheinen.“

Außerdem wird anhand des gesamten Personals immer wieder die Sehnsucht nach Beziehungen und Nähe durchdekliniert, und das Unvermögen, dies herzustellen. Da nützt auch eine Dating App namens Datingapp nicht so viel, im Gegenteil.

Popkultur

Schließlich wimmelt es in dem Buch von überaus komischen, pointierten Dialogen – mehr als sich hier zitieren lassen – die manchmal sogar noch das genretypische Gerede parodieren, wie etwa die Pingpong-artigen Erläuterungen zweier Pathologen.

Vor allem aber sind da zahlreiche (pop)kulturelle Referenzen: In einem fiktiven Interview erklärt Taylor Swift (wer sonst?) die Monstrosität von Zweisamkeit. Die armen Opfer hören traurige Songs von Zara Larsson, Selena Gomez, Olivia Rodrigo und Co in Dauerschleife – was den Suhrkamp Verlag übrigens veranlasste, auf Spotify eine entsprechende Playlist einzustellen. So geht Marketing. Der Studiengang für Kreatives Schreiben in Hildesheim wird ebenfalls von Nolte zitiert – in einem Seminar sollen sich die Studierenden in das Leben der vermeintlichen Mörderin einfühlen. Alltagstragödien als Übungsmaterial für den Kulturbetrieb. Kommt sicher nicht nur im Roman vor. Und Weltklasse-Rallyefahrerin Michèle Mouton hat einen Auftritt, jedenfalls vielleicht – eine Referenz an Ritas Motorsportleidenschaft.

Jakob Nolte gelingt mit seinem Krimi mehr als nur gute Unterhaltung. Das Buch ist zeitbezogen im besten Sinne, verspricht Pointen-Freundinnen genauso viel guten Stoff wie Literatur-Aficionados, und klingt wegen seiner traurigen, nachdenkenswerten Grundbotschaft länger nach. Mehr kann ein Genre-Erstling nicht bieten.

Der ganz am Anfang zitierte Satz geht übrigens weiter: „…wenn man von dem parteiübergreifenden Ekel absah, den einige Politiker der Region in der Lage waren auszulösen.“ Da weiß wohl jeder, wer gemeint ist. Von denen möchte man tatsächlich nichts weiter hören und lesen, aber gerne mehr von der sehr coolen Rita Aitzinger und der dann doch einen zweiten Blick lohnenden Stadt Hannover.
Jakob Nolte: Die Frau mit den vier Armen. Roman
Berlin: Suhrkamp Nova, 2024. 235 S.
ISBN: 978-3-518-47416-7
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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