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Ein Blick der Engagierten

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© Joanna Łodygowska

Von Iwona Kurz

Im Jahr 2013 präsentierte Hito Steyerl, Künstlerin, Forscherin und visuelle Aktivistin, eine satirische Videoarbeit How Not To Be Seen: A Fucking Didactic Educational .MOV File. Darin sprach sie eines der wichtigsten Themen ihres Schaffens an, nämlich die Fallen und Möglichkeiten der subjektiven Existenz im globalen Raum der digital-visuellen Beobachtung und Überwachung. Gleichzeitig deckte sie aber auch eines der vielen Paradoxe der Moderne auf – von Zygmunt Bauman als flüssige Moderne bezeichnet, eben weil es ihr oft an klaren Abgrenzungen, präzisen Konzepten und Praktiken fehlt, und weil alles an ihr komplex und paradox ist. So versuchen wir zwar einerseits, uns vor dem allgegenwärtigen Auge verschiedener Kameras und Überwachungssysteme zu verstecken, aber letztlich kämpfen sowohl Individuen als auch Gruppen aktiv genau darum, gesehen zu werden und ihren eigenen Raum in der globalen Zirkulation der Repräsentation zu finden.
Noch komplizierter wird es, wenn es nicht nur um die Freiheit von digitalem Zwang geht, sondern auch um Kontexte, in denen das eigene Auftauchen im Objektiv der Kamera gleichbedeutend damit sein kann, sich im Visier zu befinden. In dem vielsagenden Foto von Ahmad Gharabli, das 2017 in Jerusalem aufgenommen wurde, wurde ein israelischer Polizist, der eine palästinensische Frau fotografierte, gewissermaßen als eine Reaktion darauf, im selben Moment von ihr zurückfotografiert.

Die auf einander zielenden Smartphones demonstrieren eine Situation der Synchronität des Sehens: ein gegenseitiges Sehen und ein Sehen aller durch alle anderen. Sie ist nicht symmetrisch, weil sie nicht alle in gleicher Weise berechtigt, aber sie verändert grundlegend die Machtverhältnisse, in denen auch die Kontrolle über die Werkzeuge des Sehens flüssig und die Verteilung der Kräfte unbestimmt werden. Wo die Macht zuschauen will, kann man sich vor ihr verstecken; wo sie ihre eigenen Handlungen versteckt, kann man sie aufdecken. Die politische Demonstration als eine Geste des Widerstands erhält eine doppelte Bedeutung: als soziale Performance und als Repräsentation. Diese Fragestellung wird auch von den Dokumentarfilmemacherinnen im Programm HER Docs Forum thematisiert, die Protestierende filmen – in Damaskus (5 Seasons of Revolution), im belarussischen Minsk (Mara. The Belarusian Dream) oder im burmesischen Rangun (Midwives) – aber auch diejenigen zeigen, die sie filmen. Und die sich dabei selbst nicht beim Filmen erwischen lassen (was vor allem auf Lina zutrifft, die einen Film über die syrische Revolution gemacht hat, in dem es einen unermüdlichen Kampf darum gibt, irgendetwas mit der Kamera zu sehen, meist aus dem Versteck heraus). Was auffällt, ist die verblüffende Ähnlichkeit zwischen der Gewalt und den Machthabern, die sie ausüben. Und aufgrund der Komplexität der heutigen Welt und eben dieser zusätzlichen Komplexität der an sich schon komplizierten Frage des Sehens ist es nicht möglich, einen engagierten Blick klar zu definieren, zumal das Engagement durchaus unterschiedlich sein kann. Es kommt jedoch darauf an, was es für diejenigen bedeuten, die sich im Blickfeld der Kamera befinden – für die Protagonistinnen der Filme, aber auch für die Filmemacherinnen und die Zuschauerinnen. Einen gemeinsamen Nenner zu finden ist nicht möglich, aber vielleicht auch nicht notwendig. Ein wichtiger Stellenwert und eine grundlegende Dimension des Engagements ist seine Offenheit, die sich aus den Bedürfnissen der Menschen und den Anforderungen der Ereignisse ergibt. So verstanden bedeutet Engagement eine aktive Antwort in ständiger Verbindung mit anderen und mit der Realität. Ich ziehe den Begriff „Wehfrau“ dem Begriff „Hebamme“ vor, weil er Menschen bezeichnet, die von der Basis aus arbeiten, unabhängig von Institutionen, und die offen sind für die Bedürfnisse der Menschen, die sie verstehen. Sie unterstützen Frauen sowohl bei Geburten als auch bei Schwangerschaftsabbrüchen.

Die Ursprünge des Nachdenkens über die Frage der Macht im Bereich der Repräsentation gehen auf die späten 1960er und frühen 1970er Jahre zurück, als sie einen eher eingleisigen Blick beschrieb. In der Welle der Gegenkultur änderte sich jedoch das Denken über Identitäten und Subjekte sowie über Universitäten und Institutionen der Kunst und Kultur. Tatsächlich kann man die Rolle, die die Auseinandersetzung um den Film und den Blick im Film in feministischen Debatten und anderen emanzipatorischen Diskussionen spielte, kaum überschätzen. Dies hing mit der Bedeutung des Films als grundlegende Erzählform des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen, die die globalen Massen anzog und prägte, aber auch mit seiner Rolle als eine Art gesellschaftliches Labor – denn der Film diente als Modell, in dem Prozesse, die in der gesellschaftlichen Realität schwerer zu beobachten waren, deutlich sichtbar wurden. Die für diese Diskussion entscheidende These von Laura Mulvey aus dem Jahr 1975 über die ursächliche Rolle des männlichen Subjekts in Filmerzählungen, die auch und vor allem durch die sie bestimmende Macht des männlichen Blicks zum Ausdruck kommt, eröffnete ein weites Feld für Reflexion und kreatives Handeln. Die Frage, wie man Filme anders machen kann, wie man Frauen im Film – als Figuren und als Regisseurinnen – stärken kann, war zugleich eine Frage danach, wie man durch Repräsentation gesellschaftlichen Wandel bewirken und Frauen generell zu Protagonistinnen machen kann.

Dieser vielstimmige Meinungsstreit dauert bis heute an und betrifft verschiedene Minderheiten – ethnische und geschlechtsspezifische (Un-)Identitäten. Heute ist außerdem klar, dass die feministische Agenda nicht von anderen Dimensionen der Emanzipation getrennt werden kann und dass die Grundlage der patriarchalischen Ordnung das neoliberale System und die undemokratische Macht des Staates sind. Es geht daher nicht nur darum, das soziale Feld – einschließlich des Gebiets der Repräsentation – um neue Gruppen zu erweitern, sondern darum, diese Ordnung insgesamt zu verändern. (Zahlreiche Stränge dieser Diskussion werden in dem Film Feminism WTF aufgegriffen).

Die Machtmechanismen treffen alle, aber die Schwächsten – darunter Frauen und andere vulnerable Gruppen – am härtesten, wobei sich solche Mechanismen auf das Aufbrechen der Solidarität zwischen Menschen und Gruppen stützen. Die erste, auch in dem Sinne, dass es die grundlegende Dimension des Engagements in vielen Filmen des Festivals ist, ist die Darstellung von Bindungen, Netzwerken, Kooperationen, eben von Solidarität. Selbst wenn sich die Kamera auf einen einzelnen Menschen konzentriert, wird dessen Geschichte vor dem Hintergrund der Ereignisse erzählt, die das Kollektiv betreffen: Proteste, Unruhen, Gewalt, Krieg, die Flüchtlings- und Klimakrise. Besonders hervorgehoben wird dies durch Filme, in denen dieses individuelle Schicksal durch die Erzählung oder die verwendeten Mittel symbolisch wird – wie im Fall der Protagonistin von Mary. Belarusian Dream, deren Maske an mythologische Frauengestalten erinnert, oder im Fall des oneirischen ukrainischen Films The Bee.

Aber es sind die Beziehungen und die Schicksals- oder Handlungsgemeinschaften, die hier am wichtigsten sind: Protestierende in Belarus, Protestierende in Syrien, Menschen, die versuchen, in der kriegsgebeutelten Ukraine zu leben, die sich in die #metoo-Bewegung in Spanien engagieren (The Yellow Ceiling), die sich für den grünen Wandel auf der ganzen Welt einsetzen (Green City Life), die Geflüchteten an den Grenzen der „Festung Europa“ helfen (Good News und Under the Cover of Darkness) oder die Kranke medizinisch versorgen, ungeachtet der ethnischen Spannungen in Myanmar (Birma). Es sind nicht immer und nicht nur Frauen, aber ihre Stimme und ihr Aktivismus treten hier in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang ist der Blick eher eine Metapher für eine Lebenseinstellung: kritisch, voller Widerspruch zu Ungerechtigkeit und Gewalt, aber gleichzeitig auch emotional, voller Zärtlichkeit, Sorge um andere Frauen, aber auch um ihre Söhne oder Partner – manchmal dieselben Männer, die, in Uniforme gekleidet, gegen sie handeln.
Sowohl diese aktiven Figuren in der Welt als auch die Künstlerinnen, die ihr Schicksal darstellen, verfolgen eine Politik der Sorge. Man könnte in diesem Zusammenhang daran erinnern, was die Fotografin – aber auch Aktivistin – Nan Goldin, wenn auch nicht explizit, in einem Interview mit dem Bomb Magazine über ihre Fotografien von trans- und nicht-binären Menschen sagte.

Sie sprach darin vom Schauen (to look) und Zeigen (to show) – mit Respekt und sogar mit Bewunderung. Affirmativ. Mit Liebe. Es ist also kein harter „Blick“, wie in den ideologiekritischen Ansätzen von Foucault und Lacan (die übrigens völlig verschieden sind), der uns zur Ordnung ruft oder an die Tafel holt. Es ist weder ein scharfes Barthes'sches Punctum noch eine Studie, die eine kulturell definierte Ganzheit, Komposition und Hintergrund mit dem Auge erfassen will. Es ist eine visuelle Verbindung, ein von der Kamera hergestellter Kontakt.

Die Kamera wird zu einer Verstärkung dieser emotionalen Haltung, auch weil sie in der Lage ist, weiter zu „übertragen“, um mehr Menschen in dieses Netzwerk miteinzubeziehen. Zusammenarbeit und Solidarität sind hier sowohl ein Thema als auch eine Vorgehensweise. Einige der Filme – wie Midwives und 5 Seasons of Revolution – wurden über viele Jahre gedreht und erforderten Hilfe, Zusammenarbeit, manchmal unter Lebensgefahr und manchmal mit der Notwendigkeit, Mut zu zeigen, verbunden. Dahinter stehen die Namen der Filmemacherinnen, aber auch andere Menschen innerhalb und außerhalb der dargestellten Welt. Die Zeit fließt in diesen Filmen anders, sie ist nicht so sehr eine Zeit der Handlung, sondern eher eine Zeit der Erfahrung, der Reflexion, der Beziehung – und manchmal der Poesie. Eine Zeit der Ursächlichkeit, trotz der Umstände und ohne die Frage nach dem Endergebnis. Eine Zeit, in der Hoffnung praktiziert wird.

Dies ist eine Zeit der engagierten Frauen, die zusammenarbeiten, sich gegenseitig unterstützen, sich um Andere und um die Realität kümmern. Einer Politik, die auf der Kategorie my people – „meine Leute“, „meine Ethnie“ (um den bezeichnenden Begriff zu zitieren, der in den Dialogen in Midwives auftaucht) – basiert, stellen diese Frauen ein Denken gegenüber, das auf der Kategorie „unsere Welt“ aufbaut.

kurz2 © Joanna Łodygowska

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