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Ein Gespräch mit Wira Ahejewa
Warum geben wir nicht auf?

Warum geben wir nicht auf?
© Pixabay

Die Ukrainer sind ausgewiesene Experten, was die russische Problematik anbelangt. Angesichts der tragischen Erfahrungen waren wir weniger naiv gegenüber den Mythen von der „großen russischen Literatur“ und der geheimnisvollen „russischen Seele“. Ein Gespärch mit der ukrainischen Literaturkritikerin, promovierten Philologin und Professorin an der Kiew-Mohyla-Akademie Wira Ahejewa.

Bohdana Romantsowa: Was sollte die Ukraine heute im Ausland präsentieren, welche Ideen? Und welchen Platz nimmt dabei die Literatur ein?
Wira Ahejewa: Lange Zeit stand die ukrainische Kultur im Schatten einer imperialen Kultur. Und nun stellt sich plötzlich heraus, dass die russische Avantgarde in der Malerei eigentlich in Kyjiw und Charkiw zu Hause war und Maler wie Kasymyr Malewytsch und Oleksandra Ekster ukrainische Künstler waren. Das Imperium eignete sich schamlos fremde Schätze an. Mit der Literatur war es etwas schwieriger, da über die Zugehörigkeit zur jeweiligen Kultur die Sprache entscheidet. Unsere Genies aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entdeckten wir erst nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit für uns; die während des stalinistischen Terrors erschossenen Künstler wurden schlichtweg aus der Erinnerung getilgt. Wichtig ist, meiner Meinung nach, dass unsere brillanten modernistischen Romane in guten Übersetzungen präsentiert werden. Ohne die Texte von Mykola Chwylowyj, Walerjan Pidmohylnyj und Wiktor Domontowytsch wäre die Idee der europäischen modernistischen Prosa unvollständig. Darüber hinaus sind die Ukrainer ausgewiesene Experten, was die russische Problematik anbelangt. Angesichts der tragischen Erfahrungen waren wir weniger naiv gegenüber den Mythen von der „großen russischen Literatur“ und der geheimnisvollen „russischen Seele“. Nun ist diese große Kultur mit Panzern bei uns einmarschiert, um Kinder zu töten, zu vergewaltigen, Bibliotheken niederzubrennen und Museen zu zerstören. Und wir müssen der Welt erklären und beweisen, dass die russische Kultur daran schuld ist, dass es ohne Puschkin keinen Putin gäbe, dass ihre größten Schriftsteller Drohungen gegen das verhasste Europa und den Westen ausgesprochen haben. Erneut haben die Ukrainer in der Schule nicht die „für den Export bestimmte“ Version der russischen Kultur gelernt – die außerhalb der Ukraine angeboten wird –, sondern eine vollständigere Version. Ohne die ukrainische Literatur lässt sich nicht verstehen, was im zwanzigsten Jahrhundert in Osteuropa vor sich ging. Schließlich war der Zweite Weltkrieg in viel größerem Maße als gemeinhin angenommen wird ein ukrainischer Krieg – Deutschland hat nicht nur gegenüber Russland Schuld auf sich geladen.

Bohdana Romantsowa: „Im Schatten des Imperiums“ ist Ihr vorletztes Buch. Es wurde von einem breiteren Publikum gelesen und besprochen als „Die Apologie der Moderne“ über den ukrainischen Modernismus, „Die Poetik des Paradoxons“ über Wiktor Domontowytsch oder die tiefgründige Abhandlung über Mykola Baschan, „Das Steinmuster“. Dennoch ist das Buch keine einfache Lektüre, die Argumentation ist anspruchsvoll, der Text erfordert eine aktive Rezeption. An wen wendet sich das Buch?
Wira Ahejewa: In der Tat ist die Rezeption dieses Buches nicht mit der meiner früheren Publikationen zu vergleichen. Was nicht weiter verwunderlich ist, da die Suche nach einer nationalen Identität durch den Krieg um ein Hundertfaches beschleunigt wurde. „Im Schatten des Imperiums“ zeigt lediglich, dass der Krieg nicht vor einem Jahr begonnen hat, sondern dass der ukrainische Widerstand gegen die Kolonisatoren nie aufgehört hat und dass wir – was vielleicht noch wichtiger ist – unsere kulturelle Souveränität nie verloren haben. Der feindliche Andere war stets der „Moskowiter“ – ein Soldat, ein Angreifer, ein bewaffneter Besatzer.
Russland betrachtete man nur widerwillig als Imperium, da es benachbarte Territorien und keine Gebiete in Übersee eroberte, und außerdem kulturell überlegene Völker im Westen – Ukrainer und Polen – unterwarf. In meinem Buch geht es um klassische Texte, um Schullektüren, um die Hauptfiguren unseres Kanons. Es liegt deshalb nahe, dass „Im Schatten des Imperiums“ nicht nur von Literaturkritikern gelesen wird – denn ohne die erneute Reflexion über das Werk von Taras Schewtschenko und Lesja Ukrajinka versteht man nicht, wofür wir kämpfen.
Unterworfene Völker werden stets ihres Rechts beraubt, selbst über ihre Vergangenheit zu sprechen, und in völlige Amnesie getrieben. Dieser Zwang scheint auf dem Gebiet der Ukraine besonders brutal gewesen zu sein. Alle Klassiker wurden zensiert, die Namen der bedeutendsten politischen, kulturellen und künstlerischen Persönlichkeiten waren einfach unbekannt. Deshalb war meine erneute Lektüre authentischer Texte aus der postkolonialen Perspektive nicht nur für die heimische Leserschaft interessant. In den sozialen Netzwerken gibt es ab und zu interessante Leserreaktionen von Personen, die möglicherweise zum ersten Mal mit einem solchen Buch in Berührung gekommen sind und darin Antworten auf Fragen zur nationalen Identität und sogar zum Krieg finden. Wir haben unseren hybriden Krieg in der Kultur sehr lange und konsequent geführt.


Bohdana Romantsowa: Die in ukrainischen Werken enthaltenen Neudeutungen der Geschichte von der Eroberung Trojas helfen, unsere Literatur besser zu verstehen. So zum Beispiel Iwan Kotljarewskyjs „Aeneis“ (1798) oder Lesja Ukrajinkas „Kassandra“ (1908). In diesen Werken werden Erzählungen von verlorener Staatlichkeit und der Bewahrung der eigenen Kultur neu interpretiert. Warum ist Troja ein derart mächtiges Symbol? Schließlich haben wir es mit einer recht pessimistischen Geschichte zu tun: Die Helden in diesen Erzählungen befinden sich auf der Verliererseite, wurden bezwungen.
Wira Ahejewa: Die „Aeneis“ von Iwan Kotljarewskyj avancierte nicht von ungefähr zu einem der grundlegenden Texte des nationalen Kanons. Es ist eine Reflexion über das verlorene Vaterland. Kotljarewskyj, der im Hetmanat geboren worden war, das Ende des achtzehnten Jahrhunderts bereits dem Russischen Imperium unterstand, dachte, als er über das von den Griechen niedergebrannte Troja schrieb, sicherlich auch an die durch Brandschatzung zerstörte und ausgeplünderte Hauptstadt des Herrschaftsgebietes der Saporoger Kosaken, Baturyn. Dieses Ereignis war den Menschen immer noch lebendig in Erinnerung. Kotljarewskyjs „Aeneis“ erzählt folglich davon, wie das Verlorene wiederaufgebaut, wiederhergestellt wird, wo der Tempel gebaut wird, in dem man die eigenen, statt die fremden Götter anbetet. Lesja Ukrajinkas „Kassandra“ wiederum liest sich heute wie eine ergreifende, höchst aktuelle Prophezeiung. Würden wir heute die Worte „Wache, mein Hüter!“ von Kassandra hören, wäre unser Widerstand gegen den Feind stärker. Die Dichterin besaß im Übrigen eine prophetische Gabe; am Vorabend des Großen Krieges, am Vorabend der nationalen Revolution spricht sie von der Notwendigkeit, sich zu vereinigen, um den Aggressoren Widerstand entgegenzusetzen. Schließlich ist das Motiv der vom Feind belagerten Stadt eines der wichtigsten in ihrem gesamten Werk, wie auch in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt. Die Belagerung wurde durch die Revolution von 1917 zwischenzeitlich aufgehoben – was zu einer regelrechten kulturellen Renaissance in den „goldenen“ 1920er Jahren führte.

Bohdana Romantsowa: Für unsere Autoren war die Antike oft eine Chance, den Eingriffen der Zensur zu entgehen: Lesja Ukrajinkas dramatisches Gedicht „Die Orgie“ wurde, obwohl es offensichtlich auch die Überlegenheit der ukrainischen gegenüber der russischen Kultur verhandelte, nicht verboten, da man diese Parallelen vermutlich nicht mitlas. Dasselbe Spiel mit der Antike wurde später von den Neoklassikern wiederholt, für die die Zensur eine ständige Gefahr darstellte. Ist die Antike unser Code, der uns gleichzeitig vor dem benachbarten Imperium schützt?
Wira Ahejewa: Nein, ich habe nicht den Eindruck, dass es hier um die Zensur geht. Lesja Ukrajinka (ähnlich wie die Kyjiwer Neoklassiker und andere) nimmt vielmehr den abgerissenen Faden unserer Zugehörigkeit zur europäischen Kulturgemeinschaft wieder auf. Sie durchbricht den erzwungenen Regionalismus ihrer Vorgänger und führt grundlegende Mythen und Motive der europäischen – vor allem aber der antiken und der christlichen – Zivilisation in den ukrainischen Kontext ein. Die vorsowjetische Zensur war nicht so schrecklich. Die Künstler wussten, wie man sie umgehen konnte.

Bohdana Romantsowa: Der Postkolonialismus ist einer der interessantesten Ansätze, um unsere Literatur, aber auch die gesamte westeuropäische Literatur zu lesen. Das Paradox besteht jedoch darin, dass Europa selbst, trotz aller erklärten Toleranz und der offenkundigen Schuldgefühle aufgrund seiner imperialen Vergangenheit, zum Teil in einer imperialistischen Weltsicht verharrt und deren Grundsätze einfach auf den Osten überträgt. Deutschland, Frankreich und viele andere Länder haben wegen ihrer ehemaligen Kolonien Schuldgefühle, zugleich stempeln sie jedoch das Gebiet Osteuropas seit mehr als einem Jahrzehnt als „postsowjetische Staaten“ ab. Im Grunde findet hier die gleiche Homogenisierung des Anderen statt wie bei den afrikanischen Ländern, die unter dem Oberbegriff „afrikanische Kultur“ subsumiert werden, was ein absolut imperialer Ansatz ist. Vor dem Ausbruch des Krieges wurden beispielsweise die Lizenzrechte für literarische Werke oft über ein Moskauer Büro an den ukrainischen Verlag verkauft – die Fortsetzung des sowjetischen Modells, an dessen Spitze stets Moskau stand, die exotische, unverständliche, osteuropäische Bestie. Die Frage lautet: Haben wir uns in den Augen Europas eine kulturelle Subjektivität erkämpft? Und wie lässt sich dies durch die Texte vermitteln?
Wira Ahejewa: Osteuropa, insbesondere der „postsowjetische Raum“, erschien dem Westen als etwas Exotisches und Fremdes. Die Sowjetunion hieß stets Russland, und manche „kleinen Völker“ wurden als dessen unbedeutende Ergänzung betrachtet. Heute stehen die vierzig Millionen Ukrainer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, dass wir unser kulturelles Erbe und unsere Unabhängigkeit gegenüber der verhängnisvollen „Russischen Welt“ zeigen. Dreihundert Jahre lang haben wir ungebrochenen Widerstand geleistet. Kein ukrainischer Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts hat sich mit der russischen Herrschaft abgefunden – auch dies eine Parallele zur polnischen Kultur. Sowohl die Namen der ukrainischen Autoren als auch ihre Texte müssen in der Welt bekannt gemacht werden, und ukrainische Geisteswissenschaftler müssen noch viele Bücher über Postkolonialismus schreiben. Es ist von essenzieller Bedeutung, die grundlegenden Symbole unserer Kultur zu popularisieren, ihren Wiedererkennungswert zu steigern.

Bohdana Romantsowa: Die Wahrnehmung Moskaus hat lange Zeit die Wahrnehmung Kyjiws überlagert. Die Narration von Kyjiw als einer großen russischsprachigen Metropole hat wiederum die Vorstellung von Kyjiw als einem kulturellen Zentrum, das verschiedene intellektuelle Strömungen in sich vereint, ersetzt. Man kann zum Beispiel von Kyjiw als einem Zentrum des polnischen künstlerischen Schaffens und der jüdischen Tradition sprechen. Stichwort: die polnische Brücke nach Westeuropa.
Wira Ahejewa: Die russische Propaganda hat das Bild von Kyjiw als der lediglich „drittgrößten und drittbedeutendsten Stadt des Imperiums“ geprägt. Diese Frage betrifft unmittelbar mein neuestes Buch, „Marsmenschen auf dem Chreschtschatyk. Das literarische Kiew zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts“. Auch darin versuche ich zu zeigen, dass Kyjiw nie aufgehört hat, ukrainisch zu sein – mehr noch, die russische Kulturschicht nie Vorrang genoss. Über die Zentren der polnischen Kultur in Kyjiw kursieren sehr interessante Geschichten. Die Geschichte der ukrainisch-polnischen Literaturbeziehungen wartet noch darauf, geschrieben zu werden. Maksym Rylskyj, Mykola Baschan und andere bedeutende Künstler unseres Landes pflegten enge Beziehungen zu Polen. In der sowjetischen Zeit, insbesondere in der Nachkriegszeit, war Polen eine Brücke zum Westen.

Bohdana Romantsowa: Was für eine Bedeutung hatte die polnische Kultur zu Lebzeiten Rylskyjs und der Neoklassiker für uns? War sie ein Vorbild, eine vermittelnde Kultur, wie im Barock, oder diente sie dem gleichberechtigten Dialog der Kulturen?
Wira Ahejewa: In den 1920er Jahren war die Ablehnung der imperialen Kultur gleichbedeutend mit einer konsequenten Westorientierung. Wir kannten die polnische Literatur sehr gut und haben viel übersetzt. Da Petljuras politische Weggefährten sich vor allem in Warschau im Exil sammelten, bildete sich dort ein „Warschauer Kreis“ ukrainischer Dichter, zu dem unter anderem Jurij Darahan und Jewhen Malanjuk gehörten. Sie pflegten enge Beziehungen zur polnischen Kultur. Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Kyjiwer Neoklassiker befand sich die polnische Klassik. Zu dieser Zeit übersetzte Mykola Serow Juliusz Słowackis Drama „Mazepa“, während Maksym Rylskyjs ukrainische Übertragung des Versepos „Pan Tadeusz“ als eine vorbildliche poetische Übersetzung gilt. Interessanterweise ist zudem ein wichtiger Handlungsstrang in Wiktor Domontowytschs Roman „Ohne Grund“ mit der Person Karol Szymanowskis verbunden. Ein Dialog zwischen den Kulturen fand auf unterschiedliche Weise statt. In den 1960er Jahren wurde Polen dann tatsächlich zu einer vermittelnden Kultur, zu einer Brücke zum Westen. Ukrainische Intellektuelle lasen von der sowjetischen Zensur verbotene Texte in polnischer Übersetzung, polnische Zeitschriften waren Teil des intellektuellen Austauschs.

Bohdana Romantsowa: Für Rylskyj war die ukrainische Identität von jüngsten Jahren an eine bewusste Wahl. Wie oft haben ukrainische Intellektuelle jedoch versucht, sich in den polnischen Kontext zu integrieren? Und inwieweit ist ihnen das gelungen?
Wira Ahejewa: Für viele unserer Klassiker – ganz abgesehen vom Barock – war der polnische Kontext wichtig, stellvertretend hierfür seien Taras Schewtschenko und Marko Wowtschok (eigentlich Marija Wilinska) genannt. Letztere unterhielt enge Kontakte zu vielen Persönlichkeiten der polnischen Kultur. Diejenigen, die sich in den 1920er Jahren im Exil befanden, wie zum Beispiel Jewhen Malanjuk, wollten sich integrieren – letztendlich blieb ihnen nichts anderes übrig.
Außerdem sei daran erinnert, dass die berühmte Anthologie „Die hingerichtete Wiedergeburt“, ein symbolhaftes Buch für die Entwicklung der ukrainischen Kultur in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, auf Jerzy Giedroyc’ Initiative zurückging und, von ihm finanziert, in der „Kultura“ in Paris erschien.


Bohdana Romantsowa: Wie sollte man Künstler wie Wilhelm Kotarbiński oder Jarosław Iwaszkiewicz betrachten, die an der Schnittstelle mehrerer Kulturen wirkten? Sollte man von einer ukrainischen Periode in ihrem Schaffen sprechen? Von einer interkulturellen Tradition? Ist ein solcher Ansatz heute nicht archaisch?
Wira Ahejewa: Ich glaube, es lohnt sich nicht, eine besondere Periode herauszugreifen, vielmehr sollte man von ukrainischen Motiven oder von einem Anknüpfen an ukrainische Traditionen sprechen. Iwaszkiewicz wurde zu einem Symbol für die Nähe der beiden Kulturen. Er war eng befreundet mit Maksym Rylskyj und Mykola Baschan, oft kollaborierten sie.

Bohdana Romantsowa: Damit vergessene Texte wieder rezipiert werden, müssen Gesamtausgaben erscheinen. Von Lesja Ukrajinka und Mikola Chwylowyj liegen bereits „Gesammelte Werke“ vor. Allerdings existieren keine vollständigen Ausgaben von Taras Schewtschenko und Iwan Franko, auch nicht von einem Dutzend anderen Klassikern.
Wira Ahejewa: Unser Problem sind fehlende wissenschaftliche Publikationen. Momentan gibt es dafür keine Mittel, doch die zuständigen Institutionen sollten zumindest solche Projekte vorbereiten. Ich hatte die Ehre, an Lesja Ukrajinkas vierzehnbändiger wissenschaftlicher Werkausgabe mitzuwirken, und weiß deswegen nur zu gut, wie die Sowjetzensur ihre Texte verfälscht hat. Ich habe vier Bände mit Ukrajinkas Briefen herausgegeben – bisher kannten wir die Korrespondenz nicht im Original-Wortlaut, da sie von den sowjetischen Behörden erbarmungslos zensiert wurde, vor allem die negativen Bezüge zur russischen Kultur. Wir sollten endlich damit beginnen, die authentischen Quellen in den Archiven zu lesen.

Bohdana Romantsowa: Ausgaben aus der Sowjetzeit eignen sich aufgrund von Zensur und Verfälschungen nicht als Textgrundlagen. In Ihrem Buch sowie in Interviews erklären Sie, dass der Begriff „ukrainisch-sowjetische Literatur“ keinen Sinn hat oder zumindest sorgfältig dekonstruiert werden muss: entweder ukrainisch oder sowjetisch. Lässt sich diese Trennlinie immer scharf ziehen? Wie verhält es sich bei Mykola Baschan, dem Sie eine ganze Monografie gewidmet haben?
Wira Ahejewa: Ja, der Begriff „ukrainisch-sowjetische Literatur“ ist ein Oxymoron. Ich teile jedoch definitiv nicht die Ansicht, dass die gesamte Sowjetära als „stalinistisch“ zu verdammen ist und im Orkus des Vergessens verschwinden sollte. Für mich sind Maksym Rylskyj und Mykola Baschan unsere größten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts. Ja, sie haben mit den Siegern koexistiert; ja, sie haben Gedichte über Stalin geschrieben. Sie durften nicht schweigen, wie Józef Łobodowski schrieb. Doch nachdem sie dem Kaiser gegeben hatten, was des Kaisers war, setzten sie sich bedingungslos für die Entwicklung der ukrainischen Literatur ein. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass wir nur dank Mykola Baschans aufopferungsvoller Arbeit eine „Ukrainische Sowjetenzyklopädie“ besitzen. Er war der Ansicht, es sei besser, ukrainische Persönlichkeiten, denen das Adjektiv „sowjetisch“ vorangestellt wurde, in Erinnerung zu bewahren, statt sie der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Es war ein Kampf um die Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses, gegen die vom Imperium aufgezwungene Amnesie. Heute sind die Loblieder auf Stalin vergessen, stattdessen lesen wir die Meisterwerke von Baschan und Rylskyj. Das sind unsere Klassiker. Man muss nicht lügen oder schweigen – ja, eine teilweise Zusammenarbeit war unvermeidlich. Eine vollständige Werkausgabe sollte alles enthalten. Rylskyjs „Loblieder auf Stalin“ halten mich nicht davon ab, mich an seinen frühen Texten – „Die Reise in die Jugend“, „Der letzte Frühling“ – zu erfreuen.

Bohdana Romantsowa: In einem Radio-Interview mit Serhij Schadan sprecht ihr viel über den ideologischen Charakter der Kunst, insbesondere in der Gegenwart, sowie über die Vereinzelung des Menschen im Zeitalter der Moderne. Manchmal hat man den Eindruck, als wären die Lebensfremdheit und umgekehrt die Idee des Engagements miteinander verwoben, so wie in der Literatur Mimesis und Kreativität miteinander verwoben sind. Kann die ukrainische Kunst in der Zukunft, nach dem Sieg, in ihren Elfenbeinturm zurückkehren?
Wira Ahejewa: In der Literatur lassen sich nur schwer Vorhersagen treffen. Künstler wählen im Theater des Lebens unterschiedliche Rollen. Romantische Kostüme sind heute ein wenig lächerlich, während dekadente Masken aus der Ferne nicht so tragisch erscheinen mögen. Aber natürlich werden wir in Kürze zur Autarkie der Kunst und zur Idee des Elfenbeinturms zurückkehren. Wir werden viel Zeit brauchen, bis wir die Erfahrung dieses großen Krieges verstanden haben. Die Welt steht am Abgrund, die vorhergehende, schöne Epoche ist unwiederbringlich vorbei. Und selbst nach der Rückkehr zu den Grenzen von vor 2014 werden wir im Norden weiter die gleichen Nachbarn haben. In einer bedrohten Festung werden sich die Türme der Einsiedler nicht halten.

Bohdana Romantsowa: Worauf gründen wir heute unsere Identität, und was ist in Vergessenheit geraten? Im Buch „Im Schatten des Imperiums“ schreiben Sie, dass wir – im Gegensatz zu Russland – kein Fenster nach Europa öffnen müssen, denn Europa ist hier immer gewesen. In diesem Zusammenhang können die Reisen ukrainischer Schriftsteller ins Ausland erwähnt werden, zum Beispiel Lesja Ukrajinkas und Iwan Frankos Aufenthalte in Wien, Hryhorij Skoworodas Tokaj-Expeditionen, die horizontalen Verbindungen und der Kulturaustausch mit Polen. Zudem die belgischen, britischen und deutschen Spuren in der östlichen Ukraine, die österreichisch-ungarische Tradition in den westlichen Gebieten, die deutschsprachigen Autoren in Czernowitz. Doch all dies betrifft hauptsächlich das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert. Was passiert, wenn man noch tiefer gräbt?
Wira Ahejewa: An dieser Stelle muss differenziert werden. In den dreißig Jahren unserer Unabhängigkeit wurde einiges getan. Es wurden Texte veröffentlicht (zugänglich gemacht, auch wenn es noch keine wissenschaftlichen Ausgaben sind). Darüber hinaus erschienen gute Interpretationen und Biografien. Ein anderes Problem ist, dass die Expansion des russischen Buches eine breitere Distribution ukrainischer Titel verhindert hat. Im Grunde hat niemand so viel für die Entrussifizierung unseres Raumes getan, wie der gegenwärtige Kreml-Herrscher. Die Klassiker der ukrainischen Literatur sind nicht länger Ladenhüter in den Regalen der Buchhandlungen. Die Menschen wollen verstehen, wer sie sind und woher sie kommen. Was die Erforschung der ukrainischen Kulturbeziehungen zu ihren Nachbarn betrifft, so hat die Arbeit hier noch nicht begonnen. Über ein „ukrainisches Wien“ zu schreiben, hieße beispielsweise, nichts zu schreiben. Schließlich gab es dort so viele Institutionen und ehrgeizige Projekte. Auch über Polen als eine Brücke zum Westen wissen wir nur sehr wenig. Als ich über Rylskyj schrieb, war ich überrascht festzustellen, wie sehr die polnische Literatur dessen Milieu geprägt hat.

Bohdana Romantsowa: Haben Sie damit gerechnet, dass „Im Schatten des Imperiums“ im Ausland veröffentlicht wird?
Wira Ahejewa: Nein, ganz und gar nicht. Ich habe „Im Schatten des Imperiums“ geschrieben, weil das Material ein solches Buch nahelegt. Die Herausgabe des Buches im Ausland ist nicht mein Verdienst, sondern das der ukrainischen Streitkräfte, unserer derzeitigen Beschützer.

Bohdana Romantsowa: Abschließend würde ich gern über die Bloggerin Wira Ahejewa sprechen. Sie unterrichten nicht nur an der Kiew-Mohyla-Akademie und schreiben literaturwissenschaftliche Abhandlungen, Sie erzählen zusammen mit Rostyslaw Semkiw auf dem YouTube-Kanal „Verrückte Autorinnen“ von Schriftstellerinnen, die sich – im Beauvoir’schen Sinne – geweigert haben, „das andere Geschlecht“ zu sein. Soll dieser Kanal in erster Linie aufklärerisch wirken? Geht es darum, einen alternativen Literaturkanon zu bilden?
Wira Ahejewa: Der Kanal „Verrückte Autorinnen“ entstand wenige Monate vor der Invasion, mit der Absicht, über Geschlecht und Kultur zu sprechen. Doch seit eineinhalb Jahren unterhalten wir uns vorrangig über Autorinnen – was braucht es mehr, um den Reichtum unserer Literatur zu zeigen? Manche Autorinnen führen tatsächlich zu Unrecht ein Schattendasein, wurden von der Geschichte übergangen. Ich hoffe, dass wir die Bildung eines Kanons ein wenig mit beeinflussen. Gerade ist die Anthologie „Verrückte Autorinnen“ erschienen, in der von den Protagonistinnen unseres Blogs Texte vorgestellt werden. Der Blog selbst ist eine interessante Erfahrung für mich, da er die Gelegenheit bietet, mit den Hörern in direkten Austausch zu treten.

Bohdana Romantsowa: Welche ukrainischen Schriftstellerinnen sollten dem westlichen Leser nähergebracht werden? Wen lohnt es, herauszugeben?
Wira Ahejewa: Vielleicht sollte man mit Anthologien beginnen. Wir haben einige gute Anthologien, zum Beispiel den Band „Mit freiem Kopf“ – mit Erzählungen von Autorinnen. Auch die Erzählungen und Romane von Olha Kobyljanska, die Romane von Iryna Wilde und die herrliche Prosa von Lesja Ukrajinka sollten übersetzt werden. Außerdem die wunderbaren Lebenserinnerungen von Autorinnen wie Iryna Schylenko, Zinaida Tulub und Switlana Kyrytschenko. Die zeitgenössischen ukrainischen Autoren helfen uns, zu verstehen, wer wir sind, wofür wir kämpfen und warum wir nicht aufgeben.
 

Der Text erschien ursprünglich im ukrainischen Teil der Kulturzeitschrift "Dwutygodnik" im Rahmen eines von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit unterstützten Projekts.
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Herausgegeben mit finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
 

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