Ausschnitt aus dem Cover von „Ryjówka przeznaczenia“ von Tomasz Samojlik © Zakład Badania Ssaków Polskiej Akademii Nauk
Der polnische Comic war über Jahrzehnte hinweg reichlich konservativ und Experimenten gegenüber skeptisch eingestellt. Bestimmte Themen, wie die bewegte polnische Geschichte, wurden seit Jahren immer wieder aufgewärmt. Doch zum Glück kommt in letzter Zeit zunehmend Bewegung in die Szene: Der Autorencomic für Kinder kehrt zurück auf die Bildfläche, immer mehr junge Zeichnerinnen wagen sich in die von Männern dominierte Branche, und eine neue Generation von Künstlern in Gestalt der Gruppe Maszin erweitert die Grenzen der Comicliteratur.
Der historische Comic
In der Zeit der Volksrepublik Polen war der historische Comic eine der wichtigsten Gattungen. Er diente der politischen Propaganda, indem er die Verbundenheit mit dem sowjetischen Brudervolk propagierte und die Taten des „politisch genehmen“ Untergrunds, also der Armia Ludowa, besang (die Verdienste der Polnischen Heimatarmee wurden hingegen erfolgreich verschwiegen). Comicserien wie
Podziemny front oder
Kapitan Kloss (über die Abenteuer eines polnischen Agenten, der in die Rolle eines deutschen Oberleutnants schlüpft) erfreuten sich großer Beliebtheit bei den Lesern. Der Comic war somit ein effektives Mittel der Geschichtspolitik, historische Zusammenhänge und Entwicklungen wurden weitestgehend vereinfacht dargestellt. Im demokratischen Polen erlebte der historische Propaganda-Comic – so unglaublich es scheinen mag – eine Renaissance: Lediglich die Perspektive hatte sich verändert, nicht jedoch die Erzählweise und die (realistische) Ästhetik. 2005 erschien zum 25-jährigen Jubiläum der Solidarność der Comic
Solidarność – 25 lat: Nadzieja zwykłych ludzi, der eine Flut von vergleichbaren Publikationen nach sich zog: Comics zu Jahrestagen historischer Ereignisse, wie dem Posener Aufstand 1956 und der Arbeitsniederlegungen in der Zeche Wujek im Jahr 1980, sowie Comics zur Stadtgeschichte, die im Auftrag lokaler Behörden entstanden. Bis auf wenige Ausnahmen (zum Beispiel:
Achtung Zelig! und
Marzi) sind diese zeitgenössischen historischen Comics von geringem künstlerischen Wert, in erster Linie dienen sie dem historischen Gedenken und der Reklame. Und auch wenn die Zahl entsprechender Publikationen in den letzten Jahren ein wenig zurückging, ist der Trend doch insgesamt so deutlich, dass man durchaus von einem eigenständigen Phänomen sprechen kann.
Comics für Kinder
Cover von „Achtung Zelig!“ von Krzysztof Gawronkiewicz i Krystian Rosenberg © wyd. Zin Zin Press
Nach dem politischen Umbruch 1989 versuchten die polnischen Comicautoren mit aller Gewalt zu beweisen, dass ihr Medium sich auch an Erwachsene richtete. Infolgedessen verschwand der Autorencomic für Kinder und Jugendliche völlig aus dem Bewusstsein der jungen Künstler. Auch die Marktsituation hatte einen Anteil an dieser Entwicklung: Die ersten Jahre des Kapitalismus waren von einer blinden Begeisterung für alles, was aus dem Westen kam, geprägt. Das Angebot an Comics für Kinder und Jugendliche wurde von Titeln wie
Asterix und
Donald Duck bestimmt. Lediglich Wiederauflagen bekannter Comics aus der Zeit der Volksrepublik Polen, vor allem
Tytus, Romek i A'Tomek, stießen auf ein gewisses Interesse. Erst mit dem Erscheinen von Tomasz Samojliks
Ryjówka Przeznaczenia im Jahr 2012 wurden Kindercomics wieder salonfähig, und Künstler wie der bereits erwähnte Tomasz Samojlik oder auch Piotr Nowacki spezialisierten sich zunehmend auf Alben für junge Leser. Auch die polnischen Verleger wurden zunehmend aktiv: Die Verlage Kultura Gniewu und Centrala orientierten sich am deutschen Reprodukt und am britischen Nobrow Press und gründeten die Imprints Krótkie Gatki und Centralka für Kinder und Jugendliche. Und Egmont Polska rief den Janusz-Christa-Wettbewerb ins Leben, aus dem in diesem Jahr fünf völlig neue Alben für Kinder hervorgingen. Man kann getrost behaupten, dass diesem Marktsegment eine interessante Zukunft bevorsteht.
Der Frauencomic
Die polnische Comicszene war seit jeher eine Männerdomäne. 2012 erschienen zwei Anthologien, die versuchten, die Aufmerksamkeit auf das Schaffen von weiblichen Autoren zu lenken:
Polski komiks kobiecy und (in englischer Sprache)
Double portrait. Polish female comics. Ihr Verdienst bestand vor allem darin, dass sie zahlreiche unterschiedliche Künstlerinnen und Stile präsentierten – leider enthielten sie neben hervorragenden Arbeiten auch viele amateurhafte und künstlerisch mittelmäßige Werke. Durch die genannten Anthologien könnte möglicherweise der Eindruck entstehen, dass sich in der polnischen Comicszene eine Wachablösung abzeichne. Nichts falscher als das: Es gibt nach wie vor kaum Frauen in der Branche. Die wenigen aktiven Künstlerinnen bringen jedoch äußerst interessante Alben hervor, die wichtige gesellschaftliche Themen aufgreifen. Olga Wróbel zeigte in
Ciemna strona księżyca, die dunklen Seiten der Mutterschaft, und Agata Wawryniuk beschrieb in
Rozmówki polsko-angielskie die Erfahrungen junger polnischer Arbeitsmigranten wesentlich besser als es zuvor Schriftstellern und Filmemachern gelungen war. Und Autorinnen wie Joanna Karpowicz oder Agnieszka Piksa schaffen eine Verbindung zwischen der Comicszene und der Welt der Kunst. Viele polnischen Autorinnen leben im Ausland – nicht nur Marzena Sowa, sondern auch Agata Bara, Berenika Kołomycka und Maria Rostocka. Auch wenn man kaum von einer weiblichen Revolution in der polnischen Comicszene sprechen kann, hat diese neue Generation von Autorinnen viel frischen Wind in die Branche gebracht, insbesondere in grafischer Hinsicht. Dies ist jedoch nicht der Anzahl weiblicher Autoren geschuldet, sondern allein der Qualität ihrer Arbeiten.
Die Supergruppe Maszin
Cover von „Marzi“ von Marzena Sowa und Sylvain Savoia © Verlag Egmont
Die Bereitschaft zu Experimenten, zum Brechen von Konventionen, zu metanarrativen und konzeptuellen Kunstgriffen ist im polnischen Comic nicht besonders stark ausgeprägt. Tadeusz Baranowski entlarvte zwar in den 80er-Jahren mit seinen surrealistischen Späßen die Konventionalität der dargestellten Welt, doch dies war eher eine Ausnahme. Es gab in Polen auch keine künstlerischen Comicgruppen, die Autoren betrachteten sich eher als Handwerker. Die Supergruppe Maszin (der Name zeugt von einer gewissen Selbstironie) stößt in diese Lücke. Ihre Zusammensetzung wechselt häufig, zu den aktivsten Mitgliedern zählen Mikołaj Tkacz, Michał Rzecznik, Daniel Gutowski und Jacek Świdziński. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit steht – auf die kürzeste Formel gebracht – das Ausloten der narrativen und ästhetischen Grenzen des Comics, sowohl in gedruckter Form als auch in Galerien. Die Mitglieder von Maszin haben bereits mehrere interessante Ausstellungen realisiert, daneben bringen sie auch „normale“ Comics hervor, wie Jacek Świdzińskis
A nich Cię, Tesla!, eine amüsante Geschichte über Verschwörungstheorien und einen bekannten Erfinder (die in grafischer Hinsicht an die Zeichnungen von Nicolas Mahler erinnert), oder den düsteren und symbolträchtigen Comic
Maczużnik von Daniel Gutowski und Michał Rzecznik über die Konflikte in einer Familie. Die Supergruppe Maszin ist ein interessantes Phänomen, das sich gängigen Kategorien entzieht. Es ist zu hoffen, dass die Comics möglichst bald übersetzt werden.