Die interessantesten, seit 2000 im Ausland erschienenen polnischen Comics

Das Interesse an polnischen Comics ist im Westen nach wie vor nicht besonders groß, es erscheinen nur wenige Übersetzungen pro Jahr. In den letzten Jahren hat das Internet diese Distanz jedoch zunehmend verringert. Die polnischen Autoren wenden sich immer häufiger direkt an französische oder britische Verleger, und die Verlagsagenten suchen ihrerseits nach jungen Talenten aus Osteuropa.

Einen interessanten Weg beschritt in diesem Zusammenhang der polnische Verlag Centrala, der eine Niederlassung in Großbritannien eröffnete, um die Werke polnischer Comicautoren zu veröffentlichen. Die unten vorgestellten Titel stellen eine subjektive Auswahl aus den seit 2000 erschienenen Übersetzungen polnischer Comics dar. Ausschlaggebend waren vor allem das künstlerische Niveau der Alben aber auch die von ihnen behandelten Themen, die für deutsche Leser von besonderem Interesse sein könnten.

Achtung Zelig!

Cover von „Achtung Zelig!“ von Krzysztof Gawronkiewicz i Krystian Rosenberg © wyd. Zin Zin Press Cover von „Achtung Zelig!“ von Krzysztof Gawronkiewicz i Krystian Rosenberg © wyd. Zin Zin Press Das Album von Krzysztof Gawronkiewicz und Krystian Rosiński (unter dem Pseudonym Krystian Rosenberg) ist der beste polnische Comic über das Trauma des Holocaust. Der beste von wenigen, denn im Gegensatz zu Schriftstellern und bildenden Künstlern schweigen sich die polnischen Comicautoren über dieses Thema weitgehend aus. Achtung Zelig! stellt nicht nur eine Ausnahme von dieser Regel dar, sondern er behandelt sein Thema auch auf eine ungewöhnliche, metaphorische Weise. Die Helden des Romans sind zwei groteske Figuren, ein Vater und ein Sohn. Der Vater erinnert an die Titelfigur des Films Alien, der Sohn an einen großen Frosch. Die beiden fliehen durch düstere und nebelverhangene polnische Wälder, die von Krzysztof Gawronkiewicz auf hyperrealistische Weise gezeichnet wurden. Auf ihrer Flucht begegnen sie einem Wehrmachtstrupp unter der Leitung eines weissagenden Zwergs namens Emil, der mit einem wichtigen Auftrag betraut ist: Er soll sämtliche polnischen Tiere fangen und durch Tiere aus dem Deutschen Reich ersetzen. Gawronkiewicz und Rosiński setzen der surrealistischen Handlung einen überaus präzisen Zeichenstil (vor allem in der Darstellung der Natur) entgegen und beschreiben den Holocaust mithilfe grotesker Metaphern, ohne dabei den Ernst des Themas zu vernachlässigen. Das Album wurde in die renommierte Liste 1001 Comics You Must Read Before You Die (als einer von zwei polnischen Comics) aufgenommen.
Polnische Ausgabe: 2004 (Zin Zin Press/ Kultura Gniewu)
Französische Ausgabe: 2005 (Casterman)

Przygody na bezludnej wyspie

Maciej Sieńczyk: Przygody na bezludnej wyspie; Lampa i Iskra Boża, 2012 Maciej Sieńczyk: Przygody na bezludnej wyspie; Lampa i Iskra Boża, 2012 Maciej Sieńczyk ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Autor. Er ist der einzige polnische Comiczeichner, der von einer Kunstgalerie vertreten wird – genauer gesagt von der Warschauer Galerie Raster (in der auch Wilhelm Sasnal seine Karriere begann). Als Comicautor debütierte er in der einflussreichen Literaturzeitschrift „Lampa“, er schuf Zeitschriftenillustrationen sowie Platten- und Büchercover (unter anderem für die Werke von Dorota Masłowska) und hat von Jahr zu Jahr mehr Ausstellungen. Weil er ein Grenzgänger zwischen bildender Kunst und Literatur ist, werden Sieńczyks Werke von vielen seiner Leser gar nicht als Comics wahrgenommen. Selbst bei der Nominierung von Przygody na bezludnej wyspie für den begehrten NIKE-Literaturpreis wurde die Bezeichnung „Comic“ tunlichst vermieden. Ein Grund dafür liegt sicherlich darin, dass es sich bei Sieńczyks Werken zwar um waschechte Comics handelt, ihre Kontexte und Bezugspunkte jedoch eher untypisch für diese Gattung sind – sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene. Przygody na bezludnej wyspie ist ein komplexes, verschachteltes Werk, dessen hauptsächliches Ziel darin besteht, eine Geschichte zu erzählen: eine bewusst triviale und surrealistische Geschichte, die an die Tradition der polnischen Groschen- und Sensationsliteratur der Vorkriegszeit anknüpft. Es gibt darin unter anderem eine Episode über zwei aus Wasser geschaffene Affen oder über ein aus herumliegenden Brotkrumen entstandenes Monster namens Chlebiej. Maciej Sieńczyk interessiert sich sehr für Volkskunst, naive Kunst und Primitivismus, er sammelt Müllfundstücke, aber auch sozialistische Propaganda-Drucke. Aus all diesen grafischen Inspirationen und allgemein verpönten Bildsprachen erschafft er eine explosive Mischung, die den deutschen Leser mitunter (völlig zu Recht) an die Werke von Neo Rauch erinnern mag. In Interviews betont Sieńczyk immer wieder, dass er im Leser ein Gefühl der Verlegenheit hervorrufen will. Und das gelingt ihm ausgezeichnet.
Polnische Ausgabe: 2012 (Lampa i Iskra Boża)
Englische Ausgabe: 2014 (Centrala)
Italienische Ausgabe: 2014 (Canicola Edizioni)
Französische Ausgabe: in Vorbereitung (Ici meme)
Offizielle Fanpage von Maciej Sieńczyk
 

Bartnik Ignat i skarb puszczy

Tomasz Samojlik: Bartnik Ignat i skarb puszczy; © Centrala 2013 Tomasz Samojlik: Bartnik Ignat i skarb puszczy; © Centrala 2013 Tomasz Samolijk lebt in Hajnówka am Rande des Białowieża-Nationalparks – dem letzten Tiefland-Urwald Europas – und sein gesamtes Berufsleben ist eng mit dieser Region verbunden. Samojlik führt gewissermaßen ein Doppelleben: Tagsüber erforscht er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Polnischen Akademie der Wissenschaften die Geschichte des Białowieża-Nationalparks und abends verfasst er Comics und Kinderbücher zum Thema Natur. Er ist nicht nur zweifellos einer der interessantesten polnischen Autoren der vergangenen Jahre, sondern auch einer der produktivsten: Seit seinem Debüt im Jahr 2008 hat er bereits elf Bücher veröffentlicht. Samojlik versteht es, wissenschaftliche Fakten in spannende Geschichten zu verpacken und dabei – wie ein Drehbuchautor der Pixar Studios – mit Anspielungen auf die Gegenwart und die Popkultur zu jonglieren. In Polen ist er vor allem als Autor von Comics über die Büffel im Białowieża-Nationalpark und der Trilogie Ryjówka Przeznaczenia (der dritte Teil erscheint noch in diesem Jahr) über die fantastischen Abenteuer einer Gruppe von Waldtieren bekannt. Sein neuestes Album Bartnik Ignat i Skarb Puszczy, in dem er sich mit traditionellen, mittlerweile ausgestorbenen Berufen (wie Waldbienenzüchter und Waldbauer) auseinandersetzt, erschien in diesem Jahr in englischer Übersetzung. Diese Geschichte über ein Leben im Einklang mit der Natur und über den Respekt vor der Umwelt ist in gedämpften, herbstlichen Farben gezeichnet, die die Schönheit und Magie des Waldes wiedergeben. Bartnik Ignat i Skarb Puszczy ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass Bildungscomics keineswegs langweilig sein müssen und dass man auch junge Leser ernst nehmen kann.
Polnische Ausgabe: (Centrala) 2013
Englische Ausgabe: (Centrala) 2014

Przebiegłe dochodzenie Ottona i Watsona: Esencja

Krzysztof Gawronkiewicz, Grzegorz Janusz: Przebiegłe dochodzenie Ottona i Watsona: Esencja; © Mandragora 2005 Krzysztof Gawronkiewicz, Grzegorz Janusz: Przebiegłe dochodzenie Ottona i Watsona: Esencja; © Mandragora 2005 Der 2005 in Polen erschienene Comic ging aus einem internationalen Wettbewerb hervor, der 2003 von dem französischen Verlag Glénat und dem Fernsehsender Arte organisiert wurde. Der Erfolg der beiden polnischen Autoren erregte damals einiges Aufsehen. Die Schöpfer von Esencja sind Krzysztof Gawronkiewicz – der den französischsprachigen Comicfreunden als Zeichner des Comics Achtung Zelig! bekannt ist – und Grzegorz Janusz – der zweifellos talentierteste polnische Comicautor, der in den letzten Jahren buchstäblich sämtliche polnischen Comicpreise gewann. Przebiegłe dochodzenie Ottona i Watsona: Esencja ist eine Kriminalgeschichte im Stil Raymond Chandlers über die Suche nach dem Sinn des Lebens und über eine faszinierende Erfindung, die es erlaubt, literarische Werke in Flüssigkeiten zu verwandeln. Die Kriminalhandlung dient als perfekter Aufhänger für humorvoll-ironische, aber auch ernste Reflexionen zum Thema Kultur und Literatur. Dies wird noch deutlicher im zweiten Teil der Serie mit dem Titel Romantyzm, in dem die großen polnischen Dichter der Romantik ins Leben zurückgerufen werden. Eine wichtige Rolle in Przebiegłe dochodzenie Ottona i Watsona: Esencja spielt auch die Stadt Warschau. Somit kann der Comic ausländischen Lesern auch als ein atmosphärischer Reiseführer durch die polnische Hauptstadt dienen.
Polnische Ausgabe: 2005 (Mandragora)
Französische Ausgabe: 2005 (Glenat)

Der Garten

Agata Bara: Ogród; © Timof Comics 2012 Agata Bara: Ogród; © Timof Comics 2012 Wer eine Sünde begeht, kann niemals in das Paradies zurückkehren, scheint Agata Bara in ihrem Comic „Der Garten“ zu sagen, einem unprätentiösen Werk voller wohldurchdachter, schweigender Bilder. Einem Comic, der auf beeindruckende Weise zeigt, wie der Lauf der Weltgeschichte das Leben einer schlesischen Durchschnittsfamilie für alle Zeit verändert. Der Garten ist nicht nur einfach ein weiterer historischer Comic, sondern eine Geschichte über ein unausgesprochenes, über Generationen hinweg bewahrtes Geheimnis. Über eine Schuld, die der Hauptfigur des Comics – einem Mann, der sich während des Zweiten Weltkriegs in die Volksliste eintragen ließ und sich an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligte – keine Ruhe lässt und die er sich selbst nicht vergeben kann. Man könnte sagen, Der Garten erzähle – auf der Mikro-Ebene – über die deutsch-polnischen Beziehungen, den Zweiten Weltkrieg und den Totalitarismus, doch dies wäre eine unzulässige Vereinfachung. Agata Baras Werk hat eine wesentlich universellere Dimension, es berührt so wichtige Themen wie Schuld und individuelle Erinnerung. Bara enthält sich – im Gegensatz zu vielen anderen biografischen und historischen Comics – moralischer Urteile: Sie bewertet ihre Figuren nicht und versucht auch nicht, ihr Handeln vollständig zu erklären. Sie erzählt selektiv, als wolle sie uns sagen: „Genau so funktioniert unser Gedächtnis“. All dies macht den Reiz diesen unprätentiösen und in Polen ein wenig unterschätzten Comics aus.
Deutsche Ausgabe: 2012 (Salleck Publications)
Polnische Ausgabe: 2012 (Timof Comics)

Die Comics von Marzena Sowa

Marzena Sowa: Marzi; © Panini 2012 Marzena Sowa: Marzi; © Panini 2012 Marzena Sowa ist die in Europa bekannteste polnische Comicautorin und die Lebensgefährtin des französischen Zeichners Sylvain Savoia. Er war es auch, der sie ermunterte, ihre Erinnerungen an ihre Kindheit im kommunistischen Polen zu Papier zu bringen. Ihr gemeinsamer Comic Marzi wurde ein großer Erfolg. Französische Leser, die sich für die Zeit des Kriegsrechts in Polen, für die Solidarność oder für die Person Lech Wałęsas interessierten, konnten den Zusammenbruch des Kommunismus erstmals aus der Perspektive eines jungen Mädchens aus der polnischen Provinz verfolgen, anstatt aus der Sicht von Warschauer und Danziger Politikern. Marzena Sowa und Sylvain Savoia üben keine pauschale Kritik am Kommunismus: Sie zeigen nicht nur den schwierigen Alltag, die grauen Wohnblöcke und die materielle Kultur der Volksrepublik Polen, sondern auch die engen zwischenmenschlichen Beziehungen – sowohl innerhalb der Familie als auch unter den auf dem Hof spielenden Kindern.

 
Französische Ausgabe (Band 1): 2005 (Dupuis)
Polnische Ausgabe (Band 1): 2007 (Egmont Polska)
Deutsche Ausgabe (Band 1): 2012 (Panini)
Amerikanische Ausgabe (Sammelausgabe): 2011 (Vertigo Comics)

Powstanie: Za dzień, za dwa

Marzena Sowa, Krzysztof Gawronkiewicz: Powstanie - 1 - Za dzień, za dwa; © Kultura Gniewu Marzena Sowa, Krzysztof Gawronkiewicz: Powstanie - 1 - Za dzień, za dwa; © Kultura Gniewu Der neueste Comic von Marzena Sowa mit dem Titel „Powstanie“, der in Zusammenarbeit mit Krzysztof Gawronkiewicz entstand, zeigt die Stadt Warschau wenige Wochen vor dem Warschauer Aufstand und der völligen Zerstörung der Stadt durch die Deutschen. Marzena Sowa nimmt auch in diesem Comic die Perspektive der Zivilisten und nicht der Partisanen ein, und Krzysztof Gawronkiewicz vermittelt in seinen Bildern die düstere Atmosphäre einer Stadt, die auf ihren Untergang wartet. Powstanie ist der bisher beste Comic über die Ereignisse von 1944. Eine in den letzten Jahren vom Museum des Warschauer Aufstandes organisierte Wettbewerbsreihe brachte lediglich kurze Comic-Erzählungen hervor, die vor allem um künstlerische Korrektheit bemüht waren.
Französische Ausgabe: 2014 (Dupuis)
Polnische Ausgabe (Powstanie: Za dzień, za dwa): 2014 (Kultura Gniewu)

Fugazi Music Club

Marcin Podolec: Fugazi Music Club; © Kultura Gniewu Marcin Podolec: Fugazi Music Club; © Kultura Gniewu Der letzte Comic auf dieser Liste ist gewissermaßen ein Ausblick in die Zukunft, denn Fugazi Music Club von Marcin Podolec und Waldemar Czapski ist bisher ausschließlich in Polen erhältlich. Doch die Rechte an dem Werk wurden bereits von renommierten Verlagen im Ausland erworben. Marcin Podolec (geboren 1991) studiert Animation an der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Łódź. Er ist einer der aktivsten Vertreter der neuen, von der Comic-Tradition der Volksrepublik Polen unbelasteten Generation polnischer Comic-Zeichner. Podolec versteht es meisterhaft, seinen Stil dem jeweiligen Thema anzupassen: Die Bildsprache von Fugazi Music Club erinnert an die Werke von Bastien Vivès oder Cyril Pedrosa. Der Comic verbindet fiktive und reale Elemente, er basiert auf den Erinnerungen Waldemar Czapskis, einem Mitgründer des titelgebenden Fugazi Music Clubs. Das Fugazi (das auch als der polnische CBGB bezeichnet wurde), war der erste private Musikclub in Warschau nach dem Zusammenbruch des Kommunismus – die wichtigsten Bands der polnischen alternativen Musikszene waren dort zu Gast. Marcin Podolec schildert in seinem Comic den sprunghaften Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus, die Anfänge des polnischen Musikmarkts und auch die besondere künstlerische Energie einer Szene, in der es nicht so sehr um das große Geld ging, sondern vielmehr um jugendliche Leidenschaft und das Streben nach Veränderung. Diese verrückte Geschichte über den Rausch der neu gewonnen Freiheit hat einen fast traumartigen Charakter – die dargestellten Ereignisse und Erlebnisse erscheinen aus heutiger Sicht geradezu unwirklich.
Polnische Ausgabe: 2014 (Kultura Gniewu)
Deutsche Ausgabe in Vorbereitung (Egmont)
Französische Ausgabe in Vorbereitung (Gallimard BD)
Italienische Ausgabe in Vorbereitung (Bao Publishing)