Digitalisierung
Die digitale Herausforderung in deutschen Kitas
Von Joanna Strzałko
„Ich möchte heute mit euch eine Rakete bauen“, schlägt ein dreißigjähriger, bärtiger Mann vor. „Und ich zeige euch, wie man Zeichnungen auf dem Tablet animiert“, sagt eine junge Frau. „Und ich gehe gerne mit euch nach draußen auf den Spielplatz“, bietet eine weitere junge Frau an. Die Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren hören ihnen zu, stellen Fragen und überlegen sich, welches der Angebote am attraktivsten ist. So sehen die morgendlichen Zusammenkünfte aus, an denen die 63 Kinder, elf Erzieher und mehrere Praktikanten in der Kindertageseinrichtung Uphof des evangelischen Kirchenkreises Hamm teilnehmen.
„Wir möchten, dass die Kinder lernen, eigenständig zu denken und die eigenen Meinungen und Wünsche zu formulieren“, sagt Melanie Naber, die Leiterin der Kindertagesstätte. „Ebenso wichtig für uns sind die Vermittlung digitaler Kompetenzen und das Lernen durch Erleben.“
Bekannt wurde die Kindertagesstätte Uphof im Jahr 2018, als die Jury des Deutschen Kitapreises unter 1400 Bewerbern die besten Kindertageseinrichtungen in Deutschland auswählte. Die Kita Uphof wurde mit dem zweiten Preis ausgezeichnet und erhielt einen Scheck über 10 000 Euro sowie ein Zertifikat, das heute eingerahmt zwischen dem gläsernen Eingangsbereich und der weit offen stehenden Tür des kleinen Büros von Melanie Naber hängt.
(Ein Kurzfilm über den Uphof-Kindergarten in Hamm)
„Wir haben das Geld für den Ankauf eines mobilen Labors verwendet, mit dem wir Ausflüge in die Umgebung unternehmen können“, erklärt die Leiterin stolz.
Fünfjährige mit Führerschein
Bisher nahmen die Erzieher zu den wöchentlichen Waldausflügen lediglich Digitalkameras, Mikrofone und Tablets mit, damit die Kinder Bilder, Filme und Collagen erstellen, Tonaufnahmen für Podcasts sammeln und sich mithilfe von Lupen-Apps den Mikrokosmos nähern konnten. Jetzt können sie ihr mobiles Labor, das von außen an einen Bauwagen erinnert, am Waldrand aufstellen und die digitalen Mikroskope benutzen, die ebenfalls zur Ausstattung der Kita gehören.
„Wenn die Kinder ein winzig kleines Stück von einem Blatt unter das Objektiv legen und es plötzlich riesengroß auf dem Bildschirm oder an der Wand erscheint, werden ihre Augen ganz groß“, erzählt Melanie Naber. „Anschließend können sie im Internet nach Informationen über die Bäume, Pflanzen und Tiere suchen und erhalten Antworten auf alle ihre Fragen – und die gehen den Kindern schließlich nie aus“, fügt sie lachend hinzu.
Es ist keineswegs so, dass die Kita Uphof über unbegrenzte Mittel verfügt und sich alles kaufen kann, was sie möchte. „Wir haben auf unseren Kita-Festen Unmengen von Waffeln, Pfannkuchen und Würstchen verkauft, um uns zusätzliche finanzielle Mittel zu beschaffen“, lacht die Leiterin. „Wir schreiben auch regelmäßig Spendenanfragen an die Chefs von großen, mittleren und kleinen Betrieben in ganz Deutschland. Auf diese Weise haben wir bisher rund 70 000 Euro für unsere digitalen Projekte erhalten.“
Ein Ausflug in den Wald mit einem Tablet, das ein hervorragendes Lehrmittel ist | © Joanna Strzałko
Die Kinder in der Kita Uphof dürfen sämtliche Geräte selbst in die Hand nehmen, denn für Melanie Naber ist Vertrauen das A und O. Sie müssen lediglich vorher einen sogenannten Medienführerschein machen, bei dem sie lernen, wie Laptops, Tablets, Mikrofone und Kameras funktionieren und wie man richtig mit ihnen umgeht. Die Kinder selbst formulieren die Regeln folgendermaßen: „Ich darf so lange spielen, bis der gaaanze Sand in der Sanduhr unten ist.“ (Lea, fünf Jahre), „Bevor ich mir ein Tablet nehme, muss ich die Erzieher um Erlaubnis fragen“ (Mia, sechs Jahre), „Es darf immer nur ein Kind die Geräte benutzen. Die anderen schauen zu und warten, bis sie dran sind“ (Antonia und Elisa, sechs und fünf Jahre).
Jedes Jahr gehen in der Kita Uphof 150 Anmeldungen ein – auf 15 bis 20 freie Plätze. Alleinerziehende Eltern werden bevorzugt behandelt. Und obwohl die meisten Eltern das Bildungskonzept der Kita positiv sehen, gibt es auch manche, die Angst vor der Digitalisierung in Kindergärten haben.
Analoges und Digitales
„Es regt mich fürchterlich auf, wenn mich manche Eltern an Tagen der offenen Tür fragen, ob bei uns denn nur gespielt wird“, seufzt Melanie Naber. „Dabei gibt es bei uns Experimentierecken, ein Mathematiklabor, einen Theaterraum, einen Kreativbereich mit Spiegeln, Lampen und Musikinstrumenten und sogar eine Turnhalle! Um die Ängste der Erwachsenen vor den neuen Medien abzubauen, laden wir einmal im Monat sämtliche Familien, auch die Großeltern, in die Kita ein, um ihnen zu erklären, wie diese ganzen neuen Technologien eigentlich funktionieren. Wir zeigen ihnen, wie viele tolle Sachen man mit Apps für Kinder machen kann und warum es so wichtig ist, dass die Kinder sich eigenständig mit ihnen vertraut machen. Manche überzeugen sich erst bei uns davon, dass die digitale Welt nicht nur aus Facebook, Instagram und Spielen besteht.Computerecke im Kindergarten | © Joanna Strzałko
Melanie Naber erklärt, dass sie versucht, analoge und digitale Erlebnisse miteinander zu verbinden und sowohl neue Technologien als auch traditionelle Materialien zu verwenden – denn das eine schließt das andere ja nicht aus.
„Nach dem Besuch einer Ausstellung für Lichtkunst haben wir mit den Kindern in unserer Werkstatt eigene Experimente mit Lichtprojektoren und bunten Folien durchgeführt“, erzählt Melanie Naber. „Aus den Bildern und Zeichnungen der Kinder haben wir ein fantastisches Buch zusammengestellt, das wir anschließend an die Eltern verteilt haben. Nach einem Ausflug ins Ruhrgebiet haben wir ebenfalls ein Buch und auch einen Animationsfilm erstellt. Und ein weiterer Trickfilm mit dem Titel »Jona und der Wal« entstand im Rahmen des Religionsunterrichts. Die Kinder haben die Puppen und Bilder selbst gestaltet, mithilfe der App Stop Motion Studio animiert und den Film selbst vertont.“
(Der Film „Jona und der Wal“, der von den Kindern der Kita Uphof erstellt wurde)
„Ja, ich bin fasziniert von den neuen Technologien“, lacht Melanie Naber. „Und ich besuche leidenschaftlich gern Workshops und Schulungen, um mich auf dem Laufenden zu halten. Ich habe dort gelernt, dass die neuen Medien nicht per se gut oder schlecht sind, sondern nur das, was man mit ihnen macht. Die Aufgabe der Kita ist es, den Kindern zu vermitteln, wozu sie gut sein können und wie man sinnvoll mit ihnen umgeht, anstatt sie lediglich passiv zu konsumieren. Ja, es gibt viel Kritik an diesem offenen Ansatz. Ich würde den Kritikern mit einem Argument begegnen, das ich neulich auf einem der Seminare gehört habe: Als die ersten Bücher gedruckt wurden, wurden sie ebenfalls verteufelt. Man riet davon ab, zu viele Bücher zu lesen, weil zu viel Lesen die Augen verderbe.“
Schützen wir unsere Kinder – sie werden so schnell abhängig!
„In vielen Kindergärten im Silicon Valley haben die Kinder keinen Zugang zu Tablets, und wissen Sie, warum das so ist?“, fragt mich Paula Bleckmann, Professorin für Medienpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. „Weil ihre Eltern, die heute an der Entwicklung der neuesten Technologien arbeiten, auch keine hatten, als sie klein waren. Und es hat ihrer Karriere keineswegs geschadet – sie sind trotzdem zu äußerst kreativen Menschen herangewachsen! Es ist ihnen lieber, wenn ihre Kinder in der freien Natur aufwachsen und die reale Welt mit all ihren Sinnen erfahren. Die Eltern wissen, dass die Zeit für die virtuelle Welt noch früh genug kommt.“Cafeteria für die Kinder des Kindergartens Uphof | © Joanna Strzałko
„Bildschirmmedien sprechen als rezeptive Medien vor allem zwei Sinnesorgane, Augen und Ohren, an und als interaktive Medien mit Wischen und Klicken auch die Haptik sowie minimal die Feinmotorik, beschränkt auf eine zweidimensionale Oberfläche. Drei- und mehrdimensionale Eindrücke und Erfahrungen mit realen Gegenständen schrumpfen also auf zwei Dimensionen, auch wenn sich die Bilder bewegen. Die sogenannten Lerninhalte sind durch das Programm vorstrukturiert, sodass selbstinitiierte, selbstgesteuerte, kreative Explorationen und Erfahrungen mit Ansprache aller Sinne dadurch weitgehend ausgeschlossen sind“, schreibt Paula Bleckmann im Positionspapier „Digitale Medien und frühe Kindheit“, das von der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der frühen Kindheit veröffentlicht wurde.
„Kinder, die oft vor dem Bildschirm sitzen, haben weniger Zeit für die Entwicklung ihrer sensorischen und motorischen Fähigkeiten. Deshalb ist eine Digitalisierung der Kitas aus wissenschaftlicher Sicht nicht zu empfehlen“, führt Paula Bleckmann weiter aus. „Natürlich lernen sie auf diese Weise früher den Umgang mit dem Tablet, aber diese Fähigkeit schützt sie nicht vor den Gefahren, die die virtuelle Welt mit sich bringt: Mobbing, kindergefährdende Inhalte und Abhängigkeit. Die Aufgabe der Erwachsenen ist es, die Kinder so lange zu schützen, bis sie sich selbst schützen können. Bis sie eine gewisse – auch digitale – Reife erlangen, die sich dadurch äußert, dass sie die Kontrolle über die Medien haben, und nicht umgekehrt.“
„Wissen Sie, warum so viele Firmen ein Interesse an der Digitalisierung von Kindertagesstätten haben?“, fragt mich Paula Bleckmann. „Wenn man nicht weiß, worum es geht, geht es meistens ums Geld. All diese Firmen verdienen schließlich am Verkauf der Geräte und der Software! Und sie haben sich eine sehr elegante Strategie ausgedacht, um den Eltern ihre Produkte aufzudrängen: Sie präsentieren sie den Kindern bereits in der Kita, damit die Eltern sich denken: »Wenn mein Kind mit diesem Tablet so gut lernen kann, warum soll es das Gerät dann nicht auch zu Hause benutzen?« Und hinterher verbringen diese Kinder doppelt so viel Zeit vor dem Bildschirm, wie sie eigentlich sollten!“
Als Beispiel für ein gesundes, sinnvolles und entwicklungsförderndes Lernen nennt Paula Bleckmann ein speziell für Kinder entworfenes Musikinstrument: das Gloggomobil. Es ist nach dem Prinzip einer Drehorgel gebaut und besteht aus einer Walze, schwarzen Stiften, einer Kurbel, einem Xylophon und Schlagstäben. Die schwarzen Stifte werden in die Löcher der Walze gesteckt, und sobald die Kurbel gedreht wird, setzen sich die Schlagstäbe in Bewegung, und es ertönt eine Melodie. Wenn sich die Position der Stifte verändert, verändert sich auch die Melodie.
Prof. Paula Bleckmann und das Musiziergerät | © Joanna Strzałko
„Die Kinder programmieren das Gerät selbst und haben einen direkten Einfluss darauf, welche Melodie entsteht“, erklärt Paula Bleckmann. „Sie lernen also das Prinzip der Informationsverarbeitung und gleichzeitig das Binärsystem. Sie selbst entscheiden darüber, ob das Gerät eine Melodie spielt oder nicht.“
Nach Ansicht von Paula Bleckmann sind vor allem drei Regeln die Basis für einen späteren selbstbestimmten, aktiven, kritisch-reflektierten Umgang mit digitalen Medien: Analog vor digital, Produzieren vor Konsumieren und Durchschaubarkeit vor Black Box. Vor allem jedoch sollten wir bei der ganzen Sache nicht vergessen, dass das Wichtigste die Zeit ist, die wir mit unseren Kindern verbringen, erklärt sie.
„Nicht ist so gut für die Entwicklung unseres Kindes, wie die Momente, in denen es uns ganz für sich hat“, sagt Paula Bleckmann. „Wenn wir uns mit ihm unterhalten, ihm vorlesen, ihm die Haare kämmen, gemeinsam Mahlzeiten zubereiten oder auch Filme gucken – wenn auch nicht zu lang. Mit solchen gemeinsamen Rituale unterstützen wir unsere Kinder in ihrer Entwicklung und geben ihnen die Selbstsicherheit und Stärke, die sie dringend benötigen, um den Gefahren, die sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt auf sie lauern, mutig entgegenzutreten.“
Rahmen
Rund 70 Prozent der deutschen Kleinkinder im Alter von drei bis sechs Jahren beschäftigten sich täglich oder fast täglich mit Büchern. 56 Prozent der Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren surfen allein im Internet, und 36 Prozent schauen sich mindestens einmal pro Woche YouTube-Videos an. 25 Prozent beschäftigen sich täglich oder fast täglich mit digitalen Spielen und 9 Prozent nennen digitale Spiele als eine der beliebtesten FreizeitaktivitätenDie Öffentlichen Bibliotheken bieten zahlreiche Projekte zur Leseförderung an. Sie arbeiten mit den Schulen und Kindertagesstätten zusammen und organisieren Vorlesestunden, Leseführerscheine Bibliotheksübernachtungen, Sommer-Leseclubs und Lesewettbewerbe.
Stiftungen wie die Lesewelt Berlin e.V. haben es sich zum Ziel gesetzt, Kinder ohne Druck und ohne Noten zum regelmäßigen Lesen zu motivieren. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter organisieren Vorlesestunden, Autorenlesungen und Lese-Clubs:
Im Rahmen des bundesweiten Vorlesetags, der jedes Jahr im November stattfindet, lesen Tausende von deutschen Prominenten, Politikern und Schriftstellern Bücher in Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Buchhandlungen vor, um Kinder früh für das Lesen zu begeistern.
Das Positionspapier „Digitale Medien und frühe Kindheit“, das von Prof. Paula Bleckmann mitverfasst wurde.
Informationen über die Initiative „Echt dabei – Gesund groß werden im digitalen Zeitalter“ für Kinder, Eltern und Erzieher, die von Prof. Paula Bleckmann unterstützt wird.
Die Website der Kita Uphof in Hamm.
OTO NIEMCY (DAS IST DEUTSCHLAND)
Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.