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Cletus Nelson Nwadike: Brief an Anna Seghers
​Menschlichkeit in Trümmern

Île du frioul, Marseille
Foto: Mael Balland/Unsplash

Von ​Cletus Nelson Nwadike


Liebe Anna Seghers,
 
ich habe gerade dein Buch Transit gelesen und kann den Schmerz und die Angst nachfühlen, die du beschreibst, wenn du vom Leben der Flüchtlinge im Sommer 1940 in Marseille berichtest, wie sie sich bemühen während des Zweiten Weltkrieges ein Transitvisum zu bekommen. Ich kenne diese Hilflosigkeit und Unsicherheit der Flüchtlinge aus deinem Buch. 

Liebe Anna, Krieg, Unterdrückung und Armut zwingen Menschen zu dem aussichtslosen Versuch, eine Flucht nach Europa zu wagen. Wenn das Wasser wieder wärmer wird, machen sich viele Menschen in überfüllten Booten, organisiert von Schmugglern, auf die lebensgefährliche Reise über das Meer. Das Mittelmeer ist zu einem Massengrab für Bootsflüchtlinge geworden. Es ist die tödlichste Grenze der Welt. Allein in diesem Jahr haben 31.000 Menschen versucht aus Libyen zu fliehen und über 700 Menschen sind im Mittelmeer ertrunken.
 
Meine Gedanken zu deinem Buch kreisen deshalb vor allem um die Frage, wie wenig wir eigentlich vom Leid der Welt sehen und sehen wollen. Über 79,5 Millionen Menschen sind weltweit gewaltsam vertrieben worden – die höchste Zahl bislang. Auf dem Meer kreuzen unzählige Boote umher, voll von Menschen, Flüchtlingen, die nie die Erlaubnis bekommen werden einen Hafen anzusteuern. Das Schicksal der Flüchtlinge empfinden viele heutzutage nur noch als leidiges Thema. Die Geflüchteten wissen, dass sie nirgends willkommen sind und wie Tiere betrachtet werden, und dennoch hoffen sie trotz aller Zweifel auf ein Wunder, auf ein Land, das aus dem Nichts auftaucht und sie wie Menschen empfängt.
 
Ich verließ mein Land, als es mir nur noch Frustration, Schmerz und Kopfweh bereitete. Vor vielen Jahren war ich selbst auf Transit in Bulgariens Hauptstadt Sofia. Ich war am Ende und hatte Angst und mir fehlten die erforderlichen Dokumente, um an mein Ziel zu gelangen. Das war im Februar 1990. Auf den Straßen von Sofia war es so kalt, dass ich meine Hände nicht mehr spüren konnte. Und dann passierte, was ich am meisten befürchtet hatte. Die Botschaft meines Traumlandes versperrte mir die Tür.
 
Wer in aller Welt weiß, wie viele Schiffe auf Grund gelaufen sind und wie viele Flüchtlinge es geschafft  und ein neues Leben angefangen haben, mit Arbeit und einer fröhlichen und hoffnungsvollen Zukunft. Die eines Tages dazu beitragen werden neue Bäume als Symbol für Liebe und Gemeinschaft zu pflanzen.
 
Wie ich mir so selbst überlassen war, lernte ich eine Frau aus Holland kennen. Sie fand, dass Europa sich um Afrika kümmern müsse und forderte, dass alle Länder, die Diamanten und Gold aus Afrika geraubt hatten, diese an Afrika zurückgeben sollten. Ich erwiderte, Europa sei der Ansicht, uns nichts mehr schuldig zu sein und uns für all das entwendete Gold und die Diamanten entschädigt zu haben. Wir gingen auf ihr Hotelzimmer und sie meinte, sie habe Angst mich näher kennenzulernen. Wir umarmten uns und fingen an uns zu küssen. Wir hatten uns beide nach menschlicher Nähe gesehnt.
 
In dieser Zeit traf ich einen Mann aus Afrika, Gombe. Wir waren vier junge Leute, die vor den grausamen Regimen in Afrika geflohen waren. Gombe verlangte von uns Geld für die Vermittlung eines Hotelzimmers, aber es war so teuer, dass wir letzten Endes in seiner Wohnung übernachteten. In der Wohnung war es kalt und sehr schmutzig. Wir gaben ihm Geld, damit er uns Fahrkarten nach Russland besorgt, aber er kaufte welche nach Schweden.

Liebste Anna, nun habe ich meinen Frieden gefunden. Ich habe Kinder in diesem neuen Land, doch vorm Einschlafen höre ich immer wieder die qualvollen Rufe und Schreie der im Mittelmeer Ertrinkenden. Ich kann die Toten hören. Ihre Boote bleiben stumm, aber die Toten können sprechen, wenn wir hinhören und verstehen. Jedes Boot hat ein Schicksal und jede Seele will frei sein!
 
Heute kann ich frei atmen. Das ist viel wert. Ich kann schreiben und meine Gedanken zu Ende führen. Manchmal bilde ich mir ein, dass die Menschen in der Welt zuhause sind, dass es für uns alle einen Platz auf Erden gibt. Und manchmal weiß ich nicht mehr, was ich noch glauben soll…
 
Anna, du hast ein bemerkenswertes und wahrhaftiges Buch geschrieben. Wir gleichen den Figuren in deinem Roman, die auf der Suche nach einem Zufluchtsort sind, aber denen oft die notwenigen Dokumente fehlen, um dorthin zu gelangen. Ihre Hoffnung, Marseille zu verlassen, erscheint sinnlos, weil die Regierung ihnen die Ausreise unmöglich macht. Viele Male fragte ich mich, welche Figuren in diesem Roman real und welche ausgedacht sind.
 
Vor vielen Jahren sah ich in den Nachrichten das Bild des kleinen Jungen Alan, dessen lebloser Körper an einen Strand gespült worden war. Manche finden das Bild zu anstößig, um es zu verbreiten oder in Zeitungen abzudrucken, aber anstößig ist meiner Meinung nach, dass ein ertrunkenes Kind an unsere Strände gespült wird, während wir viel mehr hätten tun können, um seinen Tod zu verhindern.
 
Die ganze Welt erlebt eine Krise nach der anderen. Es tut weh, die Boote voller Menschen zu sehen, wie sie auf den Grund des Meeres sinken. Es tut weh, zu sehen wie die Köpfe und Herzen dieser Menschen ertrinken und an Strände gespült werden. Es tut mir in der Seele weh, dass einige Boote die Überfahrt schaffen und andere nicht. Wer bestimmt über unser Schicksal und unsere Länder?
 
Bei der Flüchtlingskrise im Nahen Osten und Europa wurde die Fähigkeit der freien Nationen angezweifelt, eine Balance zwischen Mitgefühl und Sicherheit zu finden. Das politische Klima hat sich derart verändert, dass Fremdenfeindlichkeit und populistische Spaltung nun eine ernste Bedrohung für die freie Welt darstellen.
 
Anna, du sagtest, dass es kein Verbrechen sei, Grenzen um der Freiheit willen zu überschreiten und zu versuchen, friedvoll in Frankreich, Schweden oder England zu leben.
 
Heute im Jahr 2021 haben viele Flüchtlinge erkannt, dass dies unmöglich ist. Es ist ein Hohn, von einem Menschen zu verlangen, sein Leben für ein Visum nach Europa zu opfern.

Die Folge ist ein bürokratischer Alptraum, der Flüchtlinge dazu zwingt, Unmengen an Dokumenten und Visa vorzulegen, die nahezu unmöglich zu beschaffen sind. Man braucht ein Visum, um sich nur für kurze Zeit in Frankreich aufhalten zu dürfen und auch das nur unter der Voraussetzung, dass man das Land wieder verlassen wird. Für die Ausreise ist ein Visum ins Zufluchtsland erforderlich. Man kann nicht einfach in dieses Land reisen, ohne vorher in anderen Ländern Zwischenstation zu machen, weder auf dem Landweg, noch in der Luft oder zur See. Deshalb benötigt man auch ein Transitvisum für jeden Zwischenstopp. Bis die Person das richtige Einreisevisum bekommen hat, ist das Transitvisum längst abgelaufen und umgekehrt. Gerade, weil es so lange braucht, diese Visa zu beschaffen, riskiert man, nicht bleiben zu dürfen, weil in der Zwischenzeit das Aufenthaltsvisum abgelaufen ist, dessen Verlängerung man also immer wieder beantragen muss, was vielleicht am schwierigsten ist.
 
Schreiben und Dichten ist für dich, Anna, und für mich zu einer Art Heimat geworden und wir haben uns langsam eine revolutionäre Sicht angeeignet, wenn wir stellvertretend das Leben der toten asylsuchenden Schriftsteller leben.
 
Um es auf den Punkt zu bringen, die Fiktion gibt denen eine Stimme, die keine haben und ein Gesicht angesichts komplexer, globaler Fragen wie der gegenwärtigen Flüchtlingskrise.
 
Uns ist es nicht nur wichtig, Flüchtlingen Trost und Mitgefühl zu schenken, sondern wir sehen auch die grundlegende Notwendigkeit, dass die Nationen gemeinsam offene Grenzen aufrechterhalten, insbesondere gegenüber jenen Kräften, die dies zu zerstören drohen.
 
Heute, im Jahr 2021, sind Millionen Menschen dem Alptraum ausgesetzt, in kriegszerstörte Länder zurückkehren zu müssen, in denen ein normales Leben unmöglich ist. Menschlichkeit und Hoffnung sind uns verloren gegangen!

Verloren in dem ganzen Papierkram ist die Menschlichkeit der Flüchtlinge, die wie Tiere gehalten werden und oft aufgrund eines nichtigen oder ganz ohne Grund abgewiesen und in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden. Anna, du hast mich an meine unaufhörliche Angst und Verzweiflung erinnert, die auch diese Männer und Frauen kennen. Sie  begreifen, dass ihr einziges Verbrechen darin besteht, zu leben und zu versuchen Grenzen zu überschreiten, um zu überleben.
 
Wenn ich über die Zukunft lese und die Zahl derer, die ihre Heimatländer verlassen müssen, fehlen mir die Worte. Dem UN-Flüchtlingsbüro UNHCR zufolge werden im Jahr 2050 aufgrund des Klimawandels voraussichtlich 250 Millionen Menschen auf der Flucht sein. Das tut mir in der Seele weh. Vor Kurzem gab einer der führenden Gletscherforscher die Prognose ab, dass 190 Millionen Menschen im Jahr 2100 ihre Heimat aufgrund des steigenden Meeresniveaus verlassen müssen. Was sollen wir tun und wo können wir Unterschlupf finden, wenn wir vor jener Welt fliehen, die der Mensch selbst geschaffen hat?
 
In vielen Gegenden und Ländern der Welt, wie in Afghanistan, Somalia und dem Niger, bilden extreme Wetterbedingungen, Gewalt und Unsicherheit einen Mix aus Faktoren, die Menschen zur Flucht bewegen. Es ist ein Jammer, dass diese Menschen gezwungen sind, ihre Heimatländer und Traditionen, die Geborgenheit und ihre Familien zu verlassen. Ich war nicht dabei, als mein Vater und andere Verwandte starben und angesichts dessen schreit mein Herz vor Schmerz auf.
 
Von denen, die momentan aufgrund des Klimawandels fliehen, bleibt die Mehrzahl im eigenen Land als sogenannte Binnenvertriebene. Es gibt hierzu Statistiken, aber ich kann mir auch so vorstellen, um wie viele es sich handelt. Nach Angaben des Norwegischen Flüchtlingsrats mussten im letzten Jahr mehr als 16 Millionen Menschen infolge von Katastrophen und Klimawandel ihren Wohnort verlassen und in andere Teile des Landes ziehen. Das sind viel mehr als die Zahl der Flüchtlinge, die vor Krieg und Gewalt flohen. Die meisten von ihnen leben in Südostasien und im Pazifikraum.
 
Anna, wie kann man ruhig bleiben, wenn die Lage vieler Mitmenschen auf der Welt derart aussieht. Ich nehme meine Kinder in den Arm, die im besten Teil der Welt leben, und vergieße Tränen darüber, was noch kommen mag... Hab Dank für dein Buch...



Cletus Nelson Nwadike Cletus Nelson Nwadike Cletus Nelson Nwadike, is a Swedish-Nigerian poet and photographer. He left Nigeria for Sweden in 1990. Since 1998 has published five poetry anthologies A Short Black PoemWith Words I Can No Longer PrayOne Side of the Rain Falling; I Do Not Want to Mourn You; Thoughts from the Mouths of Lions and a children's book The Elephant in the Mirror. His main themes are love, death and Africa.
In 2020 he came out with a book Addiction which is a photo book.
www.cletusnwadike.se





 

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