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Philipp Wagner: Diskussionsbeitrag
Glück auf! Für neue Perspektiven zur Arbeiterliteratur

Von Philipp Wagner

Oft dominieren nationale Perspektiven auf die Literaturgeschichtsschreibung die Kanonbildung. Eine parallele Betrachtung des Stellenwerts der Arbeiterliteratur in Schweden und Deutschland zeigt jedoch auf, welches Potenzial alternative Literaturgeschichten und Kanones für eine Perspektivenerweiterung bieten.

Zunächst ist grundsätzlich festzustellen, dass Literaturgeschichten und Kanones einander ergänzen. Die Literaturgeschichtsschreibung ist auch eine erzählerische Rechtfertigung der Kanonbildung. Mit anderen Worten werden literarische Texte erst kanonisch, wenn sie narrativ in bestimmte Entwicklungslinien eingeordnet werden. So kann aus jeder Literaturgeschichte ein Kanon, also eine Liste an zum Lesen empfohlenen Texten, abgeleitet werden. Aktuell werden bestehende Kanones dafür kritisiert, dass sie die soziale Vielfalt unzureichend abbilden und überdurchschnittlich viele Texte weißer Männer aus dem Bildungsbürgertum enthalten. Dem Umkehrschluss nach, müssen letztlich Literaturgeschichten anders erzählt werden, damit vielfältigere Kanones entstehen.
 
Bislang werden zum Beispiel die schwedische und die deutsche Literaturgeschichte getrennt voneinander erzählt und unterscheiden sich dabei unter anderem sehr deutlich im jeweiligen Stellenwert der Arbeiterliteratur. Arbeiterliteratur ist per Definition jede Form von Literatur, die mit dem Begriff der Arbeiterklasse assoziiert wird. Historisch-politische Bedingungen sind der Hauptgrund, warum Arbeiterliteratur zum schwedischen und nicht zum deutschen Kanon gehört. So setzte sich in den 1930er Jahren in Schweden die Sozialdemokratie durch und im Zuge dessen feierte Arbeiterliteratur in Romanform ihre ersten Erfolge. Die Generation der Autodidakt*innen – so genannt, weil sie sich selbst das literarische Schreiben beigebracht haben – fiel durch ihre Veröffentlichungen auf und begründete eine bis heute in Schweden sehr wirkmächtige Traditionslinie. Zur selben Zeit, zu der in Schweden die skizzierte Tradition begann, zerschlug der Nationalsozialismus in Deutschland die Arbeiterbewegung und damit auch die Möglichkeit zu einer vergleichbaren Entwicklung. Die als Bitterfelder Weg bezeichnete Kulturpolitik der DDR versuchte in der Nachkriegszeit noch mit dem Slogan „Greif zur Feder, Kumpel!“ der Arbeiterliteratur zu einer neuen Tradition zu verhelfen. Aus heutiger Sicht stellt dieser Versuch jedoch eher ein problematisches Erbe dar.
 
Um in Zukunft Kanones vielfältiger zu gestalten, könnten Literaturgeschichten jedoch statt von nationalen Unterschieden auch von Schnittpunkten der skizzierten Entwicklungslinien handeln. So veröffentlichte die schwedische Autorin Sara Lidman 1968 den Prosatext Gruva, der auf Interviews aus dem Bergbaumilieu der nordschwedischen Stadt Kiruna basierte. Die west-deutsche Autorin Erika Runge wendete dasselbe Verfahren auf Interviews aus dem Ruhrgebiet an, das ebenfalls durch die Bergbauindustrie geprägt ist. Auch sie veröffentlichte ihren so entstandenen Text Bottroper Protokolle im Jahr 1968. Sowohl Lidmans als auch Runges Texte wurden jeweils aufgrund des als innovativ geltenden Verfahrens in ihren Erscheinungsländern begeistert aufgenommen. Angesichts der damals ähnlich großen Begeisterung verwundert es aus heutiger Perspektive sehr, dass Lidmans Gruva in Schweden als kanonisch gilt und Runges Bottroper Protokolle weitestgehend vergessen ist.
 
Diese unterschiedliche Bewertung der beiden Texte überrascht auch aus einem weiteren Grund: ein Zusammenschluss akademischer, verlegerischer und außenkulturpolitischer Akteur*innen aus Schweden und West-Deutschland nahm die Ähnlichkeit von Gruva und Bottroper Protokolle zum Anlass, eine Lesereise für das Jahr 1970 zu organisieren. Auf der Lesereise sollten Mitglieder der Dortmunder Gruppe 61 [DG 61], eine Vereinigung westdeutscher Autor*innen von Arbeiterliteratur deren Mitglied Runge war, mit schwedischen Kolleg*innen die Bedeutung der Arbeiterliteratur in beiden Ländern diskutieren. Begleitet von einer umfassenden Berichterstattung führte die Lesereise symbolträchtig im Sinne eines ‚Marschs durch die Institutionen‘ vom Hafen Göteborgs in das industrielle Zentrum Västerås und anschließend über die Universitätsstadt Uppsala in die Hauptstadt Stockholm.
 
Anhand der Berichterstattung über diese Lesereise wird zugleich deutlich, wie stark die historisch-politischen Bedingungen der Arbeiterliteratur in beiden Ländern damals wie heute ihre Spuren bei der Bewertung von Literatur hinterlassen. Während die schwedischen Zeitungen die DG 61 emphatisch als ausländische Bestätigung des hohen Stellenwerts der Arbeiterliteratur begrüßten, blieben die journalistischen Kommentare aus West-Deutschland angesichts des ihnen ungerechtfertigt scheinenden Aufhebens um den Besuch der DG 61 skeptisch bis spöttisch. Die Chance den Stellenwert der Arbeiterliteratur zu erhöhen und diese stärker wertzuschätzen, wurde dadurch zu Gunsten der gängigen Erzählung deutscher Literaturgeschichte vergeben.
 
Das präsentierte Beispiel soll zeigen, dass ein Perspektivenwechsel lohnt. Meist geschieht es unbewusst, dass bei der Bewertung von Literatur eine nationale Perspektive eingenommen und eine, unter bestimmten historisch-politischen Bedingungen entstandene, Literaturgeschichte weitergeschrieben wird. Die Integration mehrerer nationaler Perspektiven in eine alternative Literaturgeschichte ermöglicht hingegen auch die Bildung eines alternativen Kanons, der beispielsweise mit Runges Bottroper Protokolle und Lidmans Gruva soziale Vielfalt auf die Leseliste setzt. Es bleibt zu hoffen, dass die beiden Texte, knapp 50 Jahre nachdem sie bei ihrem Erscheinen so große Aufmerksamkeit erzeugten, auch in die jeweils andere Sprache übersetzt werden.

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