Das türkische Sprichwort „ayağını yorganına göre uzat“ bedeutet wörtlich übersetzt „Strecke deinen Fuß so weit aus, wie deine Decke reicht“. Es wird verwendet, um jemanden dazu aufzufordern, sich innerhalb seiner Möglichkeiten zu bewegen und nur das zu tun, was im Rahmen seiner Ressourcen und Mittel liegt. Doch was ist, wenn die Decke zu kurz ist? Viele Akteur*innen aus der kulturproduzierenden Praxis, insbesondere freie Literaturveranstalter*innen werden diese Problematik kennen. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Mittel, sondern auch um Ressourcen wie Personal, Räume, Netzwerke und Wissen, um nur einige zu nennen. Und wie können wir Veränderungen bewirken, wenn wir uns nicht über bestehende Grenzen hinauswagen? Auch wenn das Erste, was wir dann spüren werden, vielleicht kalte Füße sind. Doch genau in diesen Momenten des Unbehagens liegt oft das Potenzial für Veränderung und Innovation. Kalte Füße mögen anfänglich eine natürliche Reaktion sein, aber sie könnten der Anfang eines neuen Weges sein.
Als wir 2005 das Literaturdistrikt Festival (ehemals Literatürk Festival) in Essen ins Leben gerufen haben, war unsere Absicht klar: Wir wollten eine Veränderung bewirken. Kulturangebote für die lange Zeit größte Gruppe von Zugewanderten und ihre Nachkommen aus der Türkei waren spärlich gesät bis nicht vorhanden. Gleichzeitig dominierten Integrationsprobleme und rassistische Klischees über türkeistämmige Menschen mit Migrationshintergrund den medialen Diskurs. 2005 markierte auch das Jahr, in dem der Begriff ‚Migrationshintergrundʻ vom Statistischen Bundesamt eingeführt und die bis dato angewandte Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländer*innen um eine Graustufe erweitert wurde. Vor diesem Hintergrund entschieden wir uns, das Festival ins Leben zu rufen, um aktiv zu einer positiven Veränderung beizutragen.
Bei der Konzeption standen insbesondere drei Fragen im Mittelpunkt: Welche lesenswerten Bücher gibt es:
1.) von sogenannten deutsch-türkischen Autor*innen,
2.) von türkischsprachigen Autor*innen, deren Werke ins Deutsche übersetzt wurden, und
3.) innerhalb der deutschsprachigen Literatur insgesamt mit Bezügen zur Einwanderungsrealität?
Die Antworten auf diese Fragen haben wir über die Jahre in unserem Festivalprogramm gebündelt. Fast Forward 18 Jahre und einige konzeptionelle Erneuerungen später hat sich das Literatürk Festival in das Literaturdistrikt Festival für eine plurale und diverse Gesellschaft gewandelt. Die anfängliche Fokussierung auf den Türkei-Bezug war kein Selbstzweck. Sie fungierte als eine Art Blaupause für die Gestaltung von kultureller Repräsentation und Teilhabe in einer zunehmenden Verankerung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses als Einwanderungsgesellschaft. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Dynamik des Literaturbetriebs wider, in dem Autor*innen mit ganz unterschiedlicher und häufig transnationaler Verortung verstärkt präsent sind. Literaturdistrikt ist demnach nicht nur als physischer Ort zu verstehen, sondern vor allem als ideeller Raum, in dem Literatur und Vielstimmigkeit die Hauptrollen spielen.
Die Gratwanderung zwischen der romantisierten Vorstellung von intrinsisch motivierten Akteur*innen in der kulturproduzierenden Praxis und der notwendigen strukturellen Absicherung stellt eine anhaltende Herausforderung dar. Hierbei verschwimmt die Grenze zwischen der notwendigen finanziellen Förderung und der idealisierten Realität von selbstgenügsamen Kulturakteur*innen. Es besteht die Gefahr der Selbstausbeutung, und es ist entscheidend, einen ausgewogenen Ansatz zu finden, der die kreative Freiheit wertschätzt und gleichzeitig die wirtschaftliche und soziale Stabilität der im Kultursektor Erwerbstätigen gewährleistet. Maßnahmen zur strukturellen Absicherung sollten darauf abzielen, die intrinsische Motivation zu unterstützen, ohne die Gefahr der Ausbeutung zu ignorieren.
Dies geht einher mit einer höheren Wertschätzung für die Freie Kulturszene und resultiert folglich in einer entsprechenden Prioritätensetzung innerhalb der Kulturförderung. In diesem Zusammenhang gewinnen Initiativen wie das Literarische Forum für feministische Stimmen zunehmend an Bedeutung. Sie beleuchten den Literaturveranstaltungsbetrieb und das Literaturvermittlungswesen aus verschiedenen Perspektiven. Sie analysieren u. a. Förderinstrumente und Arbeitsbedingungen in der Freien Literaturszene, eröffnen Gesprächsräume und ermöglichen Vernetzung. Dies ist besonders relevant, da den unterschiedlichen Akteur*innen des literarischen Feldes oft die Möglichkeiten fehlen, sich neben ihren eigentlichen Aufgaben mit Grundsatzfragen wie diesen systematisch auseinanderzusetzen.
In den Jahren seit der Gründung des Literaturdistrikt Festivals haben wir erlebt, wie in Kooperation mit verschiedenen Akteur*innen aus einer anfänglichen Vision eine lebendige Plattform für kulturellen Austausch und Vielfalt geworden ist. Während dieser Zeit konnten wir von zahlreichen Erfahrungen aus den vorangegangen Jahren profitieren, beispielsweise in der Sichtbarmachung und im Umgang mit marginalisierten Perspektiven oder wie wichtig die Zusammenarbeit mit erfahrenen Dolmetscher*innen bei der Vermittlung von zwei- bzw. fremdsprachigen Veranstaltungen ist. Der Weg dorthin war und ist schwierig. Jahr für Jahr stellt sich erneut die Frage, inwieweit das Festival weiter gefördert wird, wie die verfügbaren Mittel genutzt werden können und welche Vorhaben realisierbar sind. Dabei müssen wir abwägen, wie wir die dafür nötige Zeit in Einklang bringen können mit anderen notwendigen beruflichen Verpflichtungen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Aufgrund der geringen Teamgröße besteht bei Ausfällen, sei es durch Krankheit oder andere Umstände, unmittelbare Gefahr für die Kontinuität des Projekts. Sofern möglich wird die Arbeitslast dann auf noch weniger Schultern verteilt, was zu zusätzlichem Druck und vermehrter unbezahlter Arbeit führt. In der intensiven Vorbereitungsphase, wenn die Arbeitsbelastung zunimmt und die Programmhefte, Plakate und das technische Equipment für die Aufzeichnungen der Veranstaltungen das Wohnzimmer erobern – aufgrund fehlender finanzieller Mittel für externe Räumlichkeiten – ist der Ausspruch „ich kündige“ ein jährlicher Running Gag. Doch spätestens, wenn wir dann die Veranstaltungen erleben und die Begeisterung des Publikums spüren, erfahren wir hautnah, warum wir die Anstrengungen und das Wagnis immer wieder auf uns nehmen.
Das alles wäre nicht möglich, wenn wir uns mit der uns ursprünglich zugedachten Deckenlänge zufriedengegeben hätten. Mitunter verspüren wir noch kalte Füße, sei es aufgrund begrenzter Ressourcen und finanzieller Mittel oder aufgrund gesellschaftspolitischer Diskurse, die in vermeintlich überwundene Denkmuster zurückfallen. In Anbetracht der Widrigkeiten ist es angebracht, sich die Zeilen aus der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht in Erinnerung zu rufen: „Denn wie man sich bettet, so liegt man. Es deckt einen da keiner zu. Und wenn einer tritt, dann bin ich es. Und wird einer getreten, dann bist’s du.“ In der chronisch unterfinanzierten Freien Kulturszene ist es von zentraler Bedeutung, gemeinschaftlich darüber nachzudenken, wie wir dazu beitragen können, unsere Spielräume zu erweitern und die plurale Demokratie zu stärken.