Zeit-Rezension von David Hugendick
Explodierende Neuronen
Thomas Melle erzählt in „Die Welt im Rücken“ von seiner bipolaren Störung. Das Buch seines zersplitterten Lebens ist eine kräftezehrende Lektüre. Und grandiose Literatur.
Es passiert selten, dass man ein Buch mit komplexen Schamgefühlen liest. Man schämt sich für den Zwiespalt, der sich in einem selbst auftut, weil man sich überrannt fühlt oder nieder getrampelt, erstarrt und immer wieder unterhalten. Man schämt sich für seinen eigenen Voyeurismus und erkennt in sich plötzlich einen dieser Gefühlsshowmaster und Emotionseventmanager, die die Welt pausenlos befragen, wie es ihr geht. Und man schämt sich, weil man sich sicher ist, dass dieses Buch große Literatur ist, aber es vielleicht gar nicht sein will, sondern möglicherweise eine Selbsterkundung, auf jeden Fall eine tragische, wahre Geschichte, die nur dem Autor gehört und nicht dem Leser und nicht dem Jubel der Rezensenten.
Der Autor des Buchs ist Thomas Melle, sein Buch heißt Die Welt im Rücken, und es erzählt von einem viel größeren Zwiespalt und einer viel größeren Scham, als man als Leser vermutlich je empfinden könnte. Es ist die Chronik der bipolaren Störung des im Jahr 1975 geborenen Schriftstellers, eine Geschichte in drei manisch-depressiven Schüben. Sie erzählt von der Zerbrechlichkeit des Daseins, wie jemand zum Gespenst mit einem Körper wird, sie erzählt von flüchtigem Glück und sich handfest auftürmendem Unglück, von Jahren als "hirnversengter Clown", dem Tage wie aus Milchglas erscheinen und die Wochen wie Labyrinthe . Schlimmer noch: Er ist dieser Clown und gleichzeitig ist er es nicht.
Zugleich ist sie eine große Kränkung, die Kränkung, dass Melle eines Tages plötzlich nicht mehr Herr im seinem eigenen Haus ist. Er, der hochbegabte Studienstiftler und genialische Schriftsteller, Autor von Büchern wie „Sickster“ und „Raumforderung“, Kind aus dem „Haribo-Slum“ schwieriger, nach Kohle riechender Verhältnisse, sieht sich als „Opfer des Weltgeistes“, dem die Neuronen im Kopf explodieren. Der sich im Kaufhaus plötzlich einen Baseballschläger kaufen will, um damit Berlin-Mitte zu zertrümmern (er kauft am Ende doch nur einen Basketball), der Zugscheiben einschlägt, weil er die permanenten Kollisionen zwischen sich und der Welt nicht erträgt, und im narzisstischen Überschwang glaubt, die Toten der Literatur stünden vor ihm.
Picasso im Berghain
Er sieht Foucault im Wirtshaus, Thomas Bernhard im McDonald's am Bahnhof in Wuppertal, und eines Nachts im Berghain trifft er den von ihm so gehassten Picasso, dem er Rotwein auf die Hose kippt. Er glaubt, er habe Sex mit Madonna gehabt und Björk singe nur für ihn in der Bar nebenan. „Ich bin eine Tragödie aus Hulk und Hybris“, schreibt Melle. In seinen manischen Schüben und Psychosen ist er zur Welt selbst aufgebläht, alles steht im Bezug zu ihm, sodass er glaubte, „die Spatzen vom Dach pfiffen wirklich unsere Namen“. Eine Verschwörung der Zeichen: der endlose Strom der Gesichter auf den Straßen, Artikel im Internet, die Nachrichten, Reden von Gerhard Schröder, 9/11, sogar tote Diktatoren - alles spricht zu ihm, lacht ihn aus, alles ist eine Botschaft an ihn, existiert nur seinetwegen. Die Welt als semiotischer, synästhetischer Terror und zugleich als Disneyland , das anscheinend nur für ihn erbaut wurde.So seien die Nächte und Tage verglommen, schreibt Melle: Rasen, Klauen, Schreien, Redeschwalle. Ständig läuft der Fernseher. Bis er zum ersten Mal zwischen selbsternannten „Königen von Deutschland“ und „Engeln der Verdammten“ in der Psychiatrie landet, in einem zeichenlosen Gefängnis aus Blicken. Dort hilft ihm kein Panzer aus Ironie, keine Kulturtheorie mehr, die Melle als Student verschlungen hat. Hier hilft ihm kein Foucault, kein Derrida und auch nicht mehr die Musik von Trent Reznor, die immer wieder im Buch hervorbricht. Als die einzige Aussicht auf Heilung erscheint Melle die „verstreichende Zeit“, in der er allmählich lernt, dass ein „zerstörerischer Krieg“ in ihm tobt. Der Krieg zweier Ungeheuer: die Manie und die Depression.
Es folgen Einweisungen, Entlassungen, „dickmachende Tabletten“, Namen von Menschen, die bleiben werden und sehr viele, die wieder gehen. Melle sitzt irgendwann in seiner verfinsterten Isolation und informiert sich in Selbstmordforen über die angemessene Art, sich umzubringen. „Weg sein“ wünscht er sich sehr, „Matsch aber nicht“. Im Badezimmer steckt er seinen Kopf in eine Kabelschlaufe, denkt dabei an Stammheim und die RAF, dazu spielt sein Gehirn „Fernando“ von Abba. Er übt den Ernstfall und hofft, sein Therapeut bemerkt später nicht die Abdrücke am Hals.
Das „Verspulte und Daneben“
Dass solche zermürbenden Selbstausschürfungen und Zeugnisse eine bisweilen zermürbende Lektüre sind, liegt auch daran, mit welcher Konzentration und verdichteten Selbstwahrnehmung Thomas Melle über seine Krankheit schreibt, seinen „gescheiterten Bildungsroman“, wie er das Buch nennt. Sein Irrsinn, das „Verspulte und Daneben“, werden hier niemals Gegenstand einer allegorischen, gemütsberuhigenden Überhöhung. Das Buch ist so ehrlich und gnadenlos, den vergeblichen Kampf des Autors mit der Krankheit nicht als heroischen Akt vorzuführen, nicht als pathetische, nachträgliche Mystifizierung des schwer gelebten Lebens, sondern als hässliche, einsame Angelegenheit. Die Radikalität dieses Buchs, seine Härte zu sich selbst, ist keine literarische Pose.Die Sätze, die Melle seinem in Straßen, Nächten, auf Theaterproben, „Kulturfrühstücken“ und Psychiatriegemeinschaftsräumen verbrachten, irgendwann zum Existenzminimum und zur „Lachfigur“ zersplitterten Leben abringt, haben Beulen und Wunden, oft auch Krallen und Zähne. Seine Beschreibungen der neunziger Jahre, der MTV-Moderatoren mit den „radioaktivstrahlenden Gesichtern“, der Supermarktzumutungen und der leergeräumten Augen der Trinker in Berlin sind von einer analytischen Schärfe, der man in der deutschen Literatur selten begegnet. In „Die Welt im Rücken“ wird so gewissermaßen auch das Berlin der ausgehenden neunziger und zu Beginn der Nulle Jahre im Vorbeirasen und Vorbeirauschen miterzählt.
Die Leitzordnersprache der Welt
Wenn Melle seine manischen Phasen schildert, reißt er seine Sprache bis an die Ränder der Selbstwahrnehmung auf, versucht seine „Empfindungshektik“ ebenso zu rekonstruieren wie die Erinnerungslücken, die die Manie hinterlassen hat. Und in diesem Sinn ist das Buch auch zu verstehen: Schreiben als Erinnern. Allerdings nicht im Gestus einer bewältigten Biografie, sondern als ein Schreiben, das den Momenten nachzittert, die der Autor - ironische Gnade der Krankheit - vergessen hatte, aber nun nicht mehr vergessen will. Seine Sprache ist wütend, verletzt, sie ist bösartig, dünnhäutig, hochdrehend und dabei beeindruckend kontrolliert. Und man ahnt, dass sie von einer Angst getragen zu sein scheint, Halt zu finden in Wörtern und Formulierungen , die nicht nur die Krankheit einen Moment lang bannen mögen, sondern auch etwas Dauerhaftes schaffen suchen, etwas Gültiges im Chaos, das im nächsten Augenblick im Kopf wieder losbrechen könnte.Und dann gibt es in diesem Buch viele Sätze, die nicht mehr stark genug sind, um sich aufzubäumen gegen die Vereinsamung und die Traurigkeit, die Erschöpfung und die Zerstörungswut: „Ich sitze da und bin ein Gegenstand. Ich gehöre nicht mehr zu der Klasse der Menschen, sondern zu der der unbelebten Objekte.“ Am Ende seines dritten Schubs ist er ohne Wohnung, ohne Konto, umstellt von Bergen von Schulden und Akten, ein Objekt der Zudringlichkeit der Welt und der Leitzordnersprache der Bürokratie, die so klingt wie ein schriller Monolog der Vernunft gegen den Wahnsinn: Stundungsangebote, Leistungserbringungsverträge, Fallmanagementberichte , Hilfebedarfsanmeldungen, Kostenübernahmeformulare.