Liest man Literatur nicht als Abbildung von Wirklichkeit, sondern achtet zunächst einmal auf ihr Spiel mit Sprache, mit ihren Formen und Bedeutungen, dann kann man ihr unglaubliches sprach- und kulturreflexives Potenzial entdecken. Ein Plädoyer für einen veränderten Umgang mit Literatur im DaF-Unterricht.
Blickt man auf die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts zurück, stellt man fest, dass Status und Rolle der Literatur sich stark verändert haben. Bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stand im Rahmen eines vor allem auf den Erwerb von symbolischem Kapital ausgerichteten Unterrichts die Fähigkeit zur Lektüre (hoch-)literarischer Texte im Mittelpunkt. Mit der zunehmenden Mobilität von Waren und Menschen und den sich daraus ergebenden neuen kommunikativen Anforderungen änderte sich dies: Nun wurde der Fremdsprachenunterricht auf das Ziel einer sprachlichen Handlungsfähigkeit im Alltag und am Arbeitsplatz ausgerichtet; das neue Lernziel hieß kommunikative Kompetenz. Zu ihrem Erwerb schien eine eher elitären Zielsetzungen verpflichtete Literaturanalyse nichts beitragen zu können. Dank der in den Achtzigerjahren aufkommenden rezeptionsästhetischen und interkulturellen Literaturdidaktik blieb die Literatur zwar im kommunikativen Fremdsprachenunterricht verankert; begrenzt allerdings auf die Rolle als Gesprächsanlass sowie als Träger von landeskundlichen Informationen. Die spezifisch literarische Verfasstheit der literarischen Texte – die die Aufmerksamkeit auf den Text selbst, seine Form, seine Gemachtheit lenkt – wurde allenfalls unter Vorbehalten akzeptiert. Das Potenzial eines solchen literarischen Umgangs mit Text und Sprache für fremdsprachliches – sprachliches wie kulturbezogenes – Lernen blieb unausgeschöpft.
Gesprächsanlass oder Symbolische Kompetenz
Die heutige Situation ist von widersprüchlichen Tendenzen gekennzeichnet. Auf der einen Seite fungiert Literatur in den aktuellen DaF-Lehrwerken so gut wie nur noch als Gesprächsanlass; die interkulturelle Perspektive auf sie ist verschwunden. So problematisch diese Perspektive auch war (der ihr inhärente Kulturvergleich barg stets die Gefahr, Stereotypisierungen zu verfestigen anstatt sie aufzubrechen): Durch ihren zunehmenden Ausschluss haben sich die Orientierungen auf eine Spracharbeit, in deren Rahmen Sprache vor allem als Instrument begriffen wird, zu dem die Beschäftigung mit Literatur nichts Grundlegendes beitragen kann, noch verstärkt. Sie prägen auch den 2001 veröffentlichten Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GER); bezeichnenderweise weiß dieser mit der
ästhetischen Sprachverwendung kaum etwas anzufangen (siehe sein knappes gleichnamiges Kapitel 4.3.5).
Nur auf den ersten Blick ist die Literatur national; tatsächlich aber gibt es „keine patriotische Kunst": Sie gehört „wie alles Gute, der ganzen Welt an" (Goethe).
| © Goethe-Institut
Auf der anderen Seite formiert sich seit einiger Zeit eine Gegenbewegung, die auch der Literatur wieder einen höheren Stellenwert im Fremdsprachenunterricht zuerkennt, und zwar nicht trotz, sondern wegen ihrer ästhetischen Dimension. Dabei wird keine Rückkehr zu Positionen vor der Wende zum kommunikativen Unterricht gefordert. Vielmehr wird für dessen Weiterentwicklung im Zeichen einer sprach- und kulturreflexiven
symbolischen Kompetenz (Claire Kramsch) plädiert. Dieses noch junge Konzept trägt dem Umstand Rechnung, dass die Welt und die mit ihr verbundenen kommunikativen Anforderungen unübersichtlicher und komplexer geworden sind; Stichworte sind Globalisierung und Internet, Multikulturalität und Mehrsprachigkeit. Zugleich ist das Konzept Teil einer veränderten Theorielandschaft, zu der Begriffe wie linguistic und cultural turn, Postkolonialismus und ein nicht-essenzialistischer Kulturbegriff gehören. Grundlegend ist die Einsicht in die zentrale Rolle der Sprache bei der Konstruktion von Wirklichkeit und ihren Ordnungen, von Zugehörigkeit und Ausgrenzung, von Sinn und Bedeutung; sowie die Erkenntnis, dass Menschen Sprache zwar instrumentell gebrauchen, sie aber nur partiell beherrschen und kontrollieren. Es ist nun gerade ihre Literarizität, die die Literatur in die Lage versetzt, die Bedeutungsbildungsprozesse, die diesen Konstruktionen zugrunde liegen, sichtbar zu machen und damit kulturreflexiv zu wirken: indem sie Essenzialisierungen – etwa des „Deutschen“ als einer vermeintlich homogenen Sprache – und Kulturalisierungen – die Identifikation von Positionen und Sichtweisen mit „Kulturen“ – aufdeckt, vermeintliche feste Bedeutungen in die Schwebe bringt, vorgeblich unverrückbare Normen in Frage stellt, neue Sichtweisen erprobt, generell: Reflexionsräume eröffnet.
Ein schönes Beispiel dafür bietet der im Lehrwerk
studio d A2 abgedruckte Text von Elke Erb
Bewegung und Stillstand, der über die durchdachte Anordnung seiner Worte und den geschickten Einsatz von Schlüsselbegriffen den Lernenden buchstäblich erfahr-, spür- und sichtbar macht, dass in unserer – modernen – Gegenwart Bewegung zugleich Stillstand sein kann und umgekehrt; und damit aufzeigt, was Sprache vermag, wenn man sie literarisch einsetzt: Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Widersprüche auszudrücken, die sich nicht so ohne Weiteres auflösen lassen; und die in einem nicht-literarischen Sprechen so nicht formulierbar sind. Leider nimmt das Lehrwerk aufgrund seiner kommunikativen Ausrichtung die Einladung zur Sprach- und Kulturreflexion, die Erbs Text macht, nicht an. Die unten angegebene Literatur enthält aber zahlreiche methodische Hinweise, wie Lernende für diese einzigartige Fähigkeit der Literatur sensibilisiert werden können; und vor allem, wie sie diese Fähigkeit für sich selbst, für ihr eigenes Sprach- und Ausdrucksvermögen produktiv machen können – und zwar auf allen Sprachniveaus.
Das genannte Beispiel ist auch deshalb interessant, weil es zeigt, dass Kulturreflexion so gut wie immer auch Sprachreflexion ist und umgekehrt. Und es zeigt des Weiteren, dass die kategoriale Trennung zwischen Literatur und Sprache sich tendenziell auflöst: Denn die Literatur verliert ihren Charakter als vermeintliches Jenseits der (normalen) Sprache, das – wenn überhaupt – im Fremdsprachenunterricht erst auf einem höheren Sprachniveau eine Rolle spielen kann und darf. Stattdessen wird das Literarische als eine grundlegende Dimension von Sprache sichtbar, die von Anfang in den Fremdsprachenunterricht einbezogen werden sollte, weil sie eine mächtige Ressource für den Fremdsprachenerwerb darstellt.
Von der Literatur im Unterricht zum literarischen Unterricht
Wendet man diese Überlegungen auf den DaF-Unterricht selbst an, dann gelangt man von der Literatur im DaF-Unterricht zu einem literarischen DaF-Unterricht; dieser zeichnet sich durch eine ästhetische Perspektive auf Sprache aus. Damit ist gemeint, dass in Bezug auf sie nicht mehr die normative Richtig-falsch-, sondern die ästhetische Gelungen-nicht gelungen-Opposition gilt. Abweichungen von den Regeln und Konventionen sind damit – wie bei literarischen Texten – auf ihre Funktionalität zu prüfen. Sie können scheitern, das heißt Ausdruck von Unvermögen sein, sie können aber auch glücken, das heißt neue Ausdrucks- und Reflexionsmöglichkeiten eröffnen. Vielleicht genügt es schon, die Idee eines literarischen DaF-Unterrichts im Hinterkopf zu haben, um Lernenden den Weg zu einem reflektierteren und ironischeren, zugleich entspannteren, gelasseneren und letztlich freieren und kreativeren Umgang mit der deutschen Sprache zu ebnen.
Literatur
Dobstadt, Michael/Riedner, Renate (Hg.) (2011):
Fremdsprache Literatur (= Fremdsprache Deutsch; H. 44). Ismaning: Hueber.
Euba, Nikolaus/Warner, Chantelle (i. Dr.): Literarische Lesewerkstatt DaF & DaZ. Literatur Lesen Lernen B1/B2. Herausgegeben von Michael Dobstadt und Renate Riedner Stuttgart: Klett.
Kramsch, Claire (2006): From Communicative Competence to Symbolic Competence. In: The Modern Language Journal 90. Jg., H. 2, S. 249-252.
Schweiger, Hannes (2013): Kulturbezogenes Lernen mit Literatur. In: ÖDaF-Mitteilungen 29. Jg., H. 2, S. 61-77.
Schweiger, Hannes (2015): Kulturelles Lernen mit Literatur – von Anfang an. In:
Fremdsprache Deutsch H. 52, S. 22-27.