500 Jahre Reformation
Ein besonderer Tag an einem deutschen Kleinstadt-Gymnasium

An deutschen Schulen geht es nicht immer um das Lernen für die nächste Prüfung. Was ich neulich an meinem alten Gymnasium erlebte, erinnerte an einen Mittelalter-Markt, gehörte aber zum Luther-Jahr in Deutschland. Was haben 500 Jahre alte Ereignisse Schülern heute noch zu sagen?
Heute ist kein Schultag wie jeder andere. Obwohl eigentlich Unterrichtszeit ist, wuseln Schüler durch die Pausenhalle. Einige verteilen hinter Tischen Infozettel oder selbstgemachte Leckereien, andere spazieren von einem Stand zum anderen, fotografieren sich in mittelalterlicher Aufmachung, studieren Aushänge oder stehen einfach nur in Grüppchen zusammen. Auch Lehrer sind unterwegs. Einige von ihnen kenne ich noch gut, denn dies war einmal auch meine Schule. Das ist schon ein paar Jahre her. Als ich hier, am Gymnasium Bremervörde, mein Abitur abgelegt habe, war kein einziger dieser Schüler auch nur geboren.

Es ist wohl für jeden ein seltsames Gefühl, an die alte Schule zurückzukehren. Vieles hat sich nicht verändert. Der gleiche dunkelgrüne Teppichboden, die gleichen gelben Türen, und sogar die Tische in den Klassenräumen kommen mir bekannt vor. Die Lehrer von damals, die noch nicht pensioniert sind, sind älter geworden – so wie ich selbst natürlich auch. Die aktuellen Schüler ahnen noch nichts davon, dass sie irgendwann genauso auf diese Zeit zurückblicken werden. Für sie ist heute vor allem wichtig: Es gibt an diesem Dienstag Ende Oktober keinen Unterricht – denn es ist Luther-Projekttag.
2017 war ja das große Luther-Jahr in Deutschland. Vor 500 Jahren hatte Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel veröffentlicht, die Autorität der katholischen Kirche in Frage gestellt und damit einen Prozess ausgelöst, der die Welt veränderte. Die Reformation hat die christliche Kirche gespalten, Machtkämpfe ausgelöst und in vielen Ländern zu Kriegen geführt – der Dreißigjährige Krieg verwüstete weite Teile Europas, und bis weit ins 20. Jahrhundert brachten sich wegen Nordirland noch Katholiken und Protestanten gegenseitig um. Sie hat aber auch die Neuzeit eingeläutet und mit dafür gesorgt, dass immer mehr Menschen ihr Leben nicht mehr durch Überlieferungen und kirchliche Vorgaben lenken ließen, sondern sich eigene Regeln gaben. Sich kritisch seines eigenen Verstandes zu bedienen, das war revolutionär und mündete schließlich in den Idealen der Aufklärung, die unser Denken bis heute prägen.

Auch Deutschland ist heute noch gespalten in den eher protestantischen Norden und den katholischen Süden, aber zum Glück ist das kein Grund mehr für Konflikte. Meine Heimat liegt im protestantisch geprägten Niedersachsen, die meisten Menschen sind in der evangelisch-lutherischen (schon wieder Luther!) Amtskirche. Das ist eine der großen, vom Staat anerkannten und besonders geförderten Glaubensgemeinschaften. Die Trennung zwischen Kirche und Staat ist in Deutschland schwächer als in vielen anderen Ländern. Das Finanzamt treibt für die Kirchen sogar ihre Mitgliedbeiträge als Steuer ein – jedenfalls, solange man nicht austritt. Die Religionsstunden sind Teil des normalen Unterrichts und werden auch benotet. Allerdings sind die meisten ja Lehrer, die an Universitäten ausgebildet wurden und nicht wie Pastoren oder Pfarrer von den Kirchen abhängig sind. Und niemand wird zur Teilnahme gezwungen. Als nicht religiöses Alternativangebot gibt es ein Fach, das je nach Bundesland Philosphie, Ethik oder Werte und Normen heißen kann. Wir konnten uns damals ab 14 Jahren selbst für oder gegen den Religionsunterricht entscheiden, davor war es Sache der Eltern.
Zurück zu diesem Projekttag an meinem alten Gymnasium. Damit es rund um Luther und seine Zeit so viele Stände, Aushänge und Aktionen gibt, hatten die Religionslehrer der Schule zusätzlich zur normalen Arbeitszeit viel Freizeit in die Vorbereitung gesteckt – und viele Schüler natürlich auch. Für sie war die Teilnahme freiwillig.


Egal, ob mit Religion oder nicht – dass wir auch in Zukunft revolutionäre Gedanken und den Mut, uns des Verstandes zu bedienen, gut gebrauchen können, zeigen bei dem Projekttag Jan-Bennet, Mick und Paul aus der Oberstufe. Sie haben „95 Thesen für 2017“ formuliert und – vielleicht so ähnlich wie einst Martin Luther – auf ein großes Blatt Papier geschrieben. Dabei spielen Glaube und Kirche keine Hauptrollen mehr. „Umwelt“ haben sie den ersten Block überschrieben. Einige der Thesen dort lauten:
1. Der Lebensraum Erde wird immer kleiner.
2. Ob die Erde der weiter ansteigenden Bevölkerungszahl standhalten kann, hängt vom Umweltbewusstsein der Menschen ab.
12. Man sollte nicht nur Menschen Toleranz und Respekt entgegenbringen, sondern auch der Erde und den Tieren, die eine Überlebens- oder Lebensgrundlage für uns darstellen.
„Gerechtigkeit“, „Internet“ und „Toleranz“ sind die weiteren Überschriften – darunter Probleme, die heute Menschen auf der ganzen Welt bewegen.
33. Großkonzerne haben einen zu großen Einfluss.
65. Auch im Internet muss das Gegenüber respektiert werden.
92. Toleranz hört bei den Intoleranten auf. Niemand muss Intolerante tolerieren


