Frankfurter Buchmesse 2022
Deutscher Buchpreis geht an Kim de l'Horizon
Wie schreibt man über Menschen, die weder Mann noch Frau sind? Kim de l'Horizon hat es in „Blutbuch“ vorgemacht. Bei der Preisverleihung in Frankfurt rasierte sich Kim eine Glatze – und dankte der Mutter.
Die nicht-binäre Autor*in aus der Schweiz konnte ihr Glück kaum fassen, den renommierten Deutschen Buchpreis gewonnen zu haben. Die Jury war nach eigenen Worten „provoziert und begeistert“ von dem Roman: Blutbuch sei für seine „Dringlichkeit und literarische Innovationskraft“ ausgezeichnet worden, begründete sie ihre Entscheidung. „Welche Sprache gibt es für einen Körper, der sich herkömmlichen Geschlechterkategorien entzieht?"
Spontan war Kim de l'Horizon nach der Verkündung im Frankfurter Römer, dem Rathaus der Stadt, ins Publikum gestürmt, um Freunde und Freundinnen zu umarmen. Danach gab es auf der Bühne zuerst nur ein „Wow!“, dann eine tränenreiche Danksagung an die eigene Mutter und ein spontan vorgetragenes Lied.
„Ich dachte eigentlich, ich würde aus ästhetischen Gründen meine Brille nicht anziehen, aber ich tue es jetzt doch.“ So hatte Kim de l'Horizons Rede in Frankfurt begonnen. Sie endet damit, dass die nicht-binäre Autor*in sich eine Glatze rasierte. Eine Geste, um sich mit Iranerinnen zu solidarisieren – denn nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini hatten sich zahllose Frauen eine Haarsträhne abgeschnitten.
„Dieser Preis ist nicht nur für mich“, sagt Kim de l'Horizon und widmete die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung auch den Frauen im Iran, die zurzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen für ihre Menschenrechte demonstrieren. „Ich denke, die Jury hat diesen Text auch ausgewählt, um ein Zeichen zu setzen gegen den Hass, für die Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden.“
Worum geht es in Blutbuch?
Die nicht-binäre Erzähler*in von Blutbuch lebt in Zürich, nachdem sie aus dem kleinen, konservativen Dorf in der Schweiz geflohen ist, in dem sie aufwuchs. In der Großstadt ist sie mit ihrem Leben zufrieden und kann ihre Identität frei leben.Als ihre Großmutter an Demenz erkrankt, beginnt für die Erzähler*in das Nachdenken: Sie spricht ihre Großmutter im Roman direkt an, beginnt mit einer Auflistung von all den Themen, über die sie nie gesprochen haben, unter anderem die fluide Geschlechtsidentität der Protagonist*in oder den Rassismus der Großmutter.
Geheimnisse und Schweigen in Familien sind ein so beliebtes wie zeitloses Thema in der Literaturgeschichte. De l’Horizon begegnet dem Thema durch ihre nicht-binäre Protagonist*in aus einer neuen Perspektive und fügt den vielfältigen Vorwürfen, die man sich in Familien macht, einen weiteren hinzu. Nachdem die Bundesregierung im Juni 2022 Eckpunkte für ein Gesetz zur einfachen Änderung des Geschlechtseintrags vorgestellt hat, kommt Blutbuch politisch zum richtigen Zeitpunkt.
Der Preis kurbelt die Verkäufe an
Blutbuch ist Kim de l'Horizons Debüt, in dem zehn Jahre Schreibarbeit stecken. Im Klappentext des Romans ist über Kim zu lesen: „geboren 2666, studiert Hexerei, Transdisziplinarität und textet kollektiv“. Mainstream ist von dem jungen Talent also wohl kaum zu erwarten.Der Deutsche Buchpreis ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Literaturpreise, der die Verkäufe der Preisträgerinnen und Preisträger oft merklich ankurbelt. Außerdem erfahren die ausgezeichneten Bücher auch international viel Aufmerksamkeit, werden in Goethe-Instituten auf der ganzen Welt ausgestellt und als Folge des Preises in andere Sprachen, manchmal sogar ins Englische übersetzt – was immer noch eine Seltenheit ist.
Nominiert waren fünf weitere Autor*innen: Fatma Aydemir, Kristine Bilkau, Daniela Dröscher, Jan Faktor und Eckhart Nickel. Der Deutsche Buchpreis wird im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergeben. Als Vorbild dient der britische Booker-Preis. Im letzten Jahr gewann die Autorin Antje Rávik Strubel den Preis für ihren europäischen Roman Blaue Frau.
de l'Horizon, Kim: Blutbuch
Köln: Dumont, 2020. 336 S.
ISBN 978-3-8321-8208-3