Rosinenpicker | Literatur
Flucht zu Mama

Joachim Meyerhoff während einer Probe zu William Shakespeares „Der Sturm“ am Wiener Akademietheater (2007)
Joachim Meyerhoff während einer Probe zu William Shakespeares „Der Sturm“ am Wiener Akademietheater (2007) | © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | STEPHAN TRIERENBERG

In seinem neuen Buch flieht Joachim Meyerhoff vor Berlin und seiner Midlife Crisis zu seiner Mutter aufs Land. Neben Fußmassagen bekommt er dort auch reichlich Whiskey.

Als Joachim Meyerhoff 2011, mit Mitte 40, seinen ersten Roman Amerika veröffentlichte, war er als Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters bereits ein renommierter und mehrfach ausgezeichneter Schauspieler. Das Buch war der erste Teil eines autobiografischen Zyklus‘ namens Alle Toten fliegen hoch. Darin geht es um Vergänglichkeit und Verlust, um den Unfalltod eines seiner beiden Brüder, Krankheit und Tod des Vaters, die verstorbenen geliebten Großeltern oder vergangene Liebe.

Schwere Themen leicht präsentiert

Von Anfang an war klar: Hier versuchte sich kein bekannter Schauspieler an der Schriftstellerei, sondern hier schreibt ein talentierter Autor. Meyerhoff ist mit seinen Büchern über seinen familiären Kosmos sehr erfolgreich. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er über schwere Themen leicht und pointensicher zu schreiben vermag. Komik und Tragik liegen nahe beieinander. Als Lesender spürt man die tiefe Zuneigung des Autors zu seinen Figuren, trotz oder vielmehr dank all ihrer Schrullen. Sympathisch ist außerdem, dass Meyerhoff sich und seine Marotten ebenfalls nicht allzu ernst nimmt.

In der Rahmenhandlung seines sechsten Buchs Man kann auch in die Höhe fallen ist Meyerhoff nach den Romanen über seine Vergangenheit in der Gegenwart angekommen. Der Ich-Erzähler flüchtet sich zu seiner quicklebendigen 86-jährigen Mutter aufs Land nach Schleswig-Holstein, nahe der dänischen Grenze. Auch wenn er sich einzureden versucht, seine Mutter brauche Hilfe, ist das einzig Pflegebedürftige dort der riesige Garten – und natürlich er selbst. Mit Mitte 50 wird er wieder zum Kind, liebevoll umsorgt von seiner Mutter, die allerdings ihr eigenen Bedürfnisse keineswegs zurückstellt. Viel zu viel hat sie zu tun, als dass sie sich nur um den Sohn kümmern könnte: Haus und Garten in Schuss halten, im Chor singen, in der Ostsee baden gehen, mit dem Luftdruckgewehr auf lästige Kormorane schießen und in schöner Regelmäßigkeit Whiskey trinken.

Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen © Kiepenheuer & Witsch

Säurebad Berlin

Meyerhoff kommt in einem jämmerlichen Zustand bei seiner Mutter an. Er schläft miserabel, verträgt seine Medikamente nicht, die er wegen eines vergangenen Schlaganfalls nehmen muss, und fühlt sich wie „geschmolzener Käse“, der in jede Sofaritze fließt. Außerdem hat er eine Schreibblockade, sein Umzug von Wien nach Berlin ist ihm nicht bekommen: „Seit Wochen hatte ich nichts geschrieben, und das, obwohl sich die Geschichten in meinem Kopf tummelten. Berlin allerdings entpuppte sich als Säurebad, das tagtäglich meine Inspiration zerfraß … Kein Tag verging in dieser Stadt, da ich nicht angebrüllt, fast überrollt oder zumindest gemaßregelt wurde.“

Die ersten Kapitel sind seiner Mutter gewidmet – er zeichnet sie als zupackende Frau, die Döner und Currywurst liebt und Auto fährt „wie eine gesengte Sau“. Auch ist sie sehr direkt und empfängt sie ihren Sohn mit den Worten: „Wie du aussiehst! Schwarz angezogen und so käseblass. Genauso stelle ich mir den Tod vor, wenn er mich holen kommt. Fehlt nur noch die Sense.“

Ariel steckt im Fahrstuhl fest

Dank Mutterliebe, Gartenarbeiten und dem ruhigen Landleben fängt sich Meyerhoff allmählich und beginnt wieder zu schreiben. Seine Mutter verhilft ihm auch zu einem Thema. „Schreib doch über mich“, sagt sie. Da sie seine Geschichten mag, bekommt sie diese auch als erste zu hören. Mutterliebe macht sie jedoch nicht blind, sie sieht literarisch bei ihrem Sohn durchaus noch Luft nach oben: „Du könntest auch mal versuchen, etwas längere Sätze zu schreiben. So wie Thomas Mann. Oder lies Doderer.“

Im Lauf des Buchs wechseln sich die Mutter-Kapitel mit skurrilen Episoden aus Meyerhoffs Leben, insbesondere aus seinem Theaterleben ab. Es geht um Blackouts auf der Bühne oder um eine Inszenierung, in der er einen sexsüchtigen jungen Priester spielen muss, der sich aus Scham in einem Beichtstuhl zu Tode masturbiert. Ein andermal verkörpert Meyerhoff in Shakespeares Der Sturm den Luftgeist Ariel. Immer wieder muss er eine sechs Meter lange Stange hinabrutschen. Um jedes Mal wieder nach oben zu kommen, nutzt er hinter der Bühne einen Aufzug. Plötzlich bleibt dieser stecken, und Prospero ruft den ihm zu Dienste Stehenden immer verzweifelter. Der im Fahrstuhl feststeckende Meyerhoff alias Ariel drückt verzweifelt den Notruf-Knopf. Die lapidare Auskunft lautet jedoch, dass in einer halben Stunde jemand vorbei käme.

Anekdotischer Stil

Meyerhoffs Stil ist anekdotisch. Wenn es dieses Genre gäbe, könnte man ihn als Meister des Anekdoten-Romans bezeichnen. Seine Anekdoten funktionieren für sich alleine, fügen sich aber auch bestens ineinander. Dass die Anekdote innerhalb den Literaturgattungen höchstens eine Neben-, wenn nicht gar untergeordnete Rolle spielt, thematisiert Meyerhoff in einem Kapitel, nur um sie zu rehabilitieren. Und was er über die Anekdote schreibt, gilt zweifelsohne für all seine Bücher: „Müde und ausgelaugt vom Besteigen literarischer Achttausender kann man sich hier erfrischen und kurz verweilen.“ Meyerhoff kokettiert mit der Rolle und den Klischees des hypersensiblen, selbstbezogenen Künstlermenschen, wie immer witzig und voller Selbstironie. Das Schreiben befreit temporär von der eigenen Existenz. Da dies auch für das Lesen gilt, sind seine Bücher enorm anschlussfähig: Auch wir Nicht-Künstlermenschen können uns darin wiedererkennen.

In seinem Mama-Huldigungsbuch kommt seine Mutter als Super-Mom daher. Selbst als sie bei einer Lesung in einer Buchhandlung für den Sohn spontan einspringen muss, der aufgrund einer Angstattacke fluchtartig den Raum verlässt, reagiert sie cool und wird anschließend für ihre Lesung vom Publikum frenetisch gefeiert. Sie hat am Ende sogar noch etwas hinzuerfunden. Genau so arbeitet Meyerhoff, er geht von Begebenheiten und Erinnerungen aus und schmückt diese aus. Was ist Dichtung, was Wahrheit? Keine Ahnung, so oder so ist sein Roman neuerlich ein Lesevergnügen! Der damit endet, dass sich die Mutter neu verliebt. Da ist es für den Sohn Zeit, nach Berlin zurückzugehen.


 
Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen. Roman (Alle Toten fliegen hoch, Band 6)
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2024. 368 S.
ISBN: 978-3-462-00699-5