Comic-Salon Erlangen 2018
Zeitfenster in die Wirklichkeit
Der Comic-Salon Erlangen 2018 widmete sich der grafischen Reportage. Die Trennlinie in diesem Genre, das kristallisiert sich heraus, verläuft zwischen dem engagierten Journalismus und der ethnografischen Bestandsaufnahme. Zu entdecken waren aber auch Arbeiten von Dorothée de Monfreid, Paolo Bacilieri und Jeff Lemire. Und vor allem aber lehrt der Comic-Salon Respekt für das Gekritzel, für die Skizze und die erste Reinzeichnung.
Von Stefanie Diekmann
Die großen Comic-Festivals finden in kleineren Städten statt. Das gilt jedenfalls für die Festivals von Angoulême, Lucca, Luzern, Erlangen. Und beinahe durchweg zeichnen sich diese europäischen Städte dadurch aus, dass sie über eine Altstadt mit viel historischer Bausubstanz verfügen.
Dass die kleine Form auf dem kleinen Areal am besten aufgehoben ist, erscheint plausibel. Für die Freunde der kleinen Form gilt das erst recht, da die Comic-Community einen Kosmos bewohnt, in dem zwar nicht jeder jeden kennt, aber doch fast jeder so viele der anderen, dass zum Beispiel der Schlossgarten in Erlangen an diesem Samstag im Juni aussieht, als sei er von den Verbänden einiger aussterbender Spezies besetzt worden. Ein paar Besucher in Comic-Kostümen gibt es auch, nicht unbedingt von dieser Welt, aber doch weniger aus der Zeit gefallen als die Veteranen der Neunten Kunst: Sammler, Händler, Künstler, die sich in Hosenträgern und bedruckten T-Shirts zwischen den Rabatten bewegen. (Der Versuch, Comic-Festivals in Metropolen anzusiedeln: Berlin 2002 und 2003, München seit 2007, ist hingegen nie sehr erfolgreich gewesen. Es fehlen der Closed Circuit, der Parcours, die Reproduktion der kleinen Welt unter Bedingungen, in denen sie sich selbst betrachten kann.)
Dass die Comic-Festivals die historische Kulisse suchen, ist interessant insofern, als sich dabei ein Anachronismus herstellt, der für beide Seiten ein Gewinn ist. Die weißen Messezelte vor dem Schlossgarten, die sehr bunten Banner des Comic-Salons vor dem Stutterpalais und dem Stadtmuseum, die zahlreichen Plakate und Aufsteller sind in bestimmtem Sinne die bessere Kunst im öffentlichen Raum. Weil sie nach kurzer Zeit wieder aus dem Stadtbild verschwinden. Und weil sie für die Dauer von ein paar Tagen, ein System von Stationen und Verweisen implementieren, dem ein Moment von Geheimwissen anhaftet. Umgekehrt gilt, dass die historische Kulisse dem Comic etwas hinzufügt, das mit 'Tiefe' oder 'Geschichte' nichts zu tun hat, sondern eine Folie bildet, auf der sich die Konturen der Neunten Kunst noch einmal deutlicher abzeichnen. (Dass der Comic-Salon so weit in die Innenstadt hinein verteilt ist, wird allerdings eine Ausnahme bleiben. Das Kongresszentrum, Schauplatz des Festivals von 1984 bis 2016, ist wegen einer Renovierung nicht nutzbar und steht erst in zwei Jahren wieder zur Verfügung.)
Der Comic-Salon ist heterogen. Und weniger als die meisten Festivals hängt er der Fiktion des thematischen Schwerpunkts an. Es gibt eine zentrale Ausstellung, diesmal zum Thema Comic-Reportagen, und es gibt die anderen, retrospektiv, monografisch, idiosynkratisch ausgerichtet. Manchmal geht es um eine Reihe, wie "Die Unheimlichen", demnächst fünf Bände, die bei Carlsen von Isabel Kreitz herausgegeben und von ihr und anderen Comic-Künstlern als Adaption von Geistergeschichten umgesetzt worden sind. Mit High/Low hat das schon deshalb nichts zu tun, weil die Geistergeschichte zu keinem Zeitpunkt im Verdacht der Hochkunst gestanden hat. Und die schönen Bearbeitungen von "Der Fremde" (Elfriede Jelinek/Nicolas Mahler), "Berenice" (Edgar A. Poe/ Lukas Jüliger), "Das Wassergespenst von Harrowby Hall" (John K. Bangs/Barbara Yelin) etc. lassen erkennen, dass das Unheimliche hier als das behandelt wird, was es sein sollte: ein Projekt für Liebhaber, denen an der sorgfältigen Ausgestaltung gelegen ist.
Einzelne Entdeckungen: Im Kunstverein Erlangen die gut gelaunten und sehr soziablen Vierbeiner, die Dorothée de Monfreid vor allem für Kinderbücher gezeichnet hat. (Das Krokodil bleibt beleidigt, aber da kann man nichts machen.) In der Halle A: die
anmutigen Comics, Postkarten, Drucke und Leporellos von Rotopol, deren Fauna auf jeden Fall mit der von Monfreid verwandt ist. In einem Nebenraum des Redoutensaals die verwirrende Vielfalt des kanadischen Comics (auch Toronto hat ein Comic Arts Festival). Und im Saal selbst die sehr dunkle, sehr reiche Welt des Jeff Lemire, der in seinem Werk mehrere Genres durchquert und mit dem stockfinsteren "Sweet Tooth" (Vertigo, 2010 bis 2013) ein vorläufiges Resümee seiner Aufarbeitung von Canadiana vorgelegt hat. In der Halle C: ein sehr junger Künstler, dessen Zeichnungen und Drucke eine Hommage an den 2017 verstorbenen Jiro Taniguchi sind. Und am Stand des avant-verlags der rätselhafte, berückende Comic "Fun" von Paolo Bacilieri, der gerade erst ins Deutsche übersetzt worden ist.
Mit dem Ende des Comic-Salons zerstreuen sich die Entdeckungen in alle Richtungen. Allein die zentrale Ausstellung, "Zeich(n)en der Zeit: Comic-Reporter unterwegs" dauert den ganzen Sommer (27. Mai bis 26. August 2018) und steht sowohl für den Klassenausflug als auch für das kuratierte Ferienprogramm zu Verfügung. Als Vertreter des Comic-Journalismus figurieren hier, wie überall, Joe Sacco und Guy Delisle. Aber auch: Olivier Kugler, Bo Soremsky, Patrick Chappatte, und ebenso: Sarah Glidden, Viktoria Lomasko, Ulli Lust, deren "Minireportagen" aus dem Berliner Alltag Zeitfenster in eine Wirklichkeit sind, die zehn Jahre später bereits im Verschwinden begriffen ist. (Ein Favorit: die Miniaturen aus dem Einkaufszentrum Gesundbrunnen in Berlin-Wedding: Rolltreppen und Schaufenster, Drehtüren und Sonderangebote, dazwischen die erschöpften Kunden sowie ein paar Figuren, die sich auf Dauer zwischen den Topfpflanzen und Imbissecken eingerichtet haben.)
Die Herren Sacco und Delisle sind bekannter. Und in der Wahl ihrer Locations deutlich anders orientiert. Für die Materialität des Alltags interessieren sie sich durchaus. Aller-dings handelt es sich dabei, nach guter bildjournalistischer Tradition, um den Alltag in ziemlich fernen Ländern (Delisle) oder in Krisengebieten (Sacco), der kartiert und kommentiert, über einen längeren Zeitraum hinweg erkundet und mit mehr (Delisle) oder weniger Distanz (Sacco) geschildert wird. Wollte man eine Trennlinie in diese "Reporter"-Ausstellung einziehen, so verliefe sie nicht zwischen Zeichnern und Zeichnerinnen oder zwischen dem fremden und dem allzu nahen Schauplatz. Was sich vielmehr von "Palästina" (Joe Sacco, ab 1993) bis "Ilakaka" (Bo Soremsky, 2013) konturiert, ist die Differenz zwischen einem engagierten Journalismus, der auch die Form der Parteinahme und der Intervention annehmen kann, und einer ethnografisch geprägten Bestandsaufnahme, die neben der vie materielle vor allem die Position der Beobachter thematisiert.
Beobachten: Der Kanadier Delisle hat damit in den 1990er Jahren begonnen, als er in Animationsstudios in China ("
Shenzhen") und Nordkorea ("Pjöngjang") tätig war. Die Comics, die sich mit diesen Szenarien befassen, dokumentieren weniger den Alltag vor Ort als den Alltag eines Besuchers auf Zeit, der sich für das interessiert, was er nicht kennt, und gerne zeichnet, was er nicht versteht: eine Perspektive, die sich in "Aufzeichnungen aus Birma" und "Aufzeichnungen aus Jerusalem" fortsetzt und längst zum Markenzeichen Delisles geworden ist. Die introspektiv-autobiografischen Arbeiten gibt es natürlich auch, etwa den sehr komischen "Guide du mauvais père", der seit 2013 in loser Folge bei Dargaud erschienen ist. Und ein Ausnahmebuch: "S'enfuir. Récit d'un otage" ("Geisel"), das nach Erzählungen eines Mitarbeiters der Médecins Sans Frontiers (MSF) von einer Geiselnahme in Tschetschenien und 111 Tagen in Gefangenschaft erzählt.
Nicht genau wissen, was gerade passiert. Oder worin der Konflikt besteht. Oder wie man sich am besten dazu verhalten sollte. Bei Delisle gehört diese Haltung zum Standard, weshalb er im akademischen Umfeld ein ziemlich gutes Standing hat und den Arbeiten von Glidden, Kugler, Soremsky näher steht als Joe Sacco, dem den Ruf als empörter Berichterstatter nicht ganz los wird. Sarah Glidden, bekannt geworden mit "Israel verstehen - In 60 Tagen oder weniger" über eine konfliktbehaftete Studienreise, hat 2016 ein Team von Reportern auf dem Weg durch die Türkei, Syrien und den Irak begleitet und darüber den Comic "Im Schatten des Krieges" verfasst. Olivier Kugler zeichnet für MSF, aber auch für die Süddeutsche Zeitung, The Guardian und The New Yorker, wie Glidden gerne aus der Position eines Beobachters zweiter Ordnung, der sich im Schlepptau der versierten Reisenden bewegt. Bo Soremskys Arbeit "Ilakaka" ist als Teil einer crossmedialen Reportage für arte entstanden. Wie Patrick Chappattes Serie "The Last Phone Call" für die Website der New York Times setzt sie den Reporter-Zeichner ins Bild, ohne zu viel Aufhebens um ihn zu machen.
Dass die Reportagen längst crossmedial sind (Websites, Filme, Comics, Kooperationen mit Zeitungen und mit Sendern) dokumentiert die Ausstellung und ist zugleich bemüht, das, was sie zeigt, nicht nur als Medienprodukt, sondern in Arbeitsschritten abzubilden. Der Respekt für das Gekritzel, die Skizze, die erste Reinzeichnung gehört zu den Aspekten, die Comic-Ausstellungen fast immer sympathisch erscheinen lassen. Viel Sinn für das Work-in-Progress und immerhin ein paar Wände für die Zwischenergebnisse, von denen auch hier mehr zu sehen sein könnten. Jedoch vermittelt "Zeich(n)en der Zeit" immer noch genug von der Durée, die den Comic-Journalismus als Kooperation, Projekt, Reise, Handwerk bestimmt, und die, mehr als Fragen der Recherche oder der Abbildlichkeit, seinen wachsenden Erfolg bestimmt.
Die Auszeichnungen? Sie sind in Erlangen weniger bedeutsam als in Angoulême. Aber Ulli Lusts "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein" (Bester deutschsprachiger Comic) ist nicht weniger interessant als Lusts Debüt über eine desaströse Italien-Reise. "Esthers Tagebücher" (Bester internationaler Comic), noch bis zum 18. Geburtstag der Titelheldin fortgesetzt, sind ein schönes Experiment in Langzeitbeobachtung. Und Reinhard Kleist, der in Erlangen schon etliche Preise erhalten hat, ist seit Freitagabend der beste deutschsprachige Comic-Künstler. Wer seine zwei Bände über Nick Cave gelesen hat, ist auf jeden Fall zum Berliner Konzert am 14. Juli gegangen.
Dieser Text ist ursprünglich am 7. Juni 2018 im Kulturblog Der Perlentaucher erschienen.