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Baltimore
Wyman Park

Baltimore Wyman Park
© Michael Tager

Der Herbst in Baltimore ist wirklich zauberhaft. In dieser Jahreszeit unternehme ich besonders gerne kleine Wanderungen durch die überall durch die Stadt verzweigten Parks. Der Winter kann hier sehr streng und beißend kalt sein, der Sommer ist meist schwül und drückend heiß, aber Herbst und Frühling sind immer sehr mild. Bei diesen angenehmen Temperaturen kann man perfekt die postindustrielle und derzeit neu aufblühende Stadt Baltimore erkunden.


Baltimore besteht aus vielen Stadtteilen. Ich nehme meist einen Weg, der durch ein halbes Dutzend Stadtbezirke führt und im wunderschönen Wyman Park endet. Das Blätterwerk ist noch dicht, und das an den Straßenrändern liegende Laub bildet einen farbenfrohen Teppich. Die Luft ist schön frisch, und unter einer leichten Jacke gerät man sogar leicht ins Schwitzen, aber nur so viel, dass man spürt, dass man am Leben ist.

Man sieht hier auch viele Tiere, hauptsächlich braune Eichhörnchen, aber ab und an bekommt man auch mal Rehe oder einen Fuchs zu Gesicht. Es laufen auch immer wieder Hunde mit ihren Besitzern vorbei, und die Geräuschkulisse wechselt zwischen Rascheln im Unterholz und schnaufenden Joggern. Meistens bin ich auf meinen Touren auf dem Stony Run Trail durch den Wyman Park ganz alleine, und zwar mit meinen Gedanken und meiner Kamera. Und das ist auch gut so.

Stony Run und Wyman Park verlaufen direkt durch die Stadt und schlängeln sich an hinter Häusern liegenden Gärten, Siedlungen, Universitäten, schmalen Durchgängen, Museen und an vielen weiteren Orten vorbei, die eine pulsierende Stadt ausmachen. Das Gebiet kreuzt Straßen, tänzelt anscheinend beliebig an verschiedenen Orten vorbei und ist quasi ein Abbild des Lebens in Baltimore. Die Trasse setzt sich aus verschiedenen Gebieten diverser Stadtteile zusammen, dazu gehören etwa Charles Village, Roland Park, Hampden, Remington, Guilford sowie ein kleiner Teil von Druid Hill. Die Vegetation hier ist äußerst üppig. Obwohl ich kein Gartenexperte bin, kann ich viele Bäume benennen: Kiefern und Eichen, Zedern und Immergrün … manchmal sieht man auch vereinzelt Bambus oder einzeln verstreute Trauerweiden. Im Sommer blühen hier überall Wildblumen (die sich derzeit noch vor dem kommenden Winter ausruhen), Efeu rankt sich um die Baumstämme und bedeckt die Steine im Fluss.
 

Der Park ist eben ein Stück Baltimore und verkörpert somit sowohl die Vorzüge der Stadt als auch ihre bewegte Geschichte.

Der Park ist eben ein Stück Baltimore und verkörpert somit sowohl die Vorzüge der Stadt als auch ihre bewegte Geschichte. Baltimore ist gleichzeitig wunderschön, künstlerisch und abgeschieden. Die Stadt ist einerseits verarmt, andererseits sind gerade viele neue Bauprojekte im Gang. Edgar Allen Poe wurde hier geboren, Tupac Shakur ging hier zur Highschool. Kurz, es ist schon ein merkwürdiges Fleckchen Erde.

Der Stony Run Trail beginnt (bzw. endet, je nach Sichtweise) im Norden Baltimores im Stadtteil Roland Park. Dieser Vorort steht für Geldadel, Privatschulen und millionenschwere Eigenheime. Dieser Teil des Weges führt regelrecht durch die Gartenausläufer der riesigen Grundstücke. Hier ist der Weg definitiv am einsamsten: Außer einer Frau, die ich bei meinem Wegantritt begrüße, und einem Mann, der sein Handy verflucht, begegne ich auf der ganzen Strecke keiner Menschenseele.

Auf dem laubbedeckten Boden höre ich vor allem nur meine Schritte und meinen Atem. Ich bereue schon, dass ich eine Jacke angezogen habe, denn ich beginne bereits darunter zu schwitzen. Nachdem ich aber den Großteil des Tages wie immer im Haus vor dem Rechner verbracht habe (wer dieses Schicksal teilt, weiß genau, was ich meine), tut es extrem gut, einfach mal rauszukommen und die frische Luft auf den Wangen zu spüren. Es ist ein strahlender Tag, und die Sonne scheint. Schatten bewegen sich über dem Boden hin und her. Ich bereue fast, dass ich diese Momente nicht ganz auskosten kann und stattdessen Fotos mache.

Der Stony Run endet an den Tennisplätzen der Friends School, die Quäkern gehört bzw. von diesen geführt wird. Die Schüler müssen allerdings nicht zwingend dieser Religion angehören. Die Quäker sind ein wichtiger Teil des liberalen Baltimores bzw. des liberalen Amerikas. Quäker bezeichnen sich gegenseitig als „Freunde“. Diese Gesinnung kann ich nur befürworten. Ich begrüße auch jeden, den ich unterwegs treffe, mit „Freund“, obwohl niemand diese Anrede erwidert.

Die Quäker waren zu Beginn radikale Christen, selbst der Lehre von noch so gemäßigten Protestanten standen sie kritisch gegenüber. Man muss ihnen jedoch zugute halten, dass sie zu den ersten weißen Gegnern der Sklaverei gehörten und sich sehr für das U-Bahn-Netz engagiert haben. Es macht mich immer glücklich, dass mein Lieblingsweg ausgerechnet an einer ihrer Schulen seinen Anfang nimmt.

Die Quäker

Die Quäker waren zwar Gegner der Sklaverei, zählten in jener Zeit jedoch nicht zur Mehrheit der weißen Amerikaner. Es ist arguable, ob die Mehrheit der Weißen überhaupt für soziale Gerechtigkeit gekämpft hat. Wir haben in den Vereinigten Staaten nicht viel für die Gleichberechtigung getan. Während der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre sprach sich die Mehrheit der weißen Amerikaner gegen deren Ziele aus, wie Martin Luther King Jr. in seinem berühmten Letter From Birmingham Jail schrieb. Sogar heute noch sind viele Amerikaner gegen die Bewegung Black Lives Matter („Schwarze Leben zählen”), eine Gruppe, deren zentrale Forderung lautet „Bitte erschießt uns nicht“.

Und das ist ganz schön beunruhigend.

Dieses Thema scheint auf den ersten Blick vielleicht nicht in einen Artikel über Parks zu passen. Doch wenn man über Baltimore spricht, darf man den momentanen Stand der Dinge nicht außen vor lassen: All diese Bewegungen, die politische Stimmung und das Misstrauen, das sich derzeit durch die gesamten USA frisst. Selbst die kleinen Dinge spiegeln doch die großen Themen unserer Zeit wider, und auch Baltimore ist ein Beispiel für eine solche Brutstätte, in der sich gerade viele beunruhigende Dinge zusammenbrauen.

Wenn man auf dem Stony Run unterwegs ist, kann man leicht vergessen, dass um einen herum die Großstadt liegt. Rund 600.000 Menschen leben in Baltimore, in der Innenstadt noch weitere 400.000. Von all diesen Menschen ist jedoch auf der Wegstrecke keine Spur. Es ist vollkommen still hier, abgesehen vom Plätschern des Flusses (der nie breiter als fünf Meter ist), dem Zwitschern der Vögel, dem gelegentlichen Piepen der Eichhörnchen und dem Geraschel im Unterholz. Wer ganz genau hinhört, kann in der Ferne die Geräusche der Stadt wahrnehmen, aber nur als leises Brummen, das sich gut ausblenden lässt.

Der Stony Run verläuft bei nur geringer Steigung durch Wiesen und Lichtungen. Ab und an geht es etwas hoch oder herunter, aber das ist kaum merklich, wenn man denn auf dem Weg bleibt. Wer jedoch von der angelegten Stecke abkommt, muss auf alles gefasst sein. So ist das nun mal in einem Park. Die Wege sind eben so schwierig, wie man sie sich macht. Im Roland Park ist der Stony Run allerdings ziemlich reizlos.

Nach einem Kilometer endet der Stony Run an einer Hauptstraße, und man ist sehr überrascht, plötzlich wieder mitten in der Stadt zu sein. Wer genau hinschaut, sieht schon vorher durch die Baumkronen ein hohes Gebäude, das man jedoch auch leicht übersehen kann: Das Wohnheim für Studierende des Loyola College, einer kleinen, aber durchaus angesehenen Hochschule.

Es ist immer wieder gewöhnungsbedürftig, von der Stille der Natur jäh in die lärmende Stadt zurückzukehren. Die Straße, die die Trasse schneidet (Coldspring Lane), ist auch noch eine sehr belebte Ost-West-Verbindung, die den Verkehr des Highway 83 direkt mitten in die Stadt befördert. Neben Loyola sind auf dieser Straße noch zwei andere Colleges: Notre Dame und Morgan State University, eins der ersten „historischen afroamerikanische Colleges und Hochschulen“ (HBCU –Historically Black College And University) der Stadt. Wo der Trail den Coldspring Lane überquert, wird er bald dünner und gepflegter, was Familien mit Kindern sehr zu schätzen wissen. Es gibt hier noch mehr Bänke, Sportplätze und Leihbibliotheken, und es herrscht allgemein ein Gefühl der Sicherheit, das den Menschen hier besonders wichtig ist: In vielen amerikanischen Städten haben Parks nach Einbruch der Dunkelheit etwas Bedrohliches an sich, und in vielen Fällen sind sie auch de facto kein sicherer Ort. Aber in diesem Teil von Baltimore bin ich nach Einbruch der Dunkelheit die wohl größte Gefahr. Und das fühlt sich komisch an, denn von mir muss wirklich niemand etwas befürchten.

Aber es ist ja auch nicht dunkel. Es ist helllichter Tag, und niemand scheint sich auch nur im Geringsten unwohl oder besorgt zu fühlen. Wozu auch?

Ein Stückchen weiter verlasse ich den Roland Park hinter Coldspring und Loyola, und mein Weg führt mich nach Guilford, einen der reichsten Stadtteile in Baltimore. John Waters, der Regisseur von leicht überdrehten Filmen wie Pink Flamingos, Pecker, Crybaby und natürlich Hairspray wohnt nur ein paar Blocks entfernt. Hairspray spielt im Baltimore der 1960er Jahre und handelt von der Aufhebung der Rassentrennung in einer lokalen TV-Tanzshow. Ein verrückter und kitschiger, aber auch ein wunderbarer Film. John Waters nimmt sich normalerweise nicht solcher Themen an, auch nicht ironisierend. Es ist schon bezeichnend, dass dies die einzige Ausnahme ist und dass er Filme über die Arbeiterklasse macht, aber in Guilford lebt.

Ich möchte dennoch nicht über ihn urteilen.

Je weiter ich gehe, desto mehr schwinden die Bäume, und der Weg fügt sich ins Stadtleben ein. Ich bin immer noch in Guilford. Statt Erde habe ich jetzt Pflastersteine unter den Füßen, und an einer Stelle wird man sogar auf den Gehweg gezwungen. Das ist tatsächlich recht angenehm und eine willkommene Abwechslung zu den versteckten Wurzeln auf dem Wanderweg. Obwohl der Trail eigentlich nichts für echte Wanderer ist, trage ich Sneaker, was allerdings keine gute Idee ist.

Die Wegführung durch die Straßen ist jedoch nur kurz, in der Nähe liegen bereits die Parks von Baltimore. Nur ein paar Minuten entfernt von hier beginnt der Wyman Park, eine echte Grünanlage, wo Familien und Paare picknicken und sportliche Menschen Fußball, American Football, Lacrosse, Softball oder Baseball spielen, Hunde hintereinander herjagen … Kurz, ein Bummel durch den Park ist immer ein Vergnügen.

Vor ein paar Jahren endete der Park noch abrupt an einem eingezäunten Parkplatz. Spaziergänger mussten erst eine Straße hochlaufen und unten wieder über eine Brücke gehen, um auf die andere Seite zu kommen. Inzwischen hat man hier eine Zugangsbrücke gebaut. Das ist natürlich eine gute Sache, allerdings bin ich auch ein wenig enttäuscht, dass ich diesmal nicht über Steine klettern und über Zäune springen muss wie beim letzten Mal.

Der eigentliche Wyman Park liegt in einem Tal, und die Baumkronen ragen hoch hinauf, die Gebäude sind noch höher. Er ist so weitläufig, dass ich ihn noch nie als überfüllt empfunden habe. Normalerweise sind hier aber immer recht viele Besucher, und ich finde es immer wieder erstaunlich, wie ruhig und einsam es hier trotzdem ist. Ein einzelner Mann kommt mir mit seinem Hund entgegen, und beide grüßen mich im Vorbeigehen, ohne mir jedoch große Aufmerksamkeit zu schenken. Ich marschiere weiter, nehme mir Zeit und atme den Grasgeruch ein. Über den Baumwipfeln ragt die Johns Hopkins University (JHU) hervor, dahinter liegt der Stadtteil Charles Village. Obwohl beides in Sichtweite ist, nehme ich diese Orte nur ganz entfernt und von mir getrennt wahr.

Ich gehe weiter in den Wyman Park hinein, werde aber alsbald von einer Baustelle und einem Schild mit dem Hinweis „Weg gesperrt“ von meinem Erkundungsvorhaben gestoppt. Offenbar braucht auch die Natur von Zeit zu Zeit ein paar Schönheitskorrekturen.

Unbeeindruckt verlasse ich also den Trail, springe über den Fluss und klettere den steilen Hang mit seinem matschigen Wasser entlang, der den Wyman Park von der JHU trennt. Der Hügel ist gerade steil genug, dass man, oben angekommen, erst einmal Luft holen muss. Ich atme also tief ein und wische mir den Schweiß von der Stirn. Meine Finger sind kalt, der Rest meines Körpers ist heiß. Ab und an blendet die Sonne.

Unterwegs finde ich eine Bank und ein Lagerfeuer. Letztere sind in Stadtparks streng verboten, aber ich denke mal, dass niemand eine Studierende der Hopkins University verhaften wird. Zur weltbekannten JHU gehen schließlich nur die Besten. „Die Welt hat Musik für diejenigen, die zuhören” ist auf eine Bank gesprüht. Das finde ich auch und mache mich wieder auf den Weg.

Dieser Umweg macht mir gar nichts aus. Johns Hopkins ist fast schon eine Weiterführung des Weges. Der gemauerte und schattenspendende Campus ist wirklich schön. Wer hier durchspaziert, denkt sich: So muss sich das College-Leben anfühlen. Überall kultivierte, wissbegierige Menschen, die bald Ärzte, Rechtsanwälte und Pädagogen sein werden.

Die Stadtteile Charles Village und Remington, die um die Johns Hopkins University herum liegen, haben eine hohe Kulturvielfalt zu bieten. Die JHU zieht Bewerber aus aller Welt an, und viele von ihnen lassen sich hier nieder. Zwischen diesen beiden Stadtteilen und auch weiter südlich in Mount Vernon gibt es unzählige Restaurants, die Essen aus aller Welt anbieten. Hier zeigt sich die Stadt in vielerlei Hinsicht von ihrer schönsten Seite.

Der Campus von Johns Hopkins zeigt eine wahre Vorzeige-Uni: Die Backsteinwege und die aufragenden Bäume geben ein äußerst idyllisches Bild ab.
 

Fun Fact am Rande: Viele in Harvard spielende Filme wurden in Wirklichkeit auf dem JHU Campus gedreht, allen voran David Finchers The Social Network.

Fakt ist leider aber auch: Die Johns Hopkins hat ihre ganz eigene Geschichte in Baltimore bzw. im ganzen Staat. Sie ist der größte Arbeitgeber in Maryland und unterhält im Stadtbereich von Baltimore zwei Krankenhäuser und unzählige Labors und Satelliten. Die Menschen hier begegnen der Johns Hopkins University allerdings mit Misstrauen, und das aus gutem Grund: Viele Mitarbeiter sind hier lange Zeit schlecht behandelt worden, vor allem solche mit afroamerikanischem Hintergrund. Die berühmteste negative Schlagzeile ist wohl der Fall von Henrietta Lacks, der man in 1941 ohne deren Zustimmung bzw. ohne jegliche Gegenleistung eine Zelle aus einem Tumor entnahm, die fortan als HeLa-Zelle bekannt wurde. Erst in den 70er Jahren wurde die Herkunft dieser Zellen (die heute noch genutzt werden) bekannt.

Die Sache ist sehr heikel, und obwohl Johns Hopkins schon tolle Arbeit geleistet hat, steht man hier immer noch in der Verantwortung. Die Universität ist ein Epizentrum von Geld und Macht. Das Schulgeld an der Hopkins University, die Studierende aus aller Welt anzieht, kostet Zehntausende von Dollar im Jahr. So ist es natürlich kein Wunder, dass der Campus so idyllisch ist, denn mit diesem Geld ist es ein Leichtes, das Uni-Gelände in Schuss zu halten.

Natürlich ist es vorbildlich, dass so viele Bewohner der Stadt hier angestellt sind. Aber ich frage mich, ob man nicht noch mehr tun könnte. Man hat vieles in Baltimore aufgekauft, gleichzeitig stehen hier viele Häuser als Folge der Massenabwanderung in die Vororte leer und sind mit Brettern zugenagelt. Früher hatte Baltimore im Innenstadtbereich noch eine Million Einwohner.

Gleich neben der JHU ist das Baltimore Museum Of Art, das neben einem Rodin und einer ansehnlichen Sammlung moderner Kunst auch einen schönen Skulpturengarten sein Eigen nennt, der sich direkt in den Wyman Park Dell erstreckt, einen versteckten Mini-Park, den viele Einwohner Baltimores sicher nicht einmal kennen. Dieser liegt in einem weiteren Tal und ist vom eigentlichen Wyman Park aus nicht zu erreichen, ohne dass man die Stadt durchquert. Er ist allerdings auch leicht zu verfehlen. Wer ihn einmal gefunden hat, weiß, dass er in diesem Fall einiges verpasst hätte. Auf der weitläufigen Grünfläche spielen Studierende oft Fußball oder Frisbee. Zahlreiche Bänke laden zum Verweilen ein, Hunde sind ausgesprochen willkommen, und im Winter legt sich ein weißer Teppich über den Park.

Auch hier treffe ich nur auf eine Handvoll Menschen. Einem Mann mit einem weißen Bart, der auf einer der Bänke um die Freifläche herum sitzt, nicke ich freundlich zu. Daraufhin zückt er seine Ukulele, die er in der Hand hält, und spielt darauf. Er sieht ein wenig aus wie ein Hippie-Weihnachtsmann … allerdings nur bis zu dem Moment, an dem er den Mund aufmacht und mich fragt, ob ich Marihuana kaufen will. Als ich ihm antworte, dass er damit 15 Jahre zu spät kommt, lächelt er, nickt und wendet sich wieder der Sonne zu.

Weiter geht es durchs Tal und ein paar Treppen hinauf, bis ich in einem Niemandsland bin, das weder zum Baltimore Museum Of Art und auch ganz bestimmt nicht zur Johns Hopkins University gehört. Ich befinde mich am letzten Zipfel von Remington bzw. im äußersten Randbezirk von Charles Village. Es hat einen Grund, warum ich bis zu diesem sehr bewaldeten Gebiet gelaufen bin. Ich möchte wissen, was mit den Denkmälern der Konföderierten passiert ist, die hier entfernt wurden.

Vor kurzem demonstrieren in Virginia Neo-Nazis und Anhänger des Ku-Klux-Klan. Wer dachte, dass es diese längst nicht mehr gibt, liegt falsch. Der unterschwellige Rassismus in den USA dringt mehr und mehr an die Oberfläche, vor allem, seit unser „Präsident“ an der Macht ist. Nach den Demonstrationen und den darauffolgenden Tumulten und Handgreiflichkeiten wurde heftig über die Denkmäler der Generäle der Südstaaten diskutiert.

Der Bürgerkrieg in den USA ist noch gar nicht so lange her, wenn man es recht bedenkt: Was sind schon 150 Jahre, wenn man die gesamte Geschichte unseres Landes bzw. der westlichen Zivilisation betrachtet? Kein vernünftiger Mensch will seine eigene Geschichte vergessen, und darum halten wir diese auch lebendig, zum Beispiel in Museen. Während der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre gab es jedoch Leute, die unbedingt Statuen zu Ehren der Konföderierten aufstellen wollten, jener Seite also, die die Sklaverei befürwortete. Wie irgendjemand solche Denkmäler verehren kann, ist mir ein absolutes Rätsel. Die Sklaverei sollte weder verleugnet noch versteckt werden, aber ehren sollte man sie auf keinen Fall.

Die Statue, die bis vor kurzem noch nahe des Wyman Park stand, wurde vor ein paar Monaten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgerissen. In Baltimore ist die Mehrheit der Bewohner schwarz. Die Stadt war eine der Keimzellen des Sklavenhandels. Sie hat sich während des Bürgerkriegs nicht davon losgesagt, hätte dies aber vielleicht getan, wenn keine Truppen der Union in Maryland stationiert gewesen wären. Baltimore ist streng genommen eine Stadt der Südstaaten, denn sie liegt unterhalb der Mason Dixon Line, die Nord und Süd trennt. Flaggen der Konföderierten, die während des Bürgerkriegs in Virginia die offizielle Schlachtfahne war, sind hier kein seltener Anblick.

Unsere Geschichte ist schon sehr merkwürdig. Selbst in unseren Parks stehen noch solche Statuen. So befindet sich unweit vom Wyman Park der Lake Roland, der früher Robert E Lee Park hieß. Heute nennt ihn niemand mehr so, aber ich kann mich noch gut erinnern, dass dies einmal der Fall war.

Von dort, wo bis vor kurzem noch die besagte Statue stand, ist es durch die Hopkins Uni und den Stadtteil Hampden nur ein kurzes Stück, bis man wieder im eigentlichen Wyman Park ist. Diesmal warten keine Schilder mit der Aufschrift „Weg gesperrt“ auf mich, und ich kann wieder schön durch den Wald laufen. Manchmal frage ich mich, warum ich nicht auf dem Land oder zumindest etwas weiter am Rande der Stadt wohne, da ich so gerne draußen bin. In solchen Momenten denke ich, dass ich hier vielleicht die falsche Entscheidung getroffen habe.

Doch dann fallen mir wieder die vielen Vorteile ein. Neben den Annehmlichkeiten des modernen Lebens gibt es in Baltimore ein riesiges Kulturangebot. Südlich vom Wyman Park findet man das Maryland Institute College Of Art, die University Of Baltimore, die Coppin State University und das Peabody Institute, die allesamt viele Kunststudenten nach Baltimore bringen. Überall in der Stadt gibt es Avantgarde-Theater, und es tummeln sich hier Schriftsteller, Maler und Musiker, vor allem aus der Metal- und Rap-Szene. Wer Kunst liebt, muss eben auf andere Privilegien wie Ruhe, Dunkelheit oder den Geruch von Blumen in der Nase verzichten.

Wyman Park ist ein toller Park und der Stony Run Trail ist wunderschön, obwohl beides natürlich kein Ersatz für echte Wildnis ist. Ich will mich jedoch nicht beschweren; für meine Zwecke ist dieses Fleckchen Erde völlig ausreichend.

Weiter im Süden endet der Wyman Park schließlich. Wenn man jedoch durch ein paar weitere Blocks im Westen streift und auf dem immer schmaler werdenden Pfad bleibt, erreicht man seinen noch größeren und berühmteren Nachbarn, den Druid Hill Park. Über diesen Park mit seinen sich windenden Wegen, den riesigen Eichen, einem See und dem Baltimore Zoo könnte ich einen eigenen Artikel schreiben. Aber an dieser Stelle bleibt nur wenig Raum für dessen unzählige Vorzüge. Es sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Druid Hill eine lange Geschichte hat, in der auch Rassentrennung und -diskriminierung eine Rolle spielen. Sogar auf den Tennisplätzen wurden die Spieler hier nach Rassen eingeteilt. Im Park selbst herrscht keine solche Trennung, aber es ist ein Beispiel für die Zustände in der Stadt insgesamt. Obwohl es offiziell keine Rassentrennung gibt, ist die Stadt dennoch geteilt.

Der Druid Hill Park liegt im “Black Butterfly” von Baltimore, sprich, der Ost- und West-Seite, deren Umrisse an einen Schmetterling erinnern. In diesem „schwarzen Schmetterling“ befindet sich auch das White L („Weißes L”), ein dünner von Nord nach Süd verlaufender Streifen, der oben auch den Ostteil der Stadt streift. Druid Hill zieht auch eine Grenze der tatsächlichen Rassentrennung. Im Park merkt man davon nichts, aber in den Stadtteilen sieht es anders aus.

Doch der Druid Hill Park ist auch schon zu erfreulicher Berühmtheit gelangt: Die in den 90er Jahren sehr erfolgreiche Band Dru Hill hat sich nach diesem benannt. Aus der Feder des Leadsängers Sisqo stammt auch die Hit-Single „The Thong Song”. Ob das Ganze jetzt künstlerisch wertvoll ist, sei dahingestellt, es ist auf jeden Fall ein ziemlicher Ohrwurm.

Alsbald stehe ich schon wieder vor einem „Weg gesperrt”-Schild und klettere erneut einen Abhang zur Straße herunter, wo mich ein Mann ziemlich verwundert anschaut, als ich plötzlich aus dem Unterholz auftauche. Die Menschen in der Stadt sind es einfach nicht gewohnt, dass jemand den Park tatsächlich nutzt, schon gar nicht an einem Wochentag. Und ich staune erneut über den harten Kontrast von Bäumen und Beton, obwohl die Straße eigentlich ganz charmant ist.

Ich laufe bis zum oberen Wyman Park, wo sich ein Spielplatz, ein Softballfeld und grüne Picknickwiesen befinden. Hier stehen auch mächtige Bäume, die geradezu dafür gemacht sind, sich darunterzulegen und zu dösen. An der Parkgrenze ragen die für Baltimore typischen großen Wohnhäuser aus rotem Backstein auf.                                  

Dann begebe ich mich wieder tiefer in den Park und befinde mich erneut auf meinem ursprünglichen Weg. Der Hauptbereich ist diesmal leer, ich sehe hier weder Hundebesitzer noch Jogger. Ich gehe jetzt ganz gemächlich und erfreue mich erneut an dem Blattwerk und der Skyline. Ein wenig müde bin ich schon, schließlich habe ich über sechs Kilometer hinter mir. Ich trete den Rückweg an und nehme denselben Weg, den ich gekommen bin.

Außer zwei leeren Bierdosen am Flussufer ist es hier sehr sauber. Ich begegne ein paar Hunden und ihren Besitzern und ein paar Vogelkundlern, die Flugtiere identifizieren, die ich niemals erkennen würde. Sie haben sicher Ahnung von dem, was sie machen, aber ich eile trotzdem weiter. Unter einer Brücke sehe ich ein kunstvolles Graffiti. Auch ein Bambusbaum fällt mir ins Auge, und ich frage mich, wie in aller Welt dieser so weit von seinem Ursprungsland hierhergelangen konnte.

Ich lasse den Wyman Park hinter mir und bin nun wieder auf dem Stony Run, der an zahlreichen Villengärten vorbeiführt. Diese riesigen herrschaftlichen Häuser wurden um die Jahrhundertwende gebaut. Manche sind von einer ganz um das Haus herumlaufenden Veranda gesäumt und haben sogar eigene Bereiche für die Dienstboten. Einige sind rund 4.000 Quadratmeter groß, was in einer Stadt dieser Größe wirklich etwas Besonderes ist. Was für ein Gefühl das sein muss, quasi seinen eigenen Waldspielplatz zu haben!

Am Ende meines fast acht Kilometer langen Ausflugs komme ich an einer wunderschönen dicken Mauer mit einer verriegelten Tür vorbei. Sie erstreckt sich über mindestens 50, vielleicht sogar 100 Meter, und ich frage mich, was wohl so wertvoll ist, dass man es vor der Welt abschirmt? Diese Leute wohnen inmitten anderer reicher Leute und trotzdem glauben sie, ein Stück Natur abschließen zu müssen. Was denken sie eigentlich, wer dort einbrechen würde?

Ich liebe Stony Run und den Wyman Park. Ich liebe Baltimore. Man kann hier so wunderbar durch die Stadtteile streifen, die fast wie Townships wirken – fest eingegrenzte Bereiche, in denen offenbar nur Gleichgesinnte wohnen. Es gibt hier und in ganz Maryland so viele schöne Orte. Im Westen haben wir Berge, im Osten das Meer. Und der Süden ist die Pforte zu den Südstaaten.

Die Laubwälder, die fast ganz Baltimore bedeckten, sind im Zuge der Stadtentwicklung weitgehend verschwunden. Aber über den Autobahnen und an vielen Straßenrändern prangen noch Hunderte von Jahren alte Bäume mit dicken Ästen und wuchtigen Wurzeln. Natürlich gibt es in Baltimore auch andere Parks, etwa Patterson Park und Leakin. In ersterem habe ich früher Kickball gespielt, in letzterem einmal ein Ferienlager besucht. Der Jones Falls Trail führt zum Cylburn Arboretum. Südlich vom Innenhaften liegt Federal Hill. Von dort aus hat man einen beeindruckenden Blick aufs Wasser.

Meine Stadt hat so viele schöne Fleckchen. Auf der anderen Seite gibt es hier aber auch viele ernste Probleme. So gab es in Baltimore erst vor zwei Jahren einen Aufstand, nachdem es wieder einmal einen Toten nach einem Polizeieinsatz zu beklagen gab. Allerdings verändert sich ganz Amerika gerade gewaltig, was sich täglich in den Nachrichten niederschlägt. Es ist hier nicht immer angenehm.

Genau wegen dieser Gefühle und Sorgen, die mich viel beschäftigen, genieße ich es immer sehr, im Wyman Park einfach durch den Wald zu laufen. Ich glaube, die Einsamkeit der Natur ist für viele Menschen sehr wichtig. Wenn ich hier mitten in der Stadt durch die Wälder streife, bin ich ganz von der friedlichen Natur erfüllt und quasi eine Zeitlang losgelöst von mir selbst. Und wenn mir Raum und Zeit wieder bewusst werden, wird mir mein Platz in dieser problembehafteten Welt ein kleines Stückchen bewusster. Und das ist viel wert.

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