„Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein (2.v.r.) mit Redakteuren 1947 | Foto (Ausschnitt): © DER SPIEGEL
Mit politischen Enthüllungen wurde „Der Spiegel“ einst zum Leitmedium der deutschen Presselandschaft. Doch wird das Nachrichtenmagazin 70 Jahre nach seiner Gründung dieser Zuschreibung noch gerecht?
Das deutsche Flaggschiff des Nachrichten-Journalismus Der Spiegel ist ein Kind der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In der ersten Redaktion saßen junge Männer, viele von ihnen – wegen des damaligen Mangels an Stoffen und ziviler Kleidung – in gefärbten Wehrmachtsuniformen. Geführt wurden sie von John Chaloner, einem britischen Presseoffizier, und dem aus dem Exil heimgekehrten Journalisten Harry Bohrer. Gemeinsam wollten sie im zerstörten Deutschland eine Zeitschrift nach dem Vorbild des US-amerikanischen Nachrichtenmagazins Time aufbauen und waren sich mit ihren deutschen Mitarbeitern in der Ablehnung von NS-Diktatur und Obrigkeitsdenken einig. Als Verfechter eines radikalen gesellschaftlichen Neuanfangs scheute Diese Woche, wie die Publikation 1946 zunächst hieß, auch vor Kritik an den alliierten Besatzungsmächten nicht zurück. Diese entledigten sich der Opposition aus dem eigenen Haus, indem sie die Woche in deutsche Hände übergaben. Am 4. Januar 1947 erschien die erste Ausgabe des in Der Spiegel umbenannten Magazins mit Rudolf Augstein als Herausgeber und Chefredakteur.
Rudolf Augsteins Sturmgeschütz
Der Spiegel 1/1947
| Foto (Ausschnitt): © DER SPIEGEL
Die Gründungsgeschichte des
Spiegel gibt bis heute die politische Richtung des wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazins vor. Rudolf Augstein (1923-2002) nannte es das „Sturmgeschütz der Demokratie“, und tatsächlich verstand sich
Der Spiegel stets als diejenige Publikation, die den Geist der im deutschen Grundgesetz verankerten „wehrhaften Demokratie“ jede Woche aufs Neue ausbuchstabiert. Wobei es Redaktion und Herausgeber vor allem um die inneren Feinde der jungen Bundesrepublik ging: um die gleichsam natürliche Neigung einer Regierungsform zu Geheimabsprachen und Korruption sowie um den tendenziell demokratiefeindlichen Selbsterhaltungstrieb der gewählten Machthaber. Die enthüllende Recherche im politischen Milieu sollte die Munition des journalistischen „Sturmgeschützes“ sein – und wurde rasch zum Markenzeichen des
Spiegel. Im Jahr 1950 veröffentlichte das Magazin eine Meldung, wonach die Entscheidung, Bonn zur Bundeshauptstadt zu machen, auch mithilfe von Bestechungsgeldern zustande gekommen sei. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde eingerichtet, doch aufgeklärt werden konnte der Vorwurf nicht. Bundeskanzler Konrad Adenauer schimpfte über das „Schmierblatt“, was für den
Spiegel nach dessen Selbstverständnis einem Adelsschlag gleichkam.
Fanal für die Pressefreiheit
Herausgeber Rudolf Augstein
| Foto (Ausschnitt): © Monika Zucht/DER SPIEGEL
Im Laufe seiner 70-jährigen Geschichte enthüllte das Magazin zahlreiche kleinere und größere Politskandale – etwa 1982 die illegale Finanzierung der politischen Parteien durch Privatleute und Wirtschaftsunternehmen – und warb als Leitmedium der deutschen Presselandschaft für die Idee, dass man die Demokratie nicht deren offiziellen Vertretern überlassen darf. Besonders deutlich wurde dies in der „
Spiegel-Affäre“ im Jahr 1962: Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß hatte aufgrund eines Berichts der Zeitschrift Herausgeber Rudolf Augstein und mehrere leitende Redakteure wegen angeblichen Landesverrats festnehmen lassen. Am Ende musste Strauß zurücktreten und die junge Bundesrepublik hatte ein Fanal für die Pressefreiheit gesetzt.
Im Zweifel links
Das gelebte Ideal einer wehrhaften Demokratie ist das bedeutendste Erbe des
Spiegel, der ansonsten keine feste politische Agenda verfolgte. Augstein nannte das Magazin einmal „im Zweifel links“, doch zeigt gerade die Kritik, die das linke politische Lager immer wieder am
Spiegel äußerte, wie groß deren Enttäuschung über dessen „neutrale“ Haltung etwa zur 68er-Bewegung in Deutschland war. Allerdings beruht dieser Vorwurf auf einem grundsätzlichen Missverständnis: Augstein verstand seine Publikation als ersten Wächter der Demokratie und nicht als Propagandist gesellschaftlicher Entwicklungen. Ins Herz des redaktionellen Selbstverständnisses trifft hingegen die Kritik an Sprache und Erzählstil des Magazins: Hans Magnus Enzensberger monierte bereits 1957, die auf das politische Personal zugeschnittenen Geschichten seien nur ein Ersatzstoff für wahre, an Problemen und Sachfragen orientierte Aufklärung.
Abschied vom Prinzip Leitmedium
„Spiegel“-Verlagshaus in Hamburg
| Foto (Ausschnitt): © Noshe/DER SPIEGEL
Ihren publizistischen Gipfel erreichte die
Spiegel-Redaktion in den 1990er-Jahren, als das Magazin regelmäßig über eine Million Exemplare verkaufte und verlässlich die Themen der Woche vorgab. Seitdem hat die Zeitschrift an Bedeutung eingebüßt, die verkaufte Auflage sank Ende 2016 auf unter 800.000 Exemplare. Publikationen wie die
Süddeutsche Zeitung setzen mittlerweile ebenfalls erfolgreich auf enthüllende Recherchen, zudem ist der Wandel der Medienwelt auch am
Spiegel nicht spurlos vorübergegangen. Zwar nahm er mit Ablegern im Privatfernsehen (Spiegel TV) und dem Internetauftritt
Spiegel Online auch hier jeweils eine Pionierrolle ein, doch haben diese die Marke des Nachrichtenmagazins eher zum „Boulevard“ hin aufgeweicht als sie zu stärken. Wichtiger noch: Das Prinzip eines publizistischen Leitmediums scheint in der ausdifferenzierten Medienlandschaft überholt zu sein. Heute ist
Der Spiegel eine wichtige Stimme unter anderen – seine historische Bedeutung macht ihn dabei tendenziell weiterhin zum Ersten unter Gleichen.