Jan Wagner
Ein Gespräch mit Jan Wagner und David Keplinger über “The Art of Topiary”
Bei ihrem Besuch in New York trafen wir Jan Wagner und Davin Keplinger und sprachen mit ihnen über ihre literarischen Inspirationen, die Suche nach dem Gedichtinhalt, den Prozess des Übersetzens und das Projekt The Art Of Topiary, das über einen Zeitraum von acht Jahren entstanden ist.
2017 war ein bedeutsames Jahr für Jan Wagner: Im Juni ist der deutsche Dichter, Essayist und Übersetzer mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet worden, dem wohl bedeutendsten Literaturpreis Deutschlands. Kurz nach dieser Ehrung hat Wagner zwei Gedichtsammlungen veröffentlicht: Hund und Mond, die Übersetzung des irischen Dichters Matthw Sweeney, sowie The Art Of Topiary („Die Kunst der Formschnittgärtnerei“), die Übersetzung einiger ausgewählter eigener Gedichte, die er gemeinsam mit dem Dichter und Übersetzer David Keplinger ins Englische übertrug. So langsam genießt Wagner auch international die Aufmerksamkeit, die ihm in Deutschland schon seit zwei Jahrzehnten zu Teil wird. In diesem Herbst haben Wagner und Keplinger mit The Art Of Topiary eine gemeinsame Lesereise durch den Nordosten der USA angetreten. Dabei besuchten sie auch Yale und die American University.
Jan, seit wann schreiben Sie schon Gedichte? Hatten Sie auch schon mal andere literarische Ambitionen?
Meine ersten Gedichte habe ich mit 15,16 Jahren geschrieben. Ich habe auch Romane gelesen, aber nie das Verlangen entwickelt, auch einen zu schreiben. Ich wollte lieber Gedichte schreiben, weil diese die erste Gattung im Bereich der Literatur waren, die ich richtig spannend fand. Also habe ich Georg Trakl gelesen, Georg Heim, Hölderlin – die Klassiker. Auch englische Gedichte von Blake, Donne, Yeats und auch Dylan Thomas mochte ich sehr. Im Alter von 15, 16 Jahren fing ich dann an, Gedichte zu schreiben, denn es hat mich fasziniert, wie man auf so wenig Raum so viele Geräusche und Bilder entstehen lassen kann, wie Trakl und Thomas es vermögen.
Darum wollte ich auch nie einen Roman schreiben. Für mich hatte nur die Dichtung etwas Magisches an sich. Es sind ja nciht die Leser, sondern die Journalisten, die auf Prosa fixiert sind. Ich höre nicht selten die Frage „Wann schreiben Sie denn endlich einen Roman?“ bzw. „Wann sind Sie soweit, dass Sie einen Roman schreiben können?“ Als seien Gedichte nur eine Aufwärmübung für Romane! Das ist doch verrückt. Dichtung ist die ultimative Ausdrucksform, das Beste, das man mit Sprache machen kann.
Wie sieht momentan ihr Schreibprozess aus?
Jan Wagner: Ich denke immer gleichzeitig über verschiedene Gedichte nach, über Themen, die sich meiner Meinung nach gut dafür eignen würden. Diese Gedanken habe ich ständig im Kopf und mache mir auch oft Notizen, aber ich arbeite nicht an 20 Gedichten gleichzeitig. Ich sammle Dinge und schaue dann, was sich um Wörter, Bilder oder Geräusche herum so alles bildet. Material für 20, 30 Gedichte zusammenzutragen, kann schon mal länger als ein Jahr dauern, aber irgendwann kommt dann der Moment, wo ich mich hinsetze und ein Gedicht nach dem anderen entstehen lasse.
"The Art Of Topiary" fängt mit rhino („Nilpferd“) an, einer Einstimmung auf das Buch; es folgt ein Sonett. Seit wann interessieren Sie sich schon für Sonette?
Schon von Anfang an. Einer der Lehrer, die ich mir selbst ausgesucht hatte, war Georg Heim, der auch Sonette geschrieben hat, darunter zahlreiche über Berlin. Auch Trakl hat viele Sonette geschrieben. Kurz, alle von mir sehr verehrten Expressionisten waren (wie ihre Vorbilder Rimbaud und Baudelaire) Freunde des Sonetts. Obwohl sie mit ihrer Wildheit und Energie aus der Tradition ausbrachen und auch das Hässliche und Brutale in ihren Werken thematisierten, haben sie doch, wie Rimbaud, am Sonett festgehalten. Es ist eben eine großartige Form. Ich habe mit 15 oder 16 direkt angefangen, Sonette zu schreiben und nach meiner Begegnung mit Heim sogar selbst ein paar Sonette über Berlin geschrieben, bevor ich die Stadt überhaupt jemals kennengelernt hatte. Als ich dann nach Berlin gezogen war, habe ich keine Sonette mehr über die Stadt geschrieben, davor jedoch reichlich.
Ihre Gedichte sind nicht nur nach einem Nilpferd benannt, sondern tragen auch andere Tiere im Titel: Elch, Moorochse, Dackel, Dobermann, eine Eule, Koalas, ein Gecko, ein Chamäleon sowie Koi und Auster kommen vor, dazu ein „Essay über Mücken“ und ein „Selbstporträt mit Bienenschwarm“. Was genau interessiert sie so an Tieren?
Ich finde, dass es in einem Gedicht grundsätzlich um jedes Thema gehen kann. Jedes Material ist prinzipiell geeignet. Das ist ja das Schöne daran, Gedichte zu schreiben – man weiß nie, worüber man am nächsten Tag stolpert und was förmlich danach schreit, in ein Gedicht verarbeitet zu werden. Das kann ein Glas Wasser sein, ein altes Paar Schuhe oder irgendeine Pflanze. Tiere und andere Naturerscheinungen sind mir ebenso recht wie ein Nagel oder ein Teebeutel. Aber Sie haben Recht, es gibt in meinen Büchern sehr viele Gedichte, in denen Tiere vorkommen. Das liegt wohl daran, dass ich viele Autoren bewundere, die wahre Meister in Sachen Tierdichtung sind (wenn man es denn so nennen will), etwa Ted Hughes oder Seamus Heaney. Es gibt in John Bergers Buch About Looking („Über das Sehen“) zum Beispiel einen großartigen Essay darüber, warum wir uns Tiere ansehen. Natürlich ist es eine Art, uns selbst zu betrachten: Wir stellen uns vor, wie die Tiere auch auf uns blicken und fragen uns, was sie dabei wohl sehen. Es geht darum, sich selbst, den Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten; aus dem Blickwinkel einer Ziege oder irgendeines anderen Tieres.
Außer im Titel gibt es in Ihrem Buch keine Großbuchstaben. Warum vermeiden Sie diese?
Dafür gibt es nur zwei Gründe. Erstens sollen die Wörter visuell alle gleich gewichtet sein. Keines sollte wichtiger wirken als ein anderes. Kein Substantiv, das im Deutschen ja groß geschrieben wird, darf auf den ersten Blick wichtiger sein als ein Verb oder ein Adjektiv. Der zweite und noch wichtigere Grund ist, dass man am Zeilenende einen bestimmen Effekt erzielt, wenn man keine Großbuchstaben benutzt, weil man dann nicht weiß, ob es sich um ein Nomen oder ein Adjektiv handelt – beides ist möglich. Im Zweifelsfall gibt es dann zwei Bedeutungen. So kann etwa „regen“ sowohl „Regen“ bedeuten als auch „sich regen“. Es gibt mehrere solcher Beispiele, wo man durch diese Ungewissheit den Effekt der Doppeldeutigkeit erzielen kann.
Viele Ihrer Gedichte schreiben Sie aus der Plural-Perspektive. Bezwecken Sie etwas Bestimmtes damit, wenn sie „wir“ statt „ich“ sagen?
Das kommt auf das Gedicht an. Es stimmt schon, wenn man „wir“ sagt, dann kann es sein, dass man das „ich“ vermeiden will. In meinem Fall trifft das aber nicht zu. Das „wir“ wie auch das „ich“ ist nur eine der von uns gewählten Masken. Die Verwendung von „ich“ ist oft weniger autobiographisch als ein „wir“. Das „wir“ kann auf eine Gruppe anspielen und schließt den Leser somit in die Perspektive des Autors ein. Das kann aber von Fall zu Fall verschieden sein.
Demnach widerstrebt es Ihnen, autobiografisch zu schreiben?
Gedichte sind immer autobiografisch. Sie tragen immer ein biografisches Element oder zumindest eine versteckte Anspielung auf eine eigene Erfahrung in sich. Jeder kennt zum Beispiel die Faszination, die ein Brunnen ausübt: Es ist doch großartig, dort hinunter zu schauen und sich vorzustellen, wie es wohl wäre, dort unten zu sitzen. Brunnen üben eine universelle Angst und Faszination auf uns aus, aber ich habe trotzdem als Kind selbst erlebt, wie es ist, dort hinunterzuschauen. Es beruht also auf meiner eigenen Erfahrung. Allerdings schreibe ich nur selten über Dinge, die wirklich passiert sind. Das Schöne ist ja, dass es langweilig ist, über sich selbst zu schreiben und man stattdessen aus dem eigenen Ich ausbricht und nach anderen Rollen sucht: Wie wäre es, ein Kamel zu sein? Und wie fühlt sich eigentlich ein Stuhl? Solche Fragestellungen finde ich großartig. Man schlüpft einfach für zehn oder zwölf Zeilen in eine andere Existenz und stellt sich vor, wie sich diese anfühlt. Dabei lernt man auch immer etwas über sich selbst. Wenn man darüber nachdenkt, wie wohl ein Stein die Welt sieht, dann kann das den eigenen Blick auf die Welt, auf sich selbst und auch den Stein schärfen. Man braucht das Zimmer gar nicht zu verlassen, um in den Brunnen zu fallen.
Wie haben Sie beide sich kennengelernt und wann haben Sie entschieden, bei der Übersetzung zusammenzuarbeiten?
David Keplinger: Ich habe Jan im Sommer 2009 kontaktiert, weil ich gerne in Washington gemeinsam mit einem deutschsprachigen Kollegen einige Texte übersetzen wollte. Also habe ich Jan gefragt, ob wir einige seiner Gedichte übersetzen dürften. Diese Zusammenarbeit hat viel Spaß gemacht, aber es war noch einfacher, direkt mit Jan gemeinsam zu arbeiten. Ein paar Monate später habe ich Jan gefragt, ob er nicht Lust hätte, die Gedichte direkt für mich wörtlich zu übersetzen. Die Ergebnisse waren sehr zufriedenstellend, also haben wir weitergemacht. Im Lauf der Jahre haben wir rund 50 Gedichte übersetzt, und irgendwann haben wir dann den Vertrag mit Milkweed [Editions] bekommen.
Beschreiben Sie doch einmal, wie Sie bei diesem Buch beim Übersetzen vorgegangen sind. Wie genau hat die Zusammenarbeit funktioniert?
Jan Wagner: David und ich haben hier bei allen Gedichten gemeinsam gearbeitet. Am Anfang habe ich ihm eine Wort-für-Wort-Übersetzung gegeben und Doppelbedeutungen, Anspielungen, Idiome und so weiter erklärt. Auch den Reim, die Struktur, das Versmaß und die Betonung der Zeilen habe ich ihm erklärt, denn beim Lesen muss man schon wissen, wo die Betonung liegt.
David Keplinger: Dadurch, dass ich direkt mit Jan zusammengearbeitet habe, war ein sehr enger Austausch möglich. So konnte ich etwa manchmal die wörtliche Bedeutung ändern, um dem Gesamtbild, sprich, der konnotativen Qualität der Arbeit gerecht zu werden. Normalerweise sitzt bei Literaturübersetzungen am anderen Ende der Welt jemand an seinem Schreibtisch und trifft ganz alleine seine Entscheidungen. Durch die enge gemeinsame Arbeit mit Jan konnte ich jedoch ein Gedicht stets so formen, dass ich dessen eigentliche Intention im Englischen besser deutlich machen konnte. So hätten wir etwa zu Beginn „komm‘ näher“ mit come near übersetzen können; wir entschieden uns jedoch für come closer, weil dies eher der der Konnotation entspricht. Solche Entscheidungen konnten wir nur treffen, weil wir in direktem Kontakt miteinander waren.
Jan Wagner: Wenn man Gedichte übersetzt, muss man sich irgendwann einmal einen Schritt vom Original entfernen, weil es der anderen Sprachfassung oft nicht gut tut, wenn man zu eng am Ausgangstext bleibt. Diese Freiheiten gilt es selbstbewusst zu nutzen, ohne dabei den Originaltext aus den Augen zu verlieren.
Übersetzen Sie momentan auch Texte anderer Autoren?
David Keplinger: Ich habe zwei Bücher eines dänischen Autors, Carsten René Nielsen, übersetzt und dabei die gleiche Arbeitsweise praktiziert wie mit Jan. So ist die Zusammenarbeit mit Jan auch erst entstanden; ich habe ihm vorgeschlagen, es auf dieselbe Weise zu machen. Carsten ist ein Prosadichter, man braucht sich also nicht um Form, Reim und Metrik zu kümmern, sondern muss nur den Charakter des Gedichts erfassen. Momentan übersetzen wir gerade sein neues Buch 41 Objects.
Übrigens war es Carsten, der vorgeschlagen hatte, ich solle Jan doch kontaktieren. Ich fragte ihn nach deutschen Dichtern, die mit starker Vorstellungskraft und Bildhaftigkeit schreiben, und er meinte, Jan sei der Dichter seiner Generation – und er hatte Recht.
Gibt es Unterschiede beim Übersetzen von festen Formen im Gegensatz zu freien Versen?
David Keplinger: Das sind verschiedene Vorgänge. Der freie Vers hat genauso seine Form wie der feste, traditionelle Vers seine Anforderungen und Konventionen hat. Oftmals ist es schwieriger, ein Gedicht zu übersetzen, das aus freien Versen besteht, weil es hier eine undefinierbare, ganz eigene Stimme herauszuarbeiten gilt, die man dann ins Englische hinübergleiten lassen und hier die gleiche Stimmung erzeugen muss wie im Original. Bei traditionellen Formen ist es oft einfacher, hier kann man sich auf den Endreim und das Versmaß konzentrieren. Ich finde allerdings, dass die von uns ohne dabei den Originaltext aus den Augen zu verlieren.
Übersetzen Sie momentan auch Texte anderer Autoren?
David Keplinger: Ich habe zwei Bücher eines dänischen Autors, Carsten René Nielsen, übersetzt und dabei die gleiche Arbeitsweise praktiziert wie mit Jan. So ist die Zusammenarbeit mit Jan auch erst entstanden; ich habe ihm vorgeschlagen, es auf dieselbe Weise zu machen. Carsten ist ein Prosadichter, man braucht sich also nicht um Form, Reim und Metrik zu kümmern, sondern muss nur den Charakter des Gedichts erfassen. Momentan übersetzen wir gerade sein neues Buch 41 Objects.
Übrigens war es Carsten, der vorgeschlagen hatte, ich solle Jan doch kontaktieren. Ich fragte ihn nach deutschen Dichtern, die mit starker Vorstellungskraft und Bildhaftigkeit schreiben, und er meinte, Jan sei der Dichter seiner Generation – und er hatte Recht.
Gibt es Unterschiede beim Übersetzen von festen Formen im Gegensatz zu freien Versen?
David Keplinger: Das sind verschiedene Vorgänge. Der freie Vers hat genauso seine Form wie der feste, traditionelle Vers seine Anforderungen und Konventionen hat. Oftmals ist es schwieriger, ein Gedicht zu übersetzen, das aus freien Versen besteht, weil es hier eine undefinierbare, ganz eigene Stimme herauszuarbeiten gilt, die man dann ins Englische hinübergleiten lassen und hier die gleiche Stimmung erzeugen muss wie im Original. Bei traditionellen Formen ist es oft einfacher, hier kann man sich auf den Endreim und das Versmaß konzentrieren. Ich finde allerdings, dass die von uns ausgewählten aus freien Versen bestehenden Gedichte, die Essay-Serie und die Elegy For Knievel zu den besten Texten des Buchs gehören.
Es gibt einige Unterschiede am Ende des Haiku-Gedichts "Teabag" („Teebeutel“). In dem deutschen Gedicht heißt es „fünf Minuten“, auf Englisch about four to five minutes („ungefähr vier bis fünf Minuten“). Wie kam es zu dieser Änderung?
David Keplinger: Bei einem Haiku geht es ähnlich wie bei einem Witz um das Timing. Ein Haiki folgt dem Muster Anspannung-Anspannung-Anspannung-Loslassen – five minutes hätte nicht genug Silben für das Haiku, about five minutes schon. Es schien aber immer noch nicht so kraftvoll oder lustig wie four or five minutes, weil es ein Daktylus ist. Es soll schließlich nach der Anweisung auf einem Teebeutel klingen: „Vier bis fünf Minuten ziehen lassen“. Ich habe mit Jan darüber gesprochen. Mit dieser kleinen Änderung konnten wir den Witz des Gedichts noch verstärken. Und wir haben bei jedem Vorlesen ein Lachen geerntet, das ist doch ein gutes Zeichen.
Was lesen Sie denn selbst gerade?
David Keplinger: Ich lese meistens viele Bücher gleichzeitig. Gerade habe ich Migration angefangen, gesammelte Gedichte von W.S. Merwin. Dann lese ich noch die im letzten Jahr erschienenen gesammelten Werke des Dichters Mark Strand. Auch Mark Irwin steht auf meiner Liste, und, seit dieser gestorben ist, beschäftige ich auch wieder gerne mit John Ashbery.
Jan Wagner: Ich habe heute in der Buchhandlung Strand ein paar Bücher gekauft: Eins der englischen Dichterin Lavinia Greenlaw, eins von Mary Oliver. Ich freue mich auch sehr auf The Monster Loves His Labyrinth, („Das Monster liebt sein Labyrinth“), ein Notizbuch von Charles Simic. Fürs Flugzeug, muss ich gestehen, habe ich jedoch ein Prosa-Werk gekauft: Die Pest zu London von Daniel Defoe, das sicher gut für Flugreisen geeignet ist.