Die Zukunft Europas
„Wir dürfen den demokratischen Rahmen nicht verlieren“
Europa muss sich neu erfinden, sagt Jana Puglierin, Programmleiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen. Ein Gespräch darüber, wie laut Deutschlands Stimme in Europa sein darf und ob die EU am Brexit zerbrechen könnte.
Dr. Jana Puglierin ist Programmleiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen
| Foto: © DGAP/Dirk Enters
Frau Puglierin, die Briten haben dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen. Ist das der Anfang vom Ende der europäischen Idee?
Der Brexit stellt vieles in Frage, was wir bislang erreicht haben. Bisher sind wir – entgegen aller Warnsignale – immer davon ausgegangen, dass die Integration weiterer Länder kontinuierlich vorangeht und die Staaten das gleiche Ziel haben: die Einheit, die „ever closer union“, wie es ja auch in der Präambel zum EU-Vertrag formuliert ist. Der Brexit zeigt, dass es diese „ever closer union“ nicht gibt.
Das klingt nicht sehr optimistisch. Was kann die EU jetzt tun?
Sie kann die Einheit der verbleibenden Mitglieder fördern und nicht zulassen, dass weitere Länder verlorengehen. Dann muss ein neues Narrativ generiert werden; die Europäische Union muss wieder als Erfolgsgeschichte erzählt werden. Eine gewisse Europaskepsis herrscht auch in Deutschland, allerdings hat die Bundesrepublik eine besondere nationale Bindung zur EU.
Wie sieht diese aus?
Für viele Länder wie die Niederlande oder Großbritannien liegt der Wert der Europäischen Union in der Funktion als Wirtschafts- und Handelsgemeinschaft. Für Deutschland jedoch war die EU nach 1945 ein Instrument, nationale Souveränität und eine deutsche Einheit zu erreichen. Auf Grund des gebrochenen Verhältnisses zur eigenen Geschichte fühlten sich gerade Bürger der Nachkriegs- und 1968er-Generation dem europäischen Gedanken besonders verbunden. Zudem brachte die EU für Deutschland bislang nur Positives. Die Medienkampagnen über Deutschland als Zahlmeister Europas haben aber auch bei uns Spuren hinterlassen.
Ein Ring aus Freunden
Der deutsche Staatsminister für Europa, Michael Roth, wurde kürzlich von einer Schulklasse gefragt, warum sich Deutschland im Ukrainekonflikt so passiv verhalte. Roth reagierte überrascht und wies darauf hin, dass wohl niemand einen Dritten Weltkrieg provozieren wolle.Als liberale Demokratien haben wir das Problem, dass wir Mittel nicht anwenden wollen, die autokratische Systeme durchaus anwenden. Es ist sicher richtig, dass es aus westlicher Perspektive keine militärische Lösung in der Ukraine gibt, Deutschland muss also asymmetrisch antworten. Doch es gibt zahlreiche andere Möglichkeiten der Anbindung der Region an den Westen. An der Ukrainekrise, aber auch im Hinblick auf Nordafrika sieht man allerdings, dass die Nachbarschaftspolitik der EU viel weniger erreicht hat als gedacht. Ursprünglich wollte sich die EU mit einem Ring aus Freunden umgeben und diese „Nachbarn der Nachbarn“ durch Assoziierungsabkommen und Kooperationen stärken und einbinden. Letztlich kann man wohl sagen, dass sowohl die östliche als auch die südliche Nachbarschaft gescheitert sind.
Die Türkei nicht als potenziellen Partner aufgeben
Was ist mit der Türkei, auch einem „Nachbarn der Nachbarn“?Die Türkei hat sich in kurzer Zeit zu einem wesentlichen Problem der europäischen Nachbarschaft entwickelt. Die Situation für die EU ist vertrackt. Durch die Flüchtlingskrise ist quasi jeder EU-Bürger direkt betroffen. Die demokratische Lage hat sich in der Türkei extrem verschlechtert, Präsident Erdoğan wandelt sich mehr und mehr zu einem autokratischen Staatsoberhaupt. Doch gerade in Hinblick auf die geostrategische Lage der Türkei sollte man sie lieber zum Freund als zum Feind haben. Das heißt nicht, dass man sich erpressbar machen lassen muss. Es ist zu früh, um die Türkei als potenziellen Partner aufzugeben.
Warum stößt der sogenannte Türkei-Deal auf so viel Ablehnung in der Bevölkerung?
Die deutsche Außenpolitik ist getrieben, das nehmen Bürger wahr. Aber die Debatte ist unehrlich. Die Bundeskanzlerin hat lange versucht, eine andere Lösung für die Flüchtlingsfrage zu finden. Erste Wahl wäre eine europäische Quotenregelung gewesen mit Hotspots und einer Verteilung über ein Kontingent. Der Türkei-Deal war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die EU-Staaten einigen konnten. Deutschland hat eine Million Flüchtlinge aufgenommen, Angela Merkel wurde dafür massiv angegangen. Die Bürger haben von ihr verlangt, etwas zu ändern. Das hat sie getan – und nun wird es ihr vorgeworfen.
Inzwischen kritisieren einige Länder auch offen die angebliche deutsche Hegemonie in Europa.
Die deutsche Stimme ist die lauteste und glaubwürdigste in der EU. Sowohl in der Euro- als auch in der Ukrainekrise galt sie als europäische Stimme. In der Flüchtlingskrise hat die Kanzlerin nicht erkannt, dass ihr die Gefolgschaft fehlte. Nach dem Brexit-Votum steht Deutschland nun noch mehr im Fokus der Aufmerksamkeit, doch auch die Angst vor Deutschland wird größer, weil ein entscheidendes Gegengewicht fehlt. Deutschland verliert mit Großbritannien einen wichtigen Verbündeten, Italien wittert seine Chance, das Vakuum zu füllen.
Probleme zugeben, Lösungen bieten
In vielen Ländern Europas erstarken die politischen Rechten, nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch in Frankreich und Deutschland.Im europäischen Vergleich stand Deutschland lange gut da, nun ist auch bei uns die Rechte im Aufwind. Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 brachte das gesamte System des liberalen westlichen Kapitalismus in Verruf. Daraus ist eine generelle Kritik an den westlichen Eliten geworden – das sieht man nicht nur in den USA im Trump-Wahlkampf. Viele Bürger fühlen sich mit ihren Ängsten nicht ernstgenommen, suchen Halt in einfachen Antworten. Irgendeine Website erhält die gleiche Glaubwürdigkeit wie die Tagesschau. Man muss versuchen, die Menschen wieder zu erreichen, Politiker dürfen eigenes Versagen nicht auf die EU schieben. Probleme zuzugeben und Lösungen anzubieten darf aber nicht bedeuten, die Vorschläge der Populisten zu übernehmen. Wir dürfen den demokratischen Rahmen nicht verlieren.