Meme-Strategien
Vom Kampf gegen die Zensur durch Algorithmen
Wie Kunstschaffende und Aktivist*innen aus unterrepräsentierten Gruppen mit Technologie, Memes und verschiedenen Taktiken die Zensur durch Algorithmen und voreingenommene Medien umgehen – und so ihre Botschaft verbreiten.
Von Kira Simon-Kennedy
Wie kann man weltweite Aufmerksamkeit für übersehene Ungerechtigkeiten erzeugen, wenn die Mainstream-Medien nur auf maximale Klickzahlen aus sind? Wie lässt sich die Zensur durch Algorithmen unterwandern und umgehen, wenn eine Botschaft nicht durchdringen soll?
Weltweit haben Kunstschaffende viele clevere Möglichkeiten gefunden, sich selbst gegen massive Widerstände ausdrücken zu können. Ihre Kunst funktioniert mitunter wie Memes – sie ist also leicht reproduzierbar, kann beliebig bearbeitet und verändert werden und verbreitet sich rasend schnell. Darüber hinaus ist sie oft fesselnd und auf Partizipation ausgelegt. Vielfach nutzen wenig beachtete und unterrepräsentierte Gruppen künstlerische, Meme-artige Strategien, um mit ihren Botschaften durchzudringen. Sie haben Lieder, Tänze, Zeichen und Banner entwickelt, die sich weltweit viral verbreitet haben – häufig auch als Unterstützung für andere Bewegungen. Diese „Meme-Taktiken“ können in mehrere, sich überschneidende Kategorien eingeteilt werden, die hier angesichts ihres provisorischen und sich ständig verändernden Charakters ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannt werden sollen.
Taktik 1: Direkt zum Volk sprechen
Diese Taktik eignet sich am besten, um öffentlichen Druck aufzubauen. Sie umfasst direkte Interaktionen zwischen Personen im realen Leben („in real life“, IRL) oder online, die häufig für die virale Verbreitung oder Dokumentationszwecke festgehalten werden. 2019 choreografierte das feministische chilenische Kollektiv Las Tesis die Performance Un Violador en tu camino. Mit einer Kombination von Tanz, Kostümen und Gesängen schuf Las Tesis einen Flashmob gegen patriarchale Gewalt. Videos und Bilder der öffentlichen Tanzdarbietung verbreiteten sich über das Netz rasend schnell auf der gesamten Welt. Vielerorts kam es zu spontanen Übersetzungen und Anpassungen an andere Kulturen. In Städten in ganz Lateinamerika, Europa und den USA trafen sich Menschen, um ähnliche Performances zu zeigen.
2018 führten in Nicaragua der Versuch, das Rentensystem zu privatisieren – sowie weitere Regierungspläne – zu politischen Protesten. Die Regierung antwortete repressiv und verbot jegliche Demonstrationen. Doch als die Menschen ihren Protest nicht mehr durch gemeinsame physische Präsenz auf der Straße äußern konnten, fingen sie an, stattdessen Luftballons auf den Straßen liegen zu lassen. Auf diesen stand #SOSNICARAGUA, und sie waren mit verschiedenen Botschaften des Widerstandes beschrieben sowie mit den Namen der von der Polizei Getöteten. Für die Polizei wurden die Ballons zu einer Ablenkung, da die Beamten jeden einzelnen zum Platzen bringen mussten. Durch den Hashtag #SOSNICARAGUA entstand ein virtueller Raum für die Organisation der Proteste, während die Ballons selbst symbolisch den öffentlichen Raum besetzten.
Die queere nicaraguanische Performancekünstlerin Elyla Sinvergüenza griff den symbolischen Gehalt der Ballons bei ihren Performances im New Yorker Exil auf. Dabei forderte sie Zuschauende auf, eine Stecknadel zu nehmen und mit Farbe gefüllte Ballons platzen zu lassen, sodass die Farbe auf weiße Kurieroveralls fiel, die die Künstlerin beim Transportieren von Briefen von Nicaragua nach China getragen hatte. Zu den vielen Ursachen der Massenproteste in Nicaragua zählte auch der Plan, mitten durch das Land einen Kanal zu bauen, der die Karibik mit dem Pazifik verbindet. Zahllose indigene Menschen und Landwirt*innen wären dafür vertrieben worden. Auch die Umweltfolgen wären verheerend gewesen: Die geplante Route führte durch die größte Frischwasserquelle in Zentralamerika – und all das nur, damit China schnellere Schifffahrtsrouten nutzen kann, ohne vom US-kontrollierten Panamakanal abhängig zu sein. Finanziert wurde das neue Kanalprojekt durch einen Milliardenfonds in Hongkong. Inzwischen wurde es zwar auf Eis gelegt, doch das für den Bau enteignete Land wurde nie zurückgegeben. Da dieses Thema es kaum jemals in die internationalen Nachrichten schaffte, wollte Elyla die am stärksten betroffenen Menschen direkt miteinander verbinden. Sie sammelte Erfahrungsberichte in Form von Briefen und verteilte sie in Peking persönlich an Bewohner*innen von Hutongs (traditionelle chinesische Stadtviertel), die ebenfalls vor der Zwangsräumung standen und von der Regierung unter Druck gesetzt wurden, für den Gewinn anderer umzuziehen. Auf der Website des Projektes kann man die Briefe in spanischer, englischer und chinesischer Sprache anhören und lesen sowie den nicaraguanischen Familien antworten.
Taktik 2: Sichtbar und doch verborgen dank Steganografie
Diese Taktik funktioniert am besten im Umgang mit Zensur und Überwachung. Steganografie ist die Praxis des Verbergens einer Botschaft, die theoretisch sichtbar bleibt, jedoch von Dritten nicht wahrnehmbar ist. Das Wort Steganografie kommt von den griechischen Ausdrücken steganos (verdeckt, verborgen) und graphia (das Schreiben). Wenn eine Botschaft steganografisch codiert wird, bemerken Uneingeweihte nicht einmal, dass etwas verborgen wurde – im Gegensatz zu einer verschlüsselten Botschaft oder einem Code, der vielleicht nicht geknackt werden kann, aber sichtbar ist und so die Existenz eines Geheimnisses verrät.
Die Künstlerin Amy Suo Wu ist schon seit Langem von der Steganografie fasziniert, und ihr aktuelles Forschungsprojekt Tactics and Poetics of Invisibility erweckt längst überholte, simple analoge Methoden der Steganografie wieder zum Leben. In ihrem Cookbook of Invisible Writing dokumentiert sie etliche Techniken. 2017 entwickelte Suo Wu eine Methode, um radikale anarchistisch-feministische Texte der chinesischen Feministin und Anarchistin He Yinzen aus dem frühen 20. Jahrhundert verborgen auf modischer Straßenbekleidung anzubringen. Durch die Nutzung eines QR-Codes, wie er in China allgegenwärtig ist und als Aufnäher auf Stoffen getragen wird, forderte sie Passant*innen indirekt auf, den Code zu scannen und diese schwer zugänglichen, unterdrückten Texte herunterzuladen, in denen bereits 1907 die Abschaffung der Geschlechter und des Kapitals gefordert wurde. Durch die Arbeit in der Gemeinschaft und ihre Näh-Workshops setzt sie sich auch für die Weitergabe von Fähigkeiten ein, damit Gemeinschaften Anregungen für eigene poetische und spielerische Kommunikationsformen erhalten. All diese Taktiken wirken im Rahmen ihrer Arbeit wie eine modische, unterhaltsame Art, Verbindungen zu anderen Menschen zu pflegen.
Im Indien der 1970er-Jahre erlebte die Dalit-Literatur (Dalit ist die Bezeichnung für die untersten Gruppen der hinduistischen Gesellschaft) einen Aufschwung, die eine große Rolle bei der Entstehung der radikalen Dalit Panthers spielte, einer Organisation nach dem Vorbild der politischen Partei Black Panthers in den USA. Ein Großteil ihrer Materialien ist bis heute nicht allgemein zugänglich. Das Dalit Panther Archive widmet sich der Digitalisierung von Schriften, Zeitschriften und anderen Materialien der Bewegung. Damals schrieben Poet*innen Botschaften auf Busfahrkarten, die sie dann im Bus liegen ließen, damit alle sie lesen konnten. In der Zeit der Dalit-Bewegung entstand auch das „little magazine movement“. Das verwendete Format, heute als „zine“ bekannt, hat zuletzt einen Aufschwung erlebt, weil seine Subversion des Kapitals und der Zensur Illustrator*innen, Poet*innen und Kunstschaffende auf der gesamten Welt anzieht.
Es gibt noch viele weitere Taktiken. Derzeit bevorzugen wir jene, die wir „rickrolling for good“ getauft haben. Sie funktioniert besonders gut in der politischen Bildung und wenn es um die Umverteilung von Aufmerksamkeit und Ressourcen geht. Beispiele für eine brillante Nutzung dieser Taktik kommen aus der Korean-Pop-Fanszene, die sich online organisiert; von Beauty-Influencer*innen auf TikTok, die wichtige Botschaften in Make-up-Tutorials verbergen; von der Schauspielerin Jane Fonda, die mit den Einnahmen aus ihren Trainingsvideos die Bürgerrechtsbewegung und andere soziale Bewegungen unterstützte. Wir können hier nicht alle Beispiele nennen, doch wir hoffen, Ihre Handlungsbereitschaft und Kreativität angeregt zu haben, und dass Sie für die Dinge, die Ihnen am Herzen liegen, sowie für das Fortbestehen Ihrer Gemeinschaft aktiv werden. Denken Sie daran, dass diese Taktiken Anregungen für jede*n Einzelne*n von uns bereithalten. Sie sollen uns an unsere kollektive Macht und Kreativität erinnern – machen Sie sie sich zu eigen!
INFOBOX: Meme-Tactics
„Meme Tactics“ ist der Name eines kuratorischen Kollektivs mit vier Mitgliedern: Kira Simon Kennedy, Josue Chavez, An Xiao Mina und Mikail Wright. Die vier haben weltweit Beispiele für künstlerische, aktivistische Strategien nach dem Muster von Memes gesammelt. Im Rahmen einer Kooperation mit Our Networks, MUTEK, dem Center for Book Arts sowie weiteren Partnern wurde diese Sammlung in physischen Ausstellungen in New York und Philadelphia sowie online in Mozilla-Hubs gezeigt. Die Projektidee entstand aus An Xiao Minas wegweisendem Buch Memes to Movements: How the World’s Most Viral Media is Changing Social Protest and Power. Darin analysiert die Autorin die Verschmelzung von Internetkultur, sozialen Bewegungen und politischen Programmen.