Wilfried N'Sondé
On the run
Von Wilfried N'Sondé
Es muss ein Dienstag gewesen sein am Zentralen Omnibusbahnhof in Berlin Charlottenburg, ich hatte mir einen Tag mit wenig Andrang ausgesucht, um so bequem wie möglich nach Paris zu reisen. Zwölf Stunden Fahrzeit, manchmal mehr, selten weniger. Damit die Strecke nicht zu einer einzigen Strapaze wurde, musste man entsprechend planen.
Ich war erleichtert und ein bisschen stolz festzustellen, dass nur knapp zwanzig Leute artig hintereinander aufgereiht vor der Bustür warteten. Beschwingt betrat ich also die Bahnhofshalle, zu der mich ein eisiger, böiger Ostwind vor sich hertrieb. Seit Anfang Februar war das Thermometer nicht über Null geklettert, aber die bitterkalte Luft, die in alle ungeschützten Hautpartien biss, war Vorbote einer ganz besonders unangenehmen Nacht.
Nach dem Einchecken machte ich es mir auf der Rückbank bequem, die ich glücklicherweise für mich allein hatte. Ich freute mich schon darauf, mich ganz auszustrecken, ich würde in Ruhe schlafen können, vielleicht sogar bis zum Reiseziel. Die Abfahrt nach Paris stand also unter äußerst guten Vorzeichen, eine Vergnügungsfahrt, auf der ich die Stille der bereiften und sanft in einen nächtlichen Mantel gehüllten Landschaft auf mich wirken lassen könnte. Der Gedanke daran freute mich besonders, weil die Fahrgäste nicht mehr automatisch für die Passkontrollen gestört wurden, seit die Grenzen zwischen Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Frankreich offen waren. Als Jugendlicher hatte ich verblüfft vom Missgeschick des großen französischen Dichters Gérard de Nerval gelesen, der von seinem Wohnort Paris ins Schloss von Fontainebleau fahren wollte und in Melun, fünfzig Kilometer von Paris entfernt, angehalten und inhaftiert wurde, weil er der Polizei seinen Pass nicht hatte zeigen können. Ich nehme den letzten Bissen von meinem Sandwich, esse die Chips auf und erinnere mich an meinen ersten Besuch in Berlin: Der Zug war gegen 20 Uhr am Pariser Nordbahnhof abgefahren und sollte am nächsten Tag um 10 Uhr am Berliner Bahnhof Zoo ankommen. Und während dieser langen vierzehn Stunden war ich fünf Mal kontrolliert worden, davon allein drei Mal im geteilten Deutschland.
Ich war im Halbschlaf, als Julie am späten Abend beim ersten Halt in Hannover zustieg. Sie bekam ihren sperrigen Rucksack kaum durch die Tür und hielt, während sie sich durch den engen Mittelgang schob, ihre beiden Töchter an der Hand, eine vor sich, eine hinter sich. Den vierjährigen Zwillingen – sie hießen Noëlle und Joëlle – stand die Begeisterung über die bevorstehende lange Reise ins Gesicht geschrieben. Damit die drei zusammenbleiben konnten, bot ich ihnen meine fünf Sitze hinten im Bus an. Die beiden Kleinen trampelten mit den Füßen, die Nasen ans Fenster gepresst, die glänzenden Augen weit aufgerissen, in Erwartung all dessen, was es draußen gleich zu entdecken gebe. Ihre kurzen Beine baumelten vor und zurück, sie klatschten vor Freude in die Hände, als der Motor stotterte, bevor er ansprang.
Julies besorgter oder misstrauischer Blick war meist auf den Boden gerichtet, als fürchte sie, ihre Augen könnten ihre Gedanken verraten. Geheimnisse? Anfangs hielt ich es für Schüchternheit oder Erschöpfung, zumal die junge Mutter ihre Kinder immer wieder zu mehr Ruhe mahnte, mit gedämpfter, äußerst sanfter Stimme, ungeheuer zärtlich und geduldig. Trotzdem tuschelten die Kleinen laut, spielten, zankten sich, probierten, von einem Ende des Busses zum anderen zu schleichen. Ihre drolligen Spiele, ihr kaum unterdrücktes Jauchzen, ihr verschwörerisches Glucksen, ihre Unbefangenheit und ihre lebenslustig dreinblickenden Augen machten schlicht gute Laune. Trotz der späten Stunde verbreitete sich Heiterkeit im Bus.
Als die Mädchen erschöpft waren, kehrte wieder Ruhe ein im Bus, der inzwischen durch die Niederlande fuhr. Ein kurzer Blick nach draußen, hier und da waren Straßen von Laternen beleuchtet, ein Haus. Im Lichtkegel erahnte ich, wie heftig der eisige Wind war, der die mit einer dünnen Eisschicht überzogenen Blätter zittern ließ. Die Mädchen kamen artig zu ihrer Mutter zurück, mit schweren Lidern, den Blick schon traumwärts, sie kuschelten sich auf die Seite, verlangten noch einen Kuss, ein Streicheln, dann erschlafften ihre Körper. Als sie eingeschlafen waren, deckte Julie sie fürsorglich mit ihren Mänteln zu. Mit ihren Töchtern an sich geschmiegt hob Julie den Kopf. Sie prüfte den wandernden Horizont mit durchdringendem Blick, sie spähte, als suche sie eine Antwort, die aus dem tiefsten Nachtblau auftauchen würde. Die Eindringlichkeit, mit der sie das Dunkel erforschte, machte mich neugierig, sie war ernst, kein Augenzwinkern, die Arme beschützend um die Taille der beiden Mädchen gelegt, die ruckartig an ihren Daumen lutschten. Vielleicht ahnte sie etwas Böses, sie blieb angespannt, alarmiert, wachsam.
Wir kamen rasch und ohne Behinderung voran auf unserem Weg durch das in Finsternis getauchte Westeuropa, als Julie mir die Hand auf die Schulter legte, mich behutsam wachrüttelte und fragte, ob ich ein Auge auf Noëlle und Joëlle haben könne, während sie kurz weg sei. Bei dieser Gelegenheit nannte sie mir ihren Vornamen. Ich willigte ein, lächelte zurück und war gerührt von ihren Kindern, die hinter mir schliefen. Jedes Mal, wenn sie sich im Schlaf bewegten, beschrieben die rosafarbenen Bänder in ihren zerwühlten Haaren neue Bögen und Linien.
Julie hatte gerade die Toilettentür hinter sich geschlossen, als ganz plötzlich ein Licht auftauchte, das die Schlafenden jäh aus ihren Träumen riss und blendete. Die Mädchen richteten sich auf, rieben sich schmollend mit den Fäusten die Augen. Der Fahrer bremste ab. Kaum, dass er uns aufgefordert hatte, uns für die Kontrolle der niederländischen Grenzpolizei bereit zu machen, hörte ich Julie die Treppe heraufeilen und auf ihre Kinder zustürzen. Sie war vollkommen verschreckt. Die Angst machte ihr Gesicht zu dem eines gejagten Tieres. Geleitet von einem Polizeiwagen fuhr der Bus von der Autobahn ab und kam auf dem Parkplatz einer Tankstelle zum Stehen. Zwei Zollbeamte stiegen ein, sie trugen Uniformen mit den Flaggen der Niederlande und der Europäischen Union und Waffen an den Gürteln. Der erste begrüßte uns kurz in lautem, autoritärem Tonfall und kündigte eine Passkontrolle an – wir sollten unsere Reisepapiere herausholen. Julies Miene blieb verschlossen, hinter ihren Schläfen war das hektische Auf und Ab der Kiefer zu erahnen, die Angst lähmte sie, sie antwortete nicht mehr auf die Fragen von Joëlle, die beharrlich von ihr wissen wollte, warum wir stehen geblieben seien. Sie wollte weiterfahren, wie all die anderen Autos, die sie in der Ferne vorbeiziehen sah.
Die Beamten fingen gutgelaunt mit der Überprüfung an, Routine, ein Lächeln auf den Lippen, die üblichen Anstands- und Höflichkeitsfloskeln. Ich begriff, dass Julie ein Problem hatte. Je mehr der Abstand zwischen den Zollbeamten und ihr schrumpfte, desto mehr verkrampfte sie sich. Sie waren fast am Ende des Busses angelangt. Der Fahrer ließ den Motor an zur Weiterfahrt. Ich weiß nicht, ob die Beamten meinem Gesichtsausdruck etwas ansahen. Aber plötzlich wirkten sie verändert, misstrauisch. Der Polizist, der meinen Pass entgegennahm, runzelte die Augenbrauen und fragte mich, wohin ich fahre. Die Worte blieben mir im Hals stecken, ich stotterte »Paris«, irgendetwas schnürte mir die Luft ab. Das war es schon, sie gingen weiter. Julie senkte den Blick, stammelte vergebliche Erklärungen. Keine Papiere, keine Aufenthaltsgenehmigung, Migranten, sie suchte etwas in ihrer Tasche, holte eine Akte heraus, aber nichts zu machen, sie schüttelten den Kopf, sie sprach weiter und begann zu weinen. Es half nichts. Einer der beiden bat den Fahrer, den Motor abzustellen und die Gepäckklappe zu öffnen. Erniedrigt und verzweifelt nahm Julie ihren Mantel sowie Joëlle und Noëlle, die geräuschvoll die Nasen hochzogen. Sie sammelten ihre Sachen zusammen und folgten den Hütern des Gesetzes ohne ein Wort. Die anderen Fahrgäste im Bus, auch ich, blieben stumm. Das tiefe Unbehagen fand keine Worte, aber es verursachte Übelkeit. Nur scheue, missbilligende, ohnmächtige Blicke. Was hatte sie verbrochen, dass ihnen die Weiterfahrt verwehrt blieb?
Aus meinem Fenster erschienen mir die drei winzig zwischen den beiden fast eins neunzig großen Beamten. Der eine fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, von der Stirn zum Kinn, wandte seinen Blick von den Mädchen ab und strich sich seinen Schnurrbart glatt. Der andere telefonierte immer wieder und versuchte eine Antwort zu erhalten, ohne Erfolg, er wurde wütend. Eines der Mädchen schluchzte am Bein seiner Mama, wobei sich die kleine Brust unter dem Wintermantel unregelmäßig hob und senkte. Ihre Schwester machte mit der winzigen Hand einen Abschiedsgruß in meine Richtung, ich war erschüttert von der Traurigkeit in ihrem Gesicht und schämte mich, dass ich weiterfahren durfte, während sie da bleiben würde. Reglos mitten im Winter, festgehalten in der eisigen Februarkälte, zum Stillstand gezwungen, ausgebremst.
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Acht Erzählungen
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