Kinder- und Jugendromanen heute
Von Flucht, Rassismus und Armut (Teil 3)

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Von Jana Mikota

Rassismus/ Alltagsrassismus

Ein Teil der aktuellen Jugendliteratur wendet sich dem Thema Rassismus zu und stellt brutale Übergriffe auf Migranten und Asylsuchende in den Mittelpunkt der Handlung. Erzählt wird nicht nur aus der Perspektive der Opfer, sondern auch aus der Sicht der Täter. Exemplarisch soll der Jugendroman Dreckstück (2015) der Autorin Clémentine Beauvais vorgestellt werden, in dem der brutale Übergriff von französischen Jugendlichen an einem dunkelhäutigen Mädchen geschildert wird. Erzählt wird aus der Sicht der Täter. Es sind gelangweilte Jugendliche der französischen Oberschicht, die in Paris eines Tages die Schule schwänzen und den Unfalltod ihres Freundes verarbeiten. Sie sind arrogant, fühlen sich überlegen und schikanieren gerne ihre Umwelt. Obwohl sie reich sind, in großen Wohnungen und Häusern leben, machen sie Migranten für vieles, was im Lande schlecht läuft, verantwortlich. Damit entwirft die Autorin nicht Rechtsradikale aus den unteren Schichten, die aufgrund ihrer geringen Bildung auf Ausländer schimpfen, sondern zeigt, dass auch Jugendliche mit einer guten Ausbildung und vielen Chancen im Leben zu fremdenfeindlichen Übergriffen neigen. Spontan entführen sie ein dunkelhäutiges Mädchen, das sie zufällig treffen. Der Grund ist eine Laus, die sie im Haar des Mädchens sehen. Sie bringen es in die nahe gelegene Wohnung, in der einer der Jugendlichen, Gonzaque, lebt, fesseln es und überlegen, was sie machen. Schließlich werden ihre Haare rasiert, sie wird geschlagen und im Aufzug, immer noch gefesselt, in den Keller gefahren. Dort soll sie bleiben. Die Tat geschieht seltsam emotionslos, fast genauso gelangweilt wie die Jugendlichen sind, und kalt. Mitleid empfindet lediglich einer, der dann die Wohnung verlässt, um die Nachbarn vor möglichen Schreien abzulenken. Das Mädchen steht als Opfer für andere gequälte und geschlagene Migranten, bleibt namenlos und wendet sich erst drei Jahre später an einen ihrer Peiniger. Die Jugendlichen werden gefasst und bekommen trotz Reichtum und Einfluss Haftstrafen. Rassismus, insbesondere Alltagsrassismus, sowie Bewegungen wie black lives matter finden sich auch im Jugendroman, wobei hier Übersetzungen aus dem US-Amerikanischen eine große Rolle spielen. Insbesondere Übersetzungen aus den USA (u.a. von Jason Reynolds und Angie Thomas) erzählen in ihren Romanen vom Alltagsrassismus in den USA. Für den deutschsprachigen Raum soll exemplarisch der Roman Mats und Milad oder: Nachrichten vom Arsch der Welt (2021) von Eva Rottmann vorgestellt werden. Im Mittelpunkt stehen die beiden Jugendlichen Matilda, Mats genannt, und Milad. Mats ist neu in der Kleinstadt, sie kommt aus Berlin, fühlt sich fremd und begegnet Milad, als dieser auf den Bahnschienen steht und den nahenden Zug nicht wahrnimmt. Mats handelt sofort, rettet ihm das Leben auch wenn Milad meint, er hätte die Lage unter Kontrolle. Die beiden Jugendlichen freunden sich an, verlieben sich und erleben, da Milads Familie aus dem Libanon stammte, Rassismus und Ausgrenzung. Uticha Marmon zeigt anhand einer Kindergruppe in ihrem Roman Als wir Adler wurden (2020), wie schnell es zu Ausgrenzung und Rassismus in der Gegenwart kommen kann.

Umwelt-, Natur- und Klimaschutz: Die Klimaaktivistinnen erobern die literarische Welt

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Klima-, Natur- und Umweltschutz sind nicht nur seit Greta Thunberg und der Bewegung Fridays for Future ein wichtiges Thema der Kinder- und Jugendliteratur, sondern blicken auf eine fast fünfzigjährige Tradition zurück. Dennoch erlebt spätestens seit Fridays for Future die Thematik eine neue Hochzeit und zeigt auch einen Wandel, der sich sowohl darin zeigt, welche Themen erzählt werden als auch darin, wer die Rolle der Umweltschützerinnen und Umweltschützer repräsentiert. Im Kinderbuch konzentrierte man sich seit den 1970er Jahren verstärkt auf Natur- und Umweltschutz, Aktionen in der Lebenswelt der Kinder wurden vorgestellt und den kindlichen Umweltschützerinnen zur Seite gestellt wurden erwachsene Figuren, die sie aufklären. Dieses Narrativ wandelt sich, die kindlichen Figuren werden nicht nur aktiver, sondern besitzen immer mehr Wissen über Umwelt- und Naturschutz. Aber erst langsam weitet sich im Kinderbuch der Blick auf globale Zusammenhänge. Mit Antonia Michaelis‘ Serie Die Amazonas-Detektive (2021) verschiebt sich die eurozentrische Sicht in Richtung einer globalen Wahrnehmung spezifischer Umweltprobleme, denn die Handlung ist in Brasilien, genauer in Manaus und dem Bundessstaat Amazonas, angesiedelt und mit dem zehnjährigen Pablo betritt auch ein brasilianischer Detektiv und Umweltschützer die literarische Bühne. Entscheidend ist zudem, dass Michaelis zwar den Kriminalfall lösen lässt, aber die Kinder die wahren Täter nicht überführen können. Sie müssen feststellen, dass es sich Politiker und mächtige Männer aus der Wirtschaft handelt und diese so viel Macht besitzen, dass sie selbst morden können. Die ökologische Kinderliteratur weitet nicht nur den Blick, sondern zeigt so die Fragen nach Umwelt-, Natur- und Klimaschutz auch in globalen Kontexten.

Im Jugendbuch kann das Thema komplexer und globaler erzählt werden, ohne dass den Leserinnen und Lesern konkrete Lösungen angeboten werden. In den Romanen von Katja Brandis – White Zone, Im Schatten des Dschungels – rücken auch jugendliche Figuren in den Fokus, die mit nicht legalen Mitteln sich für Fragen des Natur- und Umweltschutzes einsetzen und damit auch die Frage thematisieren, wie weit man gehen darf. Ähnliches fragt auch Lukas Erler in seinem Roman Brennendes Wasser (2014), in dem er Fracking thematisiert und Jugendliche aus den USA und der BRD gegen diese Methode handeln lässt.

Beeinträchtigung

Spätestens seit Steinhöfels Rico, Oskar und die Tieferschatten (2008) wird Inklusion und Heterogenität mit neuen Erzählmustern in den Kinder- und Jugendromanen aufgenommen. Tiefbegabung, Autismus, Asperger-Syndrom oder Trisomie 21 werden selbstverständlich in die Handlung integriert. Kinder mit Handicap treten als Hauptfiguren und als Ich-Erzähler auf, bewegen sich in heterogenen Gruppen und scheinen akzeptiert zu werden. Sie werden mit alltäglichen Problemen konfrontiert und haben Freunde. Das war jedoch nicht selbstverständlich in der Kinder- und Jugendliteratur und bis in die 1970er Jahre beobachtet die Forschung (vgl. hier v.a. Reese, 2009, Nickel, 1999) eine „stereotype Ausrichtung bestimmter Darstellungsformen“ (Reese 2009, S. 4). Behinderung kann als Strafe verstanden werden, die der Behinderte „in Geduld, wissend, dass Gott auch [seine] Situation sieht und alles gerecht zugeht“ (Reese S. 4), erträgt. Andere Figuren, wie etwa Klara aus Heidi von Johanna Spyri, werden im Laufe der Geschichte gesund, leben jedoch vorher sanftmütig ihre Behinderung. Mit Das war der Hirbel (1973) von Peter Härtling erscheint zum ersten Mal in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur ein Werk, in dem ein geistig behindertes Kind im Mittelpunkt steht und damit markiert die Erzählung einen Wendepunkt (vgl. auch von Glasenapp 2014). Der Untertitel der Erzählung lautet Wie der Hirbel ins Heim kam, warum er anders ist als andere und ob ihm zu helfen ist. Härtlings schonungslose Darstellung, sein hoher Grad an Literarizität und seine Kritik am Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung wird zu keinem „Muster kinderliterarischen Erzählens über behinderte kindliche Akteure“ (von Glasenapp 2014, S. 11), vielmehr konzentriert sich die nachfolgende Kinderliteratur stärker auf Integration und setzt wie bspw. schon im Roman Die Vorstadtkrokodile (1976) auf ein (utopisches) Miteinander. Denn in dem Roman von Max von der Grün ist es schließlich der Junge im Rollstuhl, der zur Auflösung des Falles beitragen kann. Seit dem Erscheinen von Peter Härtlings Kinderroman Das war der Hirbel hat sich die Darstellung der kognitiven und körperlichen Beeinträchtigung in der Kinder- und Jugendliteratur gewandelt. Diversität wird als Chance wahrgenommen. Kinder- und jugendliterarische Akteure mit Beeinträchtigung haben eine Stimme bekommen, erleben ein soziales Umfeld und Akzeptanz. Neue Akzente setzen Romane wie Lars mein Freund (dt. 2019) von Iben Akerlie oder Helsin Apelsin und der Spinner (2020) von Stefanie Höfler. Der aus dem Norwegischen übersetzte Kinderroman schildert den Konflikt eines Mädchens, das sich um den neuen Mitschüler Lars, der Trisomie 21 hat, kümmern soll, gleichzeitig will sie aber zu den beliebten Schülerinnen und Schülern gehören, die Lars aufgrund seiner Beeinträchtigung verspotten. Akerlie beschönigt den Konflikt nicht, denn sowohl Amanda als auch Lars befinden sich an der Schwelle zur Pubertät und genau diese inneren und äußeren Konflikte werden im Roman nachgezeichnet. Damit weitet Akerlie durchaus den Blick auf Beeinträchtigung. Demgegenüber steht Höflers Kinderroman, der mit Helsin von einem Mädchen erzählt, das Wutanfälle bekommt. Dank des liebevollen Elternhauses, aber auch des verständnisvollen Umgangs der Lehrerin schafft es Helsin diese unter Kontrolle zu halten. Doch als sie der neue Mitschüler verspottet, explodiert sie erneut. Nah an der kindlichen Figur erzählt Höfler von ihren Nöten, aber auch Freuden und schafft es einen neuen Akzent zu setzen.

In seinem Buch Milchgesicht (2020) erzählt Duda von dem Aufwachsen zweier Kinder zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem österreichischen Bergdorf, schildert die (brutale) Ausgrenzung eines der Kinder aufgrund seiner Beeinträchtigung. Ähnlich wie auch Härtling, der die Zustände der Zeit, in der sein Roman Das war der Hirbel entstanden ist, anprangert, wendet sich auch Duda früheren Jahrzehnten zu und zeigt schonungslos den Umgang mit Menschen, die anders sind.

Aber nicht nur Beeinträchtigung ist ein wichtiges Thema der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur, auch von Krankheit(en) wird nach wie vor erzählt, wobei die Hochzeit, die einherging mit dem Bestseller Das Schicksal ist mieser Vertreter von John Green, vorbei ist. Vereinzelt erscheinen Titel, die von Depression und anderen psychischen Problemen erzählen. Ein ungewöhnlicher Roman ist bspw. Als mein Bruder ein Wal wurde (2017) von Nina Weger. Die Autorin erzählt vom Wachkoma und der schwierigen Frage nach Sterbehilfe, das bislang in der Kinder- und Jugendliteratur tabuisiert wurde. Im Mittelpunkt steht der Junge Bela, dessen älterer Bruder seinem Unfall im Wachkoma liegt und Bela muss beobachten, wie nach und nach seine Familie zerbricht.

Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik im erzählen Kinder- und Jugendbuch

Als letzten Komplex erwähnen sollte man auch den Bereich MINT, der zwar überwiegend im Sachbuch für Kinder und Jugendliche dominiert, aber es erscheinen auch im erzählenden Segment Kinder- und Jugendromane, die sich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik nähern. Nikola Huppertz Roman Schön wie die Acht (2021) erzählt bspw. von dem 12jährigen Malte, der Struktur und Mathematik mag und erleben muss, dass das Leben nicht wie eine klar strukturierte Mathematikaufgabe ist. Malte muss jedoch erleben, wie seine Halbschwester Josefina zu ihnen zieht, voller Wut auf den Vater, der sie und ihre Mutter verlassen und mit Maltes Mutter eine neue Familie gegründet hat, und voller Sorge um ihre Mutter, die an Krebs erkrankt ist. Naturwissenschaften und Informatik werden im Kontext Dystopien oder sog. Future fiction behandelt, oft wird in den Texten auch vor einem leichtsinnigen Umgang mit sozialen Netzwerken gewarnt. Aber nicht nur das: Dirk Reinhardts Roman Perfect Storm (2021) zeigt, wie Jugendliche sich gegen Unternehmen wehren, die Menschenrechte verletzen und Länder ausbeuten. Die sechs Jugendlichen, die sich während eines Computerspiels kennengelernt haben und in unterschiedlichen Ländern leben, wollen diese Verletzungen nicht akzeptieren und wollen ihre Computerkenntnisse nutzen, um die Machenschaften der Konzerne zu entlarven. In die spannende Handlung werden Fragen wie „ist es richtig so zu handeln?“ oder „darf man Gesetze brechen, wenn die Ziele ehrenwert sind“ gestellt und fordern so die Leserinnen heraus.
 

Fazit

Neben den genannten Themenfeldern existiert nach wie vor auch eine zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur, die sich mit der Shoah, dem Nationalsozialismus, aber auch mit der Geschichte nach 1945 auseinandersetzt. Einen wichtigen Akzent setzt Kirsten Boie 2021 mit ihrem Buch Dunkelnacht, in der sie die Ereignisse in Penzberg schildert.

Der kursorische Überblick über die Entwicklung zeigt auch, wie sehr sich Kinderliteratur verändert hat und gesellschaftliche Diskurse reflektiert, ohne jedoch ausschließlich Aufklärung reduziert zu werden. Vielmehr schafft es die hier vorgestellte Kinder- und Jugendliteratur mit anspruchsvollen literarischen Mitteln sich den komplexen Themenfeldern zu nähern, Kinder und Jugendliche zu einem Diskurs einzuladen und ihr Wissen zu erweitern.

 

Forschungsliteratur

  • Gansel, Carsten: All-Age-Trends und Aufstörungen in der aktuellen Literatur für junge Leser. In: Der Deutschunterricht H. 4, 2012, S. 2-11.
  • Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Cornelsen: Berlin 42010.
  • Kliewer, Annette (2004): Pädagogik der Vielfalt: Zoran Drvenkar: Niemand so stark wie wir. In: Kliewer, Annette/Schilcher, Anita (Hg.): Neue Leser braucht das Land! Zum geschlechterdifferenzierenden Unterricht mit Kinder- und Jugendliteratur. Schneider: Hohengehren, S. 172-181.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. WBG: Darmstadt 2012.
  • Wrobel, Dieter: Individualisiertes Lesen. Leseförderung in heterogenen Lerngruppen. Theorie – Modell – Evaluation. Schneider: Baltmannsweiler 2008.
  • Wrobel, Dieter: Kinder- und Jugendliteratur nach 2000. In: Praxis Deutsch, Nr. 224, 2010, S. 4-11.

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