Gegen alle (inneren) Widerstände entwickelte die Schriftstellerin Vesna Evans eine tiefe Zuneigung zur tschechischen Sprache. Als Zehnjährige war sie mit ihren Eltern 1993 aus Sarajewo nach Prag geflüchtet. Mehr als dreißig Jahre und unzählige Umzüge später ist sie um weitere drei Sprachen reicher, von denen jede ihren eigenen Zauber hat. Aber welche Sprache spricht die Zahnfee?
Du musst einkaufen, dazu die Dinge notieren, die du brauchst. Das macht jeder so, ganz einfach, nimm Stift, Papier und schreib los. Stift und Papier magst du nicht? Dann nimm das Handy, tipp’s da rein, Apps, To-Do-Listen, die Artikel kannst du auch Google diktieren oder den Mädels Alexa oder Siri, das alles geht. Aber nicht für dich. In deinem Fall ist es piepegal, ob du einen dicken Wachsmalstift in der Hand hältst oder ein Handy mit Anti-Prokrastinations-App, dein Problem bleibt. Du drückst den Stift auf den Block, konzentriert, zeichnest einen Punkt, mehr nicht. Du denkst noch gar nicht über die einzukaufenden Lebensmittel nach, denn du bist noch dabei zu überlegen, in welcher Sprache du schreiben sollst. Soll es deine Muttersprache sein? Die, in der du mit deiner Tochter, Mutter, deinem Vater sprichst, die kindlich, unschuldig, unentwickelt, verkümmert ist? Oder soll es dein Tschechisch sein? Das dich durchgeknetet, geschubst und genervt hat, bis es dich vor Liebe verschlang, dich geformt, entjungfert und gebildet hat? Oder dein Englisch? Einfach, direkt, global neutral, seit Jahren zur Hand, abgeklemmt von zu viel Gefühl? Oder gar das Norwegische? Das nicht deines ist und nie sein wird, aber doch braucht ihr norwegische Waren. Mit einem Mal und für allemal wird auch die entfernteste und fremdeste Sprache zu einer gegenwärtigen, praktischen und vielleicht auch zu deiner vierten.Werbiste, wasbiste, woherbiste?
Ich wurde in den Achtzigern als Jugoslawin in Sarajewo geboren, meine ersten Wörter und Sätze bildete ich auf Serbokroatisch. In der dritten Klasse schrieb ich Gedichte, die ich in serbokroatischer Sprache auf einem Schulwettbewerb rezitierte. Ein Jahr später, gerade um meinen zehnten Geburtstag herum, brach unvermittelt der Bürgerkrieg aus. Plötzlich gab es keine Schule mehr, die Kinder lungerten in den Straßen herum, sammelten leere Patronenhülsen, und wenn viel geschossen wurde, versteckten wir uns im Keller, manchmal im nahegelegenen Bunker. Meine älteren Freunde fragten mich nach meiner Nationalität, die jugoslawische reichte nicht mehr. Meinen Eltern konnte ich mit Mühe entlocken, dass ich eine Mischung aus Serbischem, Kroatischem und Muslimischem war und dass gerade diese miteinander Krieg hatten. Ich war keine Jugoslawin, und auch das Serbokroatische war futsch, und so verlor ich im Alter von zehn Jahren Nationalität und Muttersprache. Aber auch alles andere, außer meinem Bruder, meinen Eltern und vielleicht zwei Koffern.
Das Wohnhaus in Sarajevo, in dem Vesna und ihre Familie lebten. Vesna nahm dieses Bild nach dem Krieg auf. | Foto: © privat
Meine Großeltern hatten mir von ihren Nationalitäten nicht erzählt, sehr gut hingegen wusste ich, dass alle vier Partisanen und Kommunisten gewesen waren, gegen Hitler gekämpft hatten und aufrichtig stolz waren. Wären Tito und der Kommunismus nicht gewesen, hätte ein Mädchen aus einer traditionellen muslimischen Familie einen Burschen aus einer traditionellen kroatischen Familie nicht heiraten und schon gar nicht einige Jahre später sich von ihm scheiden lassen können; sie wäre auch nicht ohne Groll, geschweige denn Enterbung, von der eigenen Familie wieder aufgenommen worden. Die Geschichte der Tschechoslowakei kannte ich nicht, ich wusste bloß, dass man sich, im Unterschied zu uns, im Frieden getrennt hatte, was uns Kriegsgeflüchteten imponierte. Schnell hatte ich aber die grundlegendste Aussage gelernt: Dass hier der Kommunismus schlecht ist. Ohne Diskussion.
Und dann die tschechische Sprache... Als ich 1993 in eine klassische tschechische Schule kam, wusste niemand, wie man auf ein zehnjähriges Mädchen zugehen sollte, das kein Wort Tschechisch konnte. Die Lehrer hatten keine Anleitungen, Assistenten, Empfehlungen, alles war reine Improvisation und ihre immense Geduld. Die tschechische Sprache wollte ich nicht, aber ich wollte schreiben – Gedichte, Reflexionen, Erzählungen, Lesetagebücher. Und so bekam ich dank der Aufsätze und der Lesetagebücher bald anständige Noten in Tschechisch und Literatur und meisterte allmählich auch die Diktate. In der siebten oder achten Klasse war ich Mitbegründerin der Schülerzeitung und begann, in meine Tagebücher, die ich seit meinem neunten Lebensjahr führte, allmählich tschechische Wörter einzuflechten. Hier ein Wörtchen, wenn mir der Ausdruck in meiner Muttersprache gerade nicht einfiel, dort ein ganzer Satz, um ein tschechisches Gespräch wiederzugeben. Nonchalant hatte mich die tschechische Sprache gewonnen, noch eine ganze Dekade eher als dann auch die Prise Tschechentum.

Jahr um Jahr war das hunderttürmige Prag, ewig nur ein leiser Schatten, hinter mir hergeschlichen, und erst als ich beide Städte für längere Zeit verließ, holte es Sarajewo ein, stritt ihm den Vorrang ab und warf sich majestätisch vor mich: „Von nun an wird deine Rückkehr zu mir sein.“ Nicht nur die Sprache, auch die Hauptstadt hatte mich verschlungen. Doch das Tschechentum lasse ich mir nicht aufdrängen, sagte ich mir. Die Sprache hatte ich gebändigt, da hatte ich keine Wahl, in Prag waren meine Familie, Freunde, da ließ sich nichts machen, ihm gehörten die Jahre, die mich formten, doch dass ich zur Tschechin werde, würde mir doch wohl nicht passieren. Ich erinnere mich, wie mich ein befreundeter Schriftsteller beneidete, dass meine Bücher bloß meines Nachnamens Tvrtković wegen als „internationale Literatur“ galten, ich solle doch froh sein, international zu sein, gleich neben Turgenjew zu stehen. Er hatte leicht reden, selbst gehört er so vorbehaltlos irgendwohin. Meinen Namen ändere ich nicht, echte Tschechin werde ich ohnehin nie, das ist so, ich darf doch nicht wählen, und ansonsten reicht meine Aufenthaltserlaubnis zu allem aus. Sagte ich mir damals.
Tschechisch, tschechischer, am tschechischsten
Doch dann hatte ich einen ausländischen Freund, und paradoxerweise seinetwegen ersehnte ich mir nun plötzlich das Tschechentum. Wir wollten zusammenbleiben, doch als sein Studium in Prag endete, musste er zurück nach Norwegen, weil er dort eine Arbeitsstelle bekommen hatte. Wenn ich nun ins Ausland umzog, was bliebe dann in meinem Leben noch von Tschechien übrig? Bloß ein touristisches Ziel? Ich bekam Panik und beschloss in diesem Moment, meine Beziehung zu Tschechien nun offiziell, auf dem Papier, unleugbar, in gesunden wie in kranken Zeiten, in Reichtum wie in Armut, bestätigt haben zu wollen. Ich hielt die Tschechische Republik um ihre Hand an, und nach Vorlage zahlreicher Verträge, Bestätigungen, Erklärungen und nach Zahlung von zweitausend Kronen wurde mir gewährt den Eid zu schwören: „Ich schwöre auf meine Ehre, der Tschechischen Republik treu zu sein. Ich schwöre, ihre Verfassung und alle weiteren Gesetze der Tschechischen Republik einzuhalten.“ Sie wollte mich und bestand nicht einmal darauf, dass ich mich von Bosnien und Herzegowina scheiden ließ! Und so gingen wir vor zehn Jahren ganz modern diese polygame Ehe ein, nur damit ich daraufhin beiden den Rücken kehrte und mich in Norwegen niederließ.Wenn ich mich bei meinen tschechischen Freunden beklage, wie sehr mir Tschechien fehlt, können die das meistens nicht verstehen. „Was fehlt dir denn? Die ständig miesgelaunten Fressen? Die rückständige Politik? Die irren, rücksichtslosen Autofahrer?“ Natürlich nichts davon, aber etwas schon, und so machen sie sich über mich lustig, dass ausgerechnet ich wohl die einzige Tschechin bin, der in Norwegen die tschechische Kleingeistigkeit fehlt. Ich habe jedoch zwei Jahrzehnte gebraucht, mich zum Tschechentum durchzuringen, diese widerspenstige Sprache zu bändigen, die Kultur liebzugewinnen, an diesem neuen ungewollten Leben zu hängen, um dann mit einem Mal, schon zum zweiten Mal in meinem Leben, alles Gelernte und Bekannte abzuwerfen. Die ursprünglich fremde Sprache, in der ich aber über die Jahre hinweg die meisten Bücher gelesen, die meisten existentiellen Probleme gelöst habe und in der ich mich am besten ausdrücken kann, Artikel, Bücher, diesen Essay schreibe... diese mühsam errungene und liebgewonnene Sprache ließ ich irgendwo weit hinter mir und war wieder einmal Anfängerin, diesmal in der vierten Sprache.
Auch die Fee ist mehrsprachig
Als ich umzog, war ich schwanger und belastete meine noch ungeborene Tochter bereits mit der Bürde des Multilingualismus. Ich schrieb für sie meine Schwangerschafts-Gedankenströme auf und hatte so schon ab dem fünften Monat hohe sprachliche Ansprüche und Anforderungen an sie, setzte sie unter Druck, dass, falls sie kein Tschechisch beherrsche, sie weder diese Notizen noch meine Bücher würde lesen können. Meiner Herkunft, meiner Eltern, meiner Muttersprache wegen redete ich mit meiner Tochter Bosnisch, aber meinetwegen brachte ich ihr auch Tschechisch bei.Vor Kurzem hat sie einen Zahn verloren. Mit ihren neun Jahren glaubt sie nicht mehr wirklich an die Zahnfee, dennoch möchte sie die mythischen Wesen auch nicht so ganz aufgeben, ein bisschen will sie noch an Magie glauben oder sich vielleicht auch nur etwas Geld verdienen, das weiß ich nicht, auf jeden Fall fiel mir um zwei Uhr nachts ein, dass ihr rechter unterer Eckzahn unter ihrem Kopfkissen bereitlag, sodass ich noch einmal aufstehen und die Situation irgendwie lösen musste. Fee sein oder nicht? Mich mit einem letzten echten Brief verabschieden oder mich bedanken und etwas Kleingeld hinterlassen? Ich beschloss, noch ein letztes Mal Fee zu sein. Würde doch bald mein Zauberstab der Pubertät zum Opfer fallen, die die Mama als schillerndes mythologisches Wesen in die fiese Schneewittchen-Stiefmutter verwandelt! Unsere Zahnfee jedoch kann nicht monoton einsprachig sein, man weiß also nie, in welcher Sprache sie ihre Nachrichten schreibt, wenn nicht gar bilingual. Verschlafen machte ich mich an den letzten Zahnbrief, und wenn schon zum letzten Mal, dann mit allem drum und dran.
radost tě vídat, ve vašem světě.
Du, ei jente, som alltid er så snill,
jeg er en del av magien din.
Umím tolik jazyků, koliko znaš i ti,
biću tu uz tebe, as long as you believe in me.
Put pun avantura, fairy dust and all,
ať je toho fůra, before you get too tall.
Takk for tannen!
Tvá Zoubková víla – Deine Zahnfee

Weniger rumkutschieren, mehr umherziehen
Ich bin einundvierzig Jahre alt und bin in meinem Leben zweiundzwanzigmal umgezogen, davon dreizehnmal in eine andere geografische Region, ein paarmal auch in ein anderes Land, damit verbunden eine neue Sprache. Es wäre nicht schlecht, auf die oben erwähnten Sprachrätsel zu verzichten, eine Wohnung, ein Familiennest zu haben, das wir verschönern könnten, ein Land und eine fassbare Ethnie zu haben, nicht multi und poly zu sein, sondern mono zu leben.Mich faszinieren sinnvoll eingerichtete Wohnungen mit hochwertigen Möbeln und Sets mit allem Nötigen griffbereit, einer komplett ausgestatteten Küche, einer massiven maßgefertigten Bibliothek, einem klar definierten und entsprechend dekorierten Kinderzimmer. Aber ich fühle mich nach solchen Besuchen auch jedes Mal altersmäßig zurückgeblieben, in der Pubertät verkümmert, nicht ausreichend, denn wir haben im Schnitt etwa zehn Studentengläser, die für Bier und Wein mitgezählt, zehn Teller – Untertassen inklusive – unsere Möbel verkaufen oder verschenken wir mit jedem Umzug und legen sie uns bei der Gelegenheit auch zu, die „neuen“ Bücher haben wir bei meinem Vater in Prag, bei der Schwiegermutter in Oslo, ein paar in unserer Wohnung, die wir für ein halbes Jahr gemietet haben, der Rest lagert in einem angemieteten Lagerraum. Und obwohl ich mir als Kind von Geflüchteten nicht ein Land und eine Sprache bewahren konnte, so habe ich doch meinen Mann selbst gewählt, warum ist es kein Tscheche geworden? Oder wenigstens einer aus dem ehemaligen Jugoslawien? Und wenn schon ein Ausländer, warum muss er dann halb Norweger und halb Amerikaner sein?

Derzeit verbringen Vesna und ihre Familie viel Zeit in Norwegen. | Foto: © privat
April 2024