Kinder des Krieges und ihre Geschichten  Ich möchte ein Storch sein…

Ich möchte ein Storch sein… - Kinder des Krieges und ihre Geschichten Illustration: © Tetiana Kostyk

In einem friedlichen Land scheint das Thema Krieg viel zu erwachsen, um Kinder damit zu belasten. Aber in Ländern, die angegriffen wurden, haben auch die Kleinen leider keine Wahl. Unsere Kinder sind jetzt Kinder des Krieges, die sich über viele Jahrzehnte mit den Folgen dieser Tragödie werden auseinandersetzen müssen. Wie sehen ukrainische Kinder den Krieg? Wie erleben sie ihn?

Während ich an meinem Buch arbeitete, sammelte ich viele Kinderzeugnisse. Einige Geschichten fanden mich zufällig in Buchhandlungen, Bibliotheken, Freiwilligenzentren, auf Spielplätzen… Andere habe ich im Rahmen von Interviews mit Elternerlaubnis aufgezeichnet. Es sind Kinder aus verschiedenen Regionen der Ukraine. Manche von ihnen blieben im Heimatland, andere fanden Zuflucht in Westeuropa. Alle diese Kinder spürten den Krieg auf die eine oder andere Weise. Sie überlebten die Invasion und Evakuierung, verloren ihr Zuhause, ihre Angehörigen oder ihre Heimatstadt und versuchen nun, ihre Welten wiederherzustellen. Kinder haben eine direkte und ehrliche Art, über Erfahrungen zu sprechen, die Erwachsene entweder als unbedeutend abtun oder über die sie sich nicht zu äußern trauen. Gerade in den Geschichten der Kinder sind die wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft und ihrer Zukunft verborgen.

Anfang

„In meiner Stadt begann der Krieg im Jahr 2014, als ich noch in den Kindergarten ging. Ich erinnere mich, dass ich am Vorabend einen seltsamen Traum hatte. Es war, als würden wir weglaufen, während alles um uns herum explodierte. Ich sagte dann zu meinen Eltern: ‚Morgen wird Krieg sein.‘ Sie glaubten es nicht, aber am nächsten Tag gingen wir in den Park und hörten Explosionen. Wir dachten, es wären Feuerwerke, aber nein. Wir rannten unter den Geräuschen des Krieges nach Hause, und dieser Weg schien endlos.“

Nastja, 14 Jahre, Mariupol

Damals war es den ukrainischen Verteidigern gelungen, Mariupol schnell von nicht gekennzeichneten militärischen Formationen zu befreien, aber im Jahr 2022 wiederholte sich alles mit einem weit schlimmeren Ausgang. Nastja verlor ihr Zuhause an der Küste des Asowschen Meeres, in das ihre Familie kurz vor der Invasion gezogen war. Sie verlor ihren Großvater, weil es aufgrund der Blockade der Stadt an Medikamenten mangelte. Sie dachte, sie hätte ihren Onkel verloren, aber er wurde kürzlich gefunden, ein Zivilist in russischer Gefangenschaft. Ihre zwei engsten Freundinnen sind in anderen Ländern, und Nastja vermisst sie sehr. In einigen Jahren wird das Mädchen zu einer Erwachsenen werden, deren Kindheit größtenteils von Krieg geprägt war. Jetzt ist Nastja in Litauen, das sich intensiv auf die Verteidigung vorbereitet.

Zuhause

„Ich bin Saxophonist, mache auch Kickboxen und lerne Englisch. Am Donnerstag um acht sollte ich Kickboxen haben. Ich stellte den Wecker auf 6:40, wachte auf und schrieb einem Klassenkameraden: ‚Was ist die Hausaufgabe für Englisch?‘‘‘Welches Englisch? Krieg!‘ ‚Hör auf zu scherzen, sag mir die Hausaufgabe.‘ Und ein paar Tage später hatte ich kein Haus mehr.“

Iwan, 14 Jahre, Tschernihiw

Der Verlust des Hauses, eines Ortes voller warmer Erinnerungen, ist immer schmerzhaft. Iwan und seine Mutter flohen vor den Beschüssen über Minenfelder, da die Stadt teilweise umzingelt war. Mit dem Haus verlor Iwan auch die Möglichkeit, mit seinen Lieblingslehrern weiter zu lernen und seine Talente zu entwickeln. Jetzt gibt es in seinem Leben weder Saxophon noch Kickboxen, und er versucht, die Lücke zu füllen, die an der Stelle seines früheren Lebens entstanden ist. Immer noch spricht der Junge im Präsens über seine Lieblingsaktivitäten und träumt davon, in seine Heimatstadt Tschernihiw zurückzukehren.

Schuld

„Jetzt kaufen wir nicht mehr viel Schreibwaren auf einmal. Denn das machten wir am 23. Februar und dann begann der Krieg. Dann wagten wir es, am 9. Oktober einzukaufen, und am 10. flogen wieder Raketen. Vielleicht wäre nichts passiert, wenn wir das nicht getan hätten.“

Matwij, 9 Jahre, Dorf Chotiw, Oblast Kyjiw

Diese Geschichte teilte der Junge mitten während der Präsentation meines Buches in einer Buchhandlung mit. Andere Kinder stimmten seinen Gedanken zu und erinnerten sich daran, was sie am 23. Februar 2022 „falsch“ gemacht hatten. Zu akzeptieren, dass man nur deshalb getötet wird, weil man in seinem eigenen Land lebt, und dass dies jedem passieren kann, ist zu schmerzhaft und kommt der Drohung eines vollständigen Kontrollverlustes gleich. Wenn du von so vielen wunderbaren Menschen umgeben bist, die einander lieben, wie kann es jemanden geben, der deine Welt zerstören will? Deshalb sind die Schreibwaren schuld. Man muss sie nach und nach kaufen, dann wird es keinen Krieg geben.

Spiele

„Als alles begann, hatten wir ein neues Spiel: Hörst du Donner – ab in den Keller. Die Jüngere mag es. Aber der Ältere versteht nicht, warum wir uns früher nie vor dem Donner versteckten.“

Junge Frau, Charkiw

Wir trafen uns auf einem Spielplatz in einer Stadt im Hinterland. Während die Frau ihre Tochter auf der Schaukel schwang, passte ich auf meine eigenen Kinder auf. Meine achtjährige Tochter Darynka spielte in den ersten Wochen der Invasion mit ihrem Ballerina-Mäuschen das Thema Deportation nach. Sie sagte, die Russen hätten das Mäuschen dorthin gebracht, wohin einst die Krimtataren deportiert wurden, wie im Lied von Jamala. Darynka suchte Sibirien auf der Karte und zeigte mit dem Finger darauf. Der dreijährige Sohn packte unaufhörlich Spielzeug in einen Koffer und fragte immer wieder, wann wir nach Hause zurückkehren würden, nur um dann sofort wieder auszupacken. Neulich hat er ein neues Spiel ausgetüftelt: Man baut ein Häuschen aus Kissen und Decken, lädt Tierfreunde zum Besuch ein und lässt dann eine Rakete fliegen. Sofort verstecken sich alle unter dem Bett, während er den Tierchen erklärt: „Bumm-bumm! Krieg!“

 

Freunde

„Als wir aus der Besatzung flohen, blieben meine Freunde zurück, um unser Haus zu bewachen. Der gestrickte Bär Lapa, das kleine Rentier Switer… Sie wurden von meinen Paten geschenkt, als meine Mutter starb. Das sind keine Spielzeuge! Das sind meine Freunde! Wir feiern ihre Geburtstage, essen Kuchen aus Filzstiften und jeden Tag bringe ich sie ins Bett. Ich vermisste meine Freunde sehr… Und eines Tages trafen wir uns wieder! Sie reisten durch vier Länder zu mir. Jetzt, wenn ich irgendwohin gehe, sind meine Freunde immer dabei.“

Andrij, 7 Jahre, Cherson

Wenn ein Kind seine vertraute Welt verliert, gewinnen bestimmte Dinge eine besondere Bedeutung. Nach dem Verlust seiner Mutter bekam Andrij Spielzeuge, mit denen er seine Gedanken und Gefühle teilte, als wären sie Freunde. Eigentlich spielte er nicht wirklich Spiele mit ihnen, sondern führte ganze Gespräche. Nachdem die russischen Truppen Cherson besetzt hatten, mussten Andrijs Vater und seine Großmutter schnell packen, und die Spielzeugfreunde blieben in der Besatzung zurück. Kürzlich erhielt ich ein Video vom Vater des Jungen: Andrij hatte einen Kuchen aus Filzstiften gemacht und den Geburtstag einer weiteren Freundin gefeiert, der blau-gelben Sironka (Sternchen), die ebenfalls nach Deutschland gekommen war.

Träume

„In einer Sommernacht saßen wir während eines Luftalarms im Bunker. Über unserem Haus flogen echte Raketen. Wir waren traurig, und wegen der Enge konnte niemand schlafen. Dann fanden wir auf YouTube einen Livestream von Storch Hrytsko aus der Region Poltawa. Da dachte ich: Ich möchte auch ein Storch sein, Frösche essen und mich nicht vor dem Alarm verstecken müssen... Tausende von Ukrainern schauten sich um ein Uhr nachts diese Störche an und dachten über Reinkarnation nach.“

Platon, 15 Jahre, Novi Petriwtsi

In der Nähe von Hrytskos Nest hört man keine Sirenen, aber nur weil dort keine Warnsysteme installiert sind. Es ist eine fragile Illusion des normalen Lebens, die uns allen fehlt. Träume können dabei helfen, Brücken in die Zukunft zu bauen und uns versichern, dass die Zukunft kommen wird, selbst wenn unser Blick nur ein paar Stunden oder Tage in die Zukunft reicht.

Ich erinnere mich an ein Mädchen in einer meiner Märchentherapiesitzungen in einem Freiwilligenzentrum. Sie träumte von einem Wolf. Sie erzählte, dass ihre Eltern ihr nach der Rückkehr nach Saporischschja einen Hund versprochen hatten, aber ein Hund würde für den Schutz vor dem Krieg nicht reichen, also wäre ein Wolf besser. Sogar einen Spitznamen hatte sie bereits für ihn.

Identität

„Seit meiner Kindheit habe ich eine beste Freundin, Wika. Wir sind beide weggezogen, aber wir wollen zurückkehren. Jeden Tag rufen wir uns an, um ukrainische Wörter zu wiederholen, damit wir sie nicht vergessen. Das letzte Mal gingen wir die Monate durch: Ich sagte ‚März‘, sie antwortete mit ‚April‘, ich sagte dann ‚Mai‘, und sie darauf ‚Juni‘, und so weiter, bis ‚Februar‘.“

Nastja, 14 Jahre, Mariupol

Eine der schmerzhaftesten Fragen, die ich während einer Lesung in Deutschland hörte, war: „Können Sie dieses Wort ins Russische übersetzen, denn ich fange an, Ukrainisch zu vergessen?“. Viele Kinder aus dem Osten und Süden der Ukraine wuchsen in Familien auf, deren Vorfahren von der jahrhundertelangen brutalen Politik der Russifizierung betroffen waren. Die ukrainische Sprache wurde verboten, Bücher zerstört, und unsere kulturelle Elite regelmäßig und massenhaft erschossen. Gegen die Bäuerinnen und Bauern, Träger*innen der ukrainischen Sprache und Traditionen, veranstaltete Stalin von 1932 bis 1933 eine künstlich herbeigeführte Hungersnot, den Holodomor, weil sie sich gegen die gewaltsame Kollektivierung wehrten. Während dieses Genozids starben etwa vier Millionen Ukrainer*innen. Diejenigen, die überlebten, wie meine Großmutter Tanja, hatten Angst, ihre nationale Zugehörigkeit zu zeigen, und wechselten zur russischen Sprache. Erst nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 begann der allmähliche Prozess der Rückkehr zur Sprache der Vorfahren. Heute ist es für viele geflüchtete Kinder eine schwierige Aufgabe, ihre noch nicht gefestigte sprachliche Identität zu bewahren.

Einsamkeit

„Die Schule, in der ich gelernt hatte, wurde völlig zerstört, und die Beschüsse in der Stadt hörten nicht auf. Meine Mutter brachte mich nach Deutschland, damit ich weiterlernen konnte und eine Chance auf ein normales Teenagerleben hatte, dort, wo Frieden und Ruhe kein Luxus sind, sondern die Norm. Aber hier fühle ich mich fremd. Alles ist hier so anders als in der Ukraine: Die Sprache, das Essen, die Bräuche. Meine Seele sehnt sich nach Hause, und ich träume davon, nach Charkiw zurückzukehren. Die Erinnerungen an unsere Abende mit Freunden und Familie, an sorglose Spaziergänge im Park und Träume von der Zukunft sind zu meinem Lieblingsgedankenort geworden. Jeden Tag kehre ich dorthin zurück.“

Karolina, 14 Jahre, Charkiw

Viele ukrainische geflüchtete Kinder, mit denen ich in Deutschland, Polen, Litauen und der Slowakei sprechen konnte, fühlen sich einsam. Manchmal ist der Schmerz der Einsamkeit so stark, dass Kinder Selbstmordgedanken haben, und eine Psychotherapie liefert nicht immer dauerhafte Ergebnisse. Manchmal entscheiden sich Familien für die Rückkehr in die Ukraine und geben an, dass sie sich trotz der ständigen Lebensgefahr glücklicher fühlen. Kinder erleben wieder ein Gefühl von Zuhause, Nähe und Zugehörigkeit sowie eine sichere Verbindung zu denen, die sie lieben. Dadurch wird die emotionale Sicherheit zu einem stärkeren Bedürfnis als die physische. Gleichzeitig erkennen diese Familien, dass dies ein Leben am Rande des Todes ist.

Tod

„Man sagt, es gibt ein Spiel, das russisches Roulette heißt. Die Russen spielten es auf unserer Straße: Eine Kolonne mit friedlichen Autos ließen sie durch, die andere schossen sie nieder. Mein Patenonkel hatte kein Glück. Wir begruben ihn zwei Monate später nach der Exhumierung.“

Wasylyna, 9 Jahre, Oblast Kyjiw

Ich traf Wasylyna in einer Bibliothek Anfang Juni 2022. Das Mädchen kam mit einer Freundin, um neue Bücher zu holen. Nach der Befreiung des Dorfes Busowa in der Nähe der sogenannten Todesstraße hatte man das Auto mit dem Körper ihres Patenonkels gefunden. Als Wasylyna davon erzählte, hatte sie ein leichtes Lächeln auf den Lippen, ihre Stimme klang fröhlich, als ob sie einen Film nacherzählte und all das nicht wirklich passiert war. Wahrscheinlich wird ihr das volle Ausmaß des Verlustes erst später bewusst werden, wenn die Wunde nicht mehr so frisch ist.

Während ich als Freiwillige in einem Camp für Kinder arbeitete, die durch den Krieg Angehörige verloren hatten, hörte ich viele schmerzhafte Geschichten und bewunderte die Psycholog*innen, die den Kindern helfen, Stützen zu finden, um weiterzuleben. Eine Jugendliche schrieb während meiner Sitzung einen Aufsatz über ihre Nachtträume und schenkte mir dann ein Spielzeug, das sie selbst genäht hatte. „Mein Vater liebte es, Gedichte zu schreiben, und ich liebe es zu nähen und zu malen… Das ist ein Teddybär für Sie, den ich sieben Stunden lang genäht habe. Wenn Sie mal traurig sind, soll er Sie umarmen.“

Stille

Von dem Überleben des achtjährigen Mädchens Marharyta in ihrem Heimatdorf in der Region Charkiw wird hier keine Geschichte erzählt, denn es war der Krieg, der sie überlebt hat. Das Mädchen wurde von einer russischen Granate getötet, als sie ein Buch auf einer Bank neben ihrem Haus las.

Es fehlen auch Geschichten von den anderen 546 ukrainischen Kindern, die bisher von Russland getötet wurden (Stand 14. Mai 2024), in Pyjamas in ihren eigenen Betten, in Autos, in Kindergärten, auf Spielplätzen mit Karussells, in Einkaufszentren, Cafés und sogar in Geburtshäusern. Diese Kinder waren brav, und viele von ihnen bekamen Besuch vom Nikolaus. Aber sie werden nie erwachsen werden und eigene Kinder haben, um den Lebensfaden fortzusetzen. Das ist ein Teil der ukrainischen Zukunft, der abgeschnitten wurde.

Auch die von Russland entführten Kinder können ihre Geschichten hier nicht erzählen. Für sie wird die trockene Statistik sprechen: 19.546 ukrainische Kinder wurden deportiert laut dem Nationalen Informationsbüro und 744.000 laut offenen Quellen, die von Russland veröffentlicht wurden. Viele der entführten Kinder werden in militarisierten Lagern festgehalten, ihre Nachnamen und Geburtsdaten geändert, sie werden gezwungen, die russische Hymne zu singen und zu glauben, dass ihre Familien in der Ukraine sie verlassen haben. „Unsere Kinder zieht Russland zu einer neuen Armee heran, die in einigen Jahren weiter nach Europa vorrückt“, sagt die Lehrerin Julija, die kürzlich aus der besetzten Krim ausgewandert ist und die Möglichkeit hatte, die Aktivitäten solcher Lager auf der Halbinsel zu beobachten.

Über Jahrhunderte hinweg stiehlt Russland unsere Zukunft, aber jetzt wird diese Tragödie sichtbar. Welche Verantwortung tragen wir als Erwachsene der zivilisierten Welt gegenüber den Kindern des Krieges? Wie viele Granaten, Drohnen, Flugzeuge und Luftabwehrsysteme braucht es, um das friedliche Leben zu schützen? Wie viel kostet heute das Leben eines Kindes im Herzen Europas?

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