Das dritte Geschlecht im Süden Mexikos  Kein Paradies für Muxes

Naomy Mendez Romero. Glücklicherweise hat sie noch keine Gewalt erlebt, obwohl sie nicht verheimlicht, dass sie eine Muxe ist.
Naomy Mendez Romero. Glücklicherweise hat sie noch keine Gewalt erlebt, obwohl sie nicht verheimlicht, dass sie eine Muxe ist. Foto: © Jana Čavojská

Bei den Zapoteken, einem indigenen Volk im Süden Mexikos, gab es schon immer ein drittes Geschlecht. Als „Muxes“ (ausgesprochen: Mu-sches) bezeichnet man dort Menschen, die als Mann geboren werden, sich aber als Frau empfinden und sich zu heterosexuellen Männern hingezogen fühlen, also ohne Hoffnung, dass ihre Liebe erwidert wird.

Für viele traditionelle Völker und Gemeinschaften ist die Geschlechtszugehörigkeit nicht binär. Sie haben ein drittes, bisweilen sogar ein viertes Geschlecht, das einen festen Platz in der Gesellschaft hat. Solche Völker sehen das Geschlecht eines Menschen dabei auch nicht in Bezug auf die Sexualität, sondern in Bezug auf kulturelle Identität, Spiritualität und Traditionen.

Lukas Avendaño (47) wurde im Süden Mexikos als „Junge“ geboren. „Mir war immer klar, dass ich mich anders bewege und anders spreche als andere Jungen. Ich half meiner Mutter gern in der Küche und kümmerte mich um eine Puppe wie um ein Baby. Beim Spielen mit anderen Kindern wählte ich natürlich weibliche Rollen und gab mir weibliche Namen. Die anderen Kinder hielten das für normal.“ Sein Vater erkannte sehr früh, dass er neben seiner Tochter und seinen Söhnen auch eine Muxe zu Hause hatte. Er war Boxer und er brachte allen seinen Kindern das Boxen bei. „Er trainierte und erzog mich wie einen Mann. Er glaubte, dass mich das vor allem Schlechten schützen würde, was mich als Muxe in der Welt erwartet.“

Lukas litt in dieser Kultur, in der Mädchen zu Prinzessinnen und Königinnen stilisiert werden. Ein schön herausgeputztes Mädchen ist hier immer die Königin der Fiesta. Und auch er sehnte sich nach all dem: der traditionellen farbenfrohen Oaxaca-Tracht, der Frisur, dem Make-up, dem kräftigen Lippenstift. Er freute sich mit seiner Schwester, als diese ihre Quinceañera hatte, eine große Feier zu ihrem 15. Geburtstag, und auch, als sie ein paar Jahre später ihr Hochzeitskleid anlegte, doch gleichzeitig schmerzte es ihn, dass er so etwas nie erleben würde.
 
Eine Frau im Körper eines Mannes
Wenn ich verstehen will, was Lukas in seiner Persönlichkeit ausmacht, muss ich die westliche Denkweise hinter mir lassen, in der wir Menschen und ihre Seelen automatisch in einem binären Code von männlich und weiblich sehen. Ich beobachte, wie Lukas seinen langen Zopf über die Schulter wirft, grazil den Kopf senkt, seinen Blick hebt und lächelt. Darin liegt so viel Weiblichkeit, obwohl ich körperlich einen Mann vor mir habe. Wir haben uns in Mexiko-Stadt verabredet. Hier war Lukas heute wegen der Suche nach seinem vermissten Bruder Bruno bei einigen Ämtern. Offiziell ist er ein Mann, so steht es auch in seinem Ausweis, und auf dem Foto sieht er aus wie ein Mann. Wenn er sich wie eine Frau kleiden und schminken würde, hätte er keinen Zutritt zu den Regierungsgebäuden. Deshalb trägt er Jeans und ein weißes Hemd. Manchmal trägt er auch Männerkleidung, um sich sicher zu fühlen.

In der mexikanischen Gesellschaft, die von Machismus und Katholizismus geprägt ist, haben es die Muxes nicht leicht. Oft begegnen ihnen nicht nur Unverständnis und Verachtung, sondern es kommt auch zu körperlichen Übergriffen.

Aber Lukas wurde in Juchitán de Zaragoza, einer Stadt im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca geboren, wo für die indigenen Zapoteken das dritte Geschlecht stets ein natürlicher Teil der Gesellschaft war. Eine Muxe war ein Mann, der als Mann geboren wurde, sich aber als Frau fühlt und heterosexuelle Männer liebt, also ohne Hoffnung, dass seine Liebe erwidert werden könnte. Das bleibt ein Traum, eine Fiktion, denn selbst wenn ein Mann der Muxe erliegt, kann er sie letztlich nur als Mann lieben... früher lebten manche Muxes das Leben einer Frau, andere das eines Mannes, wieder andere schwankten zwischen beiden Geschlechtern, und niemand fand das seltsam. „Erst die spanischen Kolonisatoren brachten uns die Vorstellung der Geschlechter als männlich und weiblich“, sagt Lukas.
 
Zwei Seelen
Dem mexikanischen Soziologen Alfredo Mirandé, der seit sieben Jahren das Phänomen der Muxes in Juchitán de Zaragoza erforscht, erzählte die Mutter einer Muxe, dass es sich um ein Geschenk Gottes handelt: „Muxe ist eine zapotekische Bezeichnung für eine Person, die physiologisch gesehen männlich ist, deren soziale und gesellschaftliche Eigenschaften jedoch weiblich sind.“ Die Zapoteken sehen eine Muxe auch als eine Person, die zwei Seelen hat. Ein Geschenk Gottes sei ein solcher Mensch deshalb, weil eine Muxe sich um alte oder kranke Menschen kümmert. Und zwar auch besser, als eine Frau sich um sie kümmern könnte, da eine Muxe „weibliche Güte und männliche Stärke“ in sich vereinen würde. Denn es ist so, dass ein Sohn oder eine Tochter heiratet und so sind die Eltern im Alter auf die Hilfe einer Muxe angewiesen. „Die zapotekische Identität der Muxe als Mann mit zwei Seelen hat ein eigenes Gender, also ein soziales Geschlecht mit eigenem Lebensstil und einem eigenen Platz in der Gesellschaft geschaffen“, so Alfredo Mirandé.

Beim Phänomen der Muxes geht es also nicht in erster Linie um Sexualität. In der Funktionsweise der zapotekischen Gesellschaft hatten die Muxes ihren festen Platz. Die Frauen waren dort traditionell schon immer emanzipiert. Sie blieben nicht zu Hause bei ihren Kindern, sie hatten ihre eigene Arbeit und gingen eigenen Tätigkeiten nach. Viele Männer fuhren hingegen zum Fischen auf den Ozean hinaus. Die Eltern wussten, dass, wenn sie nicht nur Töchter und Söhne, sondern auch eine Muxe zu Hause hatten, diese sich auch um die anderen Kinder kümmern und auf sie aufpassen würde. Heute gehören zu den Aufgaben der Muxes in Juchitán de Zaragoza auch die Organisation der Straßenfeste, den so genannten Velas, und der Blumenschmuck in den Kirchen.
 
Die Welt, wie die Kolonisatoren sie sahen
Lukas erklärt mir, dass die Muxes nicht einmal durch die Verpflichtung definiert sind, äußerlich wie eine Frau auszusehen. Viele Muxes tragen feminine Kleidung, sogar Make-up und feminine Frisuren. Aber viele auch nicht. „Wenn ich ein Frauenkleid trage, dann ist es aber keine zeitgenössische Kleidung, sondern eine traditionelle Tracht von Oaxaca“, so Lukas. „Für mich ist das gleichzeitig auch ein politisches Manifest für die Freiheit und die Bewahrung unserer Traditionen.“ Das Gleiche möchte er auch mit seinen Tanz-Performances erreichen. Er studierte Anthropologie und zeitgenössischen Tanz. Bei seinen Aufführungen trägt er Rüschenröcke und ist stark geschminkt. Er verkörpert die unendliche Traurigkeit und Verwirrung, die jede Muxe in ihrer Seele fühlt, wenn sie nicht zu sich selbst findet und von ihrer Umgebung abgelehnt wird.

Im November haben die Muxes in Juchitán de Zaragoza ihre eigene Vela. „Ich war schon zweimal da, aber ich fühle mich dort nicht wohl“, fährt Lukas fort. „Eben weil ich es nicht mag, wenn man mich zwingt, Frauenkleider zu tragen, nur um der Parade und der Party willen.“ Aufgrund der Tatsache, dass er sich seiner Identität als Muxe bewusst wurde, begann Lukas auch, mehr über seine Identität als amerikanischer Ureinwohner aus dem Volk der Zapoteken nachzudenken. Einer seiner Großväter war Spanier. Aber er spürt mehr zapotekisches Blut in sich. „Die Spanier haben uns eine neue Religion und das Konzept der Monogamie gebracht. Aber in unserer Tradition gibt es keine monogamen Beziehungen. So wie es in unserem Land ganz natürlich ein drittes Geschlecht gibt, ist auch die Polygamie natürlich.“

Lukas hat lange Zeit außerhalb der oaxacaischen Region Tehuantepec gelebt, wo man den Muxes gegenüber toleranter ist als anderswo. „Im Vergleich zu anderen Teilen Mexikos ist es hier viel offener. Aber es ist kein Paradies. Vielleicht ein halbes Paradies.“
 
Auch hier werden wir angespuckt
In Juchitán de Zaragoza verstecken sich die Muxes nicht. Sie zeigen sich auf den Straßen. Und es gibt hier sehr viele von ihnen, denn als Gott (oder der heilige Vinzenz Ferrer, der Schutzpatron der Stadt) mit einem Sack voller Muxes herumging und sie gleichmäßig über ganz Mexiko und die Welt verteilen wollte, riss über Juchitán der Sack und die meisten von ihnen fielen hier heraus, so eine beliebte Geschichte der Einheimischen. Andere sagen, sie seien hier, weil sie hier im Vergleich zu anderen Orten akzeptiert würden. „Aber machen wir uns nichts vor, auch hier ist kein sicherer Hafen für die Muxes. Auch hier werden wir angespuckt. Noch vor 50 Jahren haben Eltern ihre Muxes zu Hause versteckt, damit ihnen niemand etwas antut. Für Muxes war es verboten, in eine Bar zu gehen“, erzählt mir Naomy Mendez Romero (33).

Naomy wurde als Ivan geboren. Auf dem Papier ist sie bis heute Ivan. Aber sie trägt ihr Haar lang, tiefrot gefärbt, und viel Make-up. Sie hat sich Brüste machen lassen. Untenrum ist sie immer noch ein Mann. Als Kind spielte sie am liebsten mit Puppen oder verkleidete sich als Braut. Sie hatte mehr Freundinnen als Freunde. Sie war anders als die anderen Jungen in der Straße. „Muxe“, konstatierten ihre Eltern, als sie etwa fünf Jahre alt war.

Mit 17 Jahren kleidete sie sich zum ersten Mal als Frau. Es war ganz einfach. An diesem Tag war die November-Vela der Muxe-Community in Juchitán. Bei diesem Fest ziehen sich die Muxes ganz selbstbewusst die traditionelle, mit bunten Blumen bestickte Frauentracht von Oaxaca an, die die Malerin Frida Kahlo weltberühmt gemacht hat. Beim Friseur lassen sie sich schwere Zöpfe flechten, die um den Kopf gewunden und mit Blumen geschmückt werden. Und auch Make-up: viel Wangenrouge, viel Lidschatten, Lippenstift und falsche Wimpern. Dann tanzen und feiern sie in den Straßen mit anderen Stadtbewohnern, die sie ansonsten manchmal nicht einmal auf eine öffentliche Toilette gehen lassen. Sie können sich nämlich nicht entscheiden, ob die Muxes die Herren- oder die Damentoilette benutzen sollen.

„Es war eine drastische Veränderung für mein gesamtes Umfeld, aber mit der Zeit haben sie mich akzeptiert“, sagt Naomy über ihre Verwandlung „vom Mann zur Frau“. Ihre ruhige, sanfte Stimme lässt sich kaum ausschließlich als männlich oder weiblich definieren. Genauer gesagt, wenn man die Augen schließt, kann man sich dahinter sowohl einen Mann als auch eine Frau vorstellen. „Gelegentlich bekomme ich schon Kommentare von Leuten auf der Straße zu hören. Aber Aggressionen habe ich zum Glück nie erlebt. Die Verwandlung in eine Frau war für mich sehr wichtig. Ich habe meine Identität gefunden. Dazu gehört auch ein gewisses Maß an Extravaganz.“

Ein Anwalt im Rock?
Die Muxes in Juchitán halten zusammen. Wenn sich jemand für diesen Weg entscheidet, weiht ihn eine erfahrenere Muxe aus der Community nach und nach in alles ein, was er lernen muss. Gestik, Mimik, Make-up, Kleidung... Den Mut, sich selbst zu finden. So hilft Naomy auch Victor Francisco Ruiz (25) bei seiner Transformation. Als wir vor dem Haus seiner Eltern in einem Armenviertel aus der Motorikscha steigen, hören wir irgendwo in der Nähe Schüsse. Naomy zuckt mit den Schultern. Das ist hier ganz normal.

„Ich habe schon als Kind gemerkt, dass ich eine Muxe bin. Aber es nach außen hin zu zeigen, ist sehr schwierig. Die Gesellschaft akzeptiert es nicht, wie wir leben wollen“, sagt mir kurz darauf im Haus ein junger… Mann? Er lässt sich gerade erst die Haare wachsen. „Mein Vater wollte keinen Sohn haben, der eine Muxe ist. Ich bin in einem sehr schwierigen Umfeld aufgewachsen. Zum Glück hat meine Mutter ihren Frieden damit gemacht und mir immer geholfen.“

Als Kind war er Ministrant in der Kirche. Dort wissen alle, dass er eine Muxe ist. Es macht ihnen nichts aus. Er ist froh, dass sie sich nicht von ihm abgewandt haben. In der Schule und auf Arbeit ist das anders. Victor studiert Jura und arbeitet nebenbei in einem Café. „Ich kann nicht in Frauenkleidern an die Universität und zur Arbeit kommen. Auch im juristischen Berufsumfeld würde das niemand akzeptieren. Es wird sehr viel Wert auf formelle Kleidung für Juristen gelegt. Ich würde mich gern wie eine Frau kleiden, aber ich kann es nicht. Ich trage nur während der Straßenfeste Frauenkleider.“
 
Liebe hinter verschlossenen Türen
Lukas, der von seinem Vater boxen gelernt hat, erzählt, dass er oft für sich selbst kämpfen muss. „Ich habe einen schwulen Freund. Wenn er auf der Straße angegriffen wird, wehrt er sich nie. Angeblich, weil ihm klar ist, dass es nichts bringt und er den Kürzeren ziehen würde. Ich teile aber ordentlich aus, egal was passiert. Auch wenn ich schon im Voraus weiß, dass es ein aussichtsloser Kampf ist. Für Menschen außerhalb meiner Region bin ich ein Sodomit, ein Perverser, degeneriert, sexuell abartig, eine dreckige Prostituierte, HIV-positiv... So werde ich in Mexiko meistens wahrgenommen.“

Aber er würde sich nie verstellen und das Leben eines Mannes führen, nur um seine wahre Identität zu verbergen und sich vor Angriffen zu schützen. Er will sich seine Freiheit nicht nehmen lassen. Doch wie viele andere Muxes auch, ist er im Leben einfach oft gezwungen, als Mann aufzutreten.

„Muxes fühlen sich zu heterosexuellen Männern hingezogen. Sie sehnen sich nach einer Beziehung mit so einem Mann. Aber das ist ja logischerweise nicht möglich. Denn heterosexuelle Männer stehen auf Frauen. Also bleiben uns nur Bisexuelle und Gays.“ Angeblich gibt es aber solche Beziehungen durchaus. Aber sie spielen sich hinter verschlossenen Türen von Wohnungen und Schlafzimmern ab. Ein Mann hält mit seiner Muxe nicht Händchen auf der Straße, nimmt sie nicht in den Arm oder küsst sie. Normalerweise hat er zu Hause eine Freundin, eine Frau, eine Familie, Kinder, und die sei immer wichtiger als die Muxe.

Manche Muxes wünschen sich so sehr, eine Frau zu sein, dass sie sparen oder sich prostituieren, um Geld für eine Geschlechtsumwandlung zu verdienen. Das ist ein relativ neuer Trend und kommt immer häufiger vor. „Das ist verlockend, weil es den Muxes die Möglichkeit gibt, einen Mann zu heiraten“, erklärt Lukas. „Aber das Konzept der Muxe in unserer traditionellen zapotekischen Kultur wird dadurch völlig in Frage gestellt. Denn wenn sich jemand Brüste machen, den Penis abschneiden und eine Vagina modellieren lässt, wird er zur Frau.“ Er ist dann keine Muxe mehr.

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