Sie dürfen rauchen, in die Kneipe gehen und fluchen. Sie dürfen sogar über Probleme der Gemeinschaft mitdiskutieren, aber sie müssen dafür auch alle „männlichen“ Aufgaben erledigen. Sie sind die letzten Frauen, die sich dafür entschieden haben, in Albanien als Männer zu leben, und so ihre Freiheit erlangt haben: Burrneshas.
Shuke Rama ist 87 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben lang als Mann gelebt. In den traditionellen Gemeinschaften der wilden Berge Nordalbaniens war dies für eine Frau die einzige Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch die Zeiten ändern sich und die Moderne hat auch in den abgelegenen Bergdörfern Einzug gehalten. Schätzungen zufolge gibt es heute in Albanien kaum mehr als zwanzig Burrnesha. Das sind Frauen, die geschworen haben, Männer zu werden. Sie bezahlten für ihre Gleichberechtigung mit dem Versprechen lebenslanger Jungfräulichkeit. Diese Entscheidung war endgültig. Sie durften sich nicht verlieben, nicht heiraten und keine Kinder bekommen.Einige haben sich äußerlich perfekt in Männer verwandelt. Sie schnitten sich die Haare ab, begannen, Männerkleidung zu tragen, rauchten Zigaretten und nahmen nach einer Weile typisch männliche Bewegungen, Gesten und ein „männliches“ Schwanken beim Gehen an. Andere, wie beispielsweise auch Shuke, trugen aber weiterhin die traditionelle Frauenkleidung, die Xhubleta. Das war bequemer, und Shuke vermied so unnötige Fragen, als sie im Sozialismus mit Frauen in der Genossenschaft arbeiten musste. Die Verwandlung von der Frau zum Mann beginnt nicht mit dem äußeren Erscheinungsbild. Und die Menschen in dem nordalbanischen Dorf Theth wissen das. Shuke hat sich das Recht erkämpft, mit Männern über die ernsten Probleme des Dorflebens zu diskutieren und an Beerdigungszeremonien teilzunehmen. Frauen war das nicht erlaubt. Als Shuke mir diese Geschichte im Wohnzimmer eines traditionellen, aus Stein gebauten Hauses erzählt, hebt sie ihren Rock und zeigt auf ihre Socken. Dicke Stricksocken für die kalten Tage in den Bergen. Halb weiß und halb schwarz. „Weiße Socken sind den Männern vorbehalten, schwarze oder rote den Frauen. Die Burrneshas tragen zweifarbige, schwarze und weiße Socken. Damit zeige ich, dass ich eine Burrnesha bin, falls es jemand zufällig nicht weiß.“
Von nun an bist du mein Bruder
Die Fahrt von Shkodra, der nächstgelegenen Stadt, nach Theth dauerte im Jahr 2016 zweieinhalb Stunden. Man brauchte ein geländegängiges Auto. Der Asphalt reichte etwa bis zur Hälfte der Strecke. Danach ging es auf einer staubigen und steinigen Straße weiter.Die umliegenden Berge werden auch die „Albanischen Alpen“ genannt. Das Leben hier ist selbst im Sommer hart. Es ist zu kalt, um eine reiche Ernte zu erwirtschaften. Die Menschen haben sich schon immer mehr auf die Schafe verlassen, die auf den Weiden oben grasen. Im Winter fällt viel Schnee und isoliert die Bergdörfer von der Außenwelt. Die meisten Bewohner von Theth haben die alte Lebensweise aufgegeben. Im Winter steigen sie tiefer hinab, in die Häuser am Skutarisee. Und selbst im Sommer findet man hier nicht mehr als 100 Menschen. Fast alle stellen für Tourist*innen eine Unterkunft in ihren Häusern bereit, einige bieten sogar Transporte im Geländewagen oder ihre Dienste als Bergführer an.
Das alles gab es noch nicht, als Shuke jung war. Ihr Vater war Schafhirte. Sein Name war Avdi Rama, und er und Shuke hatten eine sehr enge Beziehung. Sie war sein einziges Kind und verhielt schon immer mehr wie es von einem Jungen erwartet wurde anstatt wie von einem Mädchen. Shuke half ihrem Vater bei seiner Arbeit in den Bergen. „Wenn du stirbst, sterbe ich auch, ich liebe dich so sehr“, sagte sie zu ihm. Sie beschloss, im Haus ihrer Eltern zu bleiben. Eigentlich lebte sie schon seit ihrer Pubertät als Burrnesha, aber ihren offiziellen Schwur hat sie erst mit 40 Jahren abgelegt. „Du hast eine gute Entscheidung getroffen, du bist bei mir und den Männern besser aufgehoben“, lobte ihr Vater diese Entscheidung.
Ab diesem Zeitpunkt änderte sich das Verhalten der Männer gegenüber Shuke sofort. „Sie haben endlich aufgehört, zu unserem Haus zu kommen und mich zu fragen, ob ich ihre Frau werden will“, lacht sie. „Vorher hatte ich viele Verehrer. Aber seit ich eine Burrnesha bin, müssen sie mich respektieren. Sogar Luktoma, der größte Angeber im Dorf und mein hartnäckigster Freier, sagte mir: Shuke, von nun an bist du mein Bruder.“
Ein böser Junge
Shuke musste nicht mehr bei Geburten dabei sein und Frauenarbeit verrichten. Sie mochte keine Zigaretten. Rakija umso mehr. Also saß sie mit den Männern zusammen, wie es der Brauch war, bei einem Glas Rakija, und sie diskutierten die Probleme des Dorfes. Aber das war natürlich nicht alles. Ein Teil des Burrnesha-Schwurs war, dass sie wie ein Mann arbeiten würde. „Es gab keinen größeren Mann im Dorf“, stellt Shuke jetzt fest. Sie musste alle möglichen Männerarbeiten verrichten. Schafe in den Bergen hüten, Bäume fällen, Holz hacken, das Haus reparieren. Sie arbeitete hart und viel. Sie war eine Burrnesha. Erleichterungen gab es nicht.Der Schwur der ewigen Jungfräulichkeit, durch den Frauen in Nordalbanien, aber auch in Montenegro und im Kosovo, zu Männern wurden, gab ihnen auch das Recht zu fluchen, Geld zu verdienen und Waffen zu tragen. Shuke brauchte und wollte keine Waffe. Pashka Sokoli, eine andere Burrnesha aus Theth, ließ sich jedoch sogar mit ihrer Pistole und in Männerkleidung begraben. Sie starb vor sechs Jahren. Ihr Steinhaus ist heute verschlossen und verlassen. Sie und Shuke waren beste Freund*innen.
Pashkas Geschichte war jedoch eine andere. „Ihr Vater starb, ihre Mutter heiratete einen anderen. Pashka blieb allein zurück. Sie musste Hosen tragen, Auto fahren und Geld verdienen. Damals, in einer streng patriarchalischen Gesellschaft, gab es nur eine Lösung: sie musste eine Burrnesha werden“, erklärt Shuke. Sie fügt jedoch hinzu, dass Pashka ihre Kleidung auch manchmal wechselte, gern trug sie auch Frauenkleider und die Pistole besaß sie eher für Fotos, anstatt zum Schießen. Angeblich war Shuke im Dorf beliebter als Pashka. Pashka war eher so ein „böser Junge“, während Shuke mit allen gut auskam.
Dann starben Shukes Eltern und auch sie selbst wurde alt und wäre allein gelassen worden, wenn sich nicht die Familie Ndoj, entfernte Verwandte, um sie kümmern würde. Jetzt lebt sie mit ihnen zusammen in einem großen traditionellen Steinhaus. Eine Holztafel an dem massiven Bauwerk verkündet, dass das Haus 1733 erbaut wurde. Der Stein ist witterungsbeständig und speichert gut und lange die Wärme des Kamins. Und, wie sollte es auch anders sein, die Familie Ndoj hat hier ebenfalls Unterkünfte für Tourist*innen und eine kleine Bar. Auf dem Tisch steht der nicht wegzudenkende Rakija und an den Wänden hängen alte Fotografien. Eine davon wurde vor 85 Jahren von einem Fotografen aus Kanada aufgenommen, der durch die hiesigen Berge wanderte. Darauf sind Menschen, die um ein Feuer sitzen, darunter auch eine junge Frau, Prende, Shukes Mutter, die die zweijährige Shuke auf dem Arm hat.
Aber noch wertvoller ist für Shuke das einzige verbliebene Foto ihres geliebten Vaters. Sanft streicht sie mit ihren Fingern über das kolorierte Porträt des Mannes mit dem markanten Schnurrbart, als sie es mir zeigt.
Weg in die Freiheit
Ich frage Maria Ndoj, eine Frau mittleren Alters, die sich um Shuke kümmert, ob sie selbst jemals in Erwägung gezogen hat, auch eine Burrnesha zu werden. „Niemals!“, antwortet sie entschieden. „Es ist ein sehr hartes Leben. Man muss alle Pflichten der Männer auf sich nehmen. Das ist harte Arbeit. Ich glaube, die Frauen haben es hier doch leichter. Außerdem ist eine Burrnesha allein. Sie darf keinen Mann und keine Familie haben. Es gibt niemanden, der sich im Alter um sie kümmert. Was wäre mit Shuke passiert, wenn wir sie nicht aufgenommen hätten? Wie würde sie allein leben? Was wäre, wenn sie krank werden würde oder völlig unzurechnungsfähig?“Aber Shuke bekräftigt mit einem Lächeln, dass sie ihre Entscheidung nie bereut hat.
Manche Leute missverstehen aber den Burrnesha-Schwur. Sie bringen ihn mit Sexualität in Verbindung, aber hier handelt es sich eher um eine kulturelle Frage. In einer traditionellen Gesellschaft, in der ausschließlich der Mann fast alle Rechte hatte, war dies die einzige Möglichkeit, Problemsituationen zu lösen, in denen es keinen Mann mehr in der Familie gab. Eine Frau hatte nicht das Recht, das Oberhaupt der Familie zu werden. Aber zu einem Mann konnte sie werden und von da an musste jeder sie wie einen Mann respektieren. Die Tradition fand irgendwann im 15. Jahrhundert ihren Anfang. Nach und nach begannen Frauen, die nicht heiraten, sondern ihre eigenen Entscheidungen treffen wollten, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Dies war auch die einzige Möglichkeit, einer arrangierten Ehe zu entgehen. Denn Kinder wurden von ihren Eltern oft schon im Kleinkindalter verlobt, manchmal sogar bereits bevor sie überhaupt gezeugt waren, da die Eltern bereits wussten, dass sie ihre Familie in Zukunft mit einer anderen Familie verbinden wollten, und zwar durch eine Heirat ihrer Kinder. Eine der berühmtesten Freiheitskämpferinnen des Balkans, Tringe Smajli, die von 1880 bis 1917 lebte und gegen die Herrschaft des Osmanischen Reiches über Albanien kämpfte, legte ebenfalls einen Jungfrauenschwur ab und wurde zu einer Burrnesha. Erst dann schloss sie sich den Rebellen an – bereits in Männerkleidung und mit einem Gewehr in der Hand.
Allerdings gibt es in Theth keine neuen Burrnesha. Die jüngsten Burrnesha in Albanien sind bereits über 50 Jahre alt. Die Zeiten haben sich geändert. Auch Mädchen aus den Bergen tragen Hosen, studieren, arbeiten, verdienen Geld. Ihre Ehemänner treffen keine Entscheidungen mehr für sie. Obwohl die Welt für Männer und Frauen immer noch nicht wirklich gleich ist, gelten die alten Regeln nicht mehr. Die Tradition der Burrnesha hat ihre Bedeutung verloren. Nur die letzten Frauen, die diesen Schwur geleistet haben und zu Männern wurden, um frei leben zu können, sind noch übrig geblieben.
Ein Frauen- und ein Männername
Sechs Jahre nachdem ich Shuke in einem abgelegenen Dorf in den Bergen kennengelernt habe, kommt mir Diana Rakipi über den Platz in der berühmten Hafenstadt Durrës entgegen. Diana ist groß, schlank, trägt ein Militärbarett mit albanischem Adlerabzeichen, Jackett und Krawatte. Sie hat lächelnde Augen und einen festen Händedruck. Sie zieht es vor, sich Lali zu nennen. Der Name, den sie vor Jahren bei ihrem Schwur angenommen hat.Sie ist offensichtlich eine Berühmtheit in der Stadt am Meer. Passanten grüßen sie, Männer wollen ihr die Hand schütteln, rufen sie schon von weitem: Diana oder Lali. Sie wird nicht wütend und reagiert sowohl auf den weiblichen als auch auf den männlichen Namen. Obwohl sie sich selbst als „er“ bezeichnet.
Einigen Männern auf der Straße bietet er eine Zigarette an und während sie sie nehmen, verneigen sie sich und legen die andere Hand auf die Brust als Zeichen des Respekts und der Dankbarkeit. Mit manchen macht er ein Foto. Mit anderen wechselt er ein paar Sätze. Raucht eine Zigarette von anderen. So wie es auf den Fotos anderer Burrnesha zu sehen ist, wie sie eine „männliche“ Art zu Gehen angenommen haben, „männliche“ Bewegungen oder Gesichtsausdrücke, so hat auch Diana sich perfekt angepasst. In gewissem Sinne ist sie ein Showman. In Durrës ist er bei allen großen Veranstaltungen dabei, zieht gern die Aufmerksamkeit auf sich und genießt das auch sichtlich.
Wir setzen uns in ein Café. In dem Dorf Tropojë, wo Diana vor 73 Jahren geboren wurde, war das Trinken von Kaffee und Rakija nur Männern vorbehalten. Und den Burrnesha. Nach dem Schwur durften auch sie Cafés besuchen, rauchen und Alkohol trinken.
„Ich bin keine Burrnesha geworden“, korrigiert Diana meine Frage. „Ich war schon immer eine. Das liegt in meiner Natur. Ich habe mich immer so verhalten, und ich habe immer Arbeiten rund um das Haus gemacht, die Männer und Jungen machen. Ich war immer ehrlich zu mir selbst.“ Dianas älterer Bruder starb, bevor sie geboren wurde. Als das Schicksal ihren Eltern dann eine Tochter schickte, wurde sie zu einer Art Ersatz für den toten Sohn. Sie sagten, dass Gott Diana an seiner Stelle gesandt hatte. Auch ihr Vater behandelte sie immer mehr wie einen Jungen statt wie ein Mädchen. Sie trug in der Schule Hosen, spielte mit den Jungen Fußball und schloss sich deren Banden an. Sie behauptet, dass sie die Mädchen aber immer verteidigt hat, wenn sie angegriffen wurden. Der einzige Unterschied zwischen ihr und den Jungen war ihr langes Haar. Als sie 17 war, schnitt sie es ab und sagte ihrem Vater, dass sie den Schwur ablegen und eine Burrnesha werden würde. „Auf diese Weise habe ich die Freiheit gewonnen“, sagt sie. Die Freiheit zu rauchen, Alkohol zu trinken, zu fluchen, mit Männern über die Probleme der Dorfgemeinschaft zu diskutieren. Aber vor allem die Freiheit, selbst Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen. Die jungen Männer kamen zu ihr, wenn ihnen ein Mädchen gefiel, und sie vermittelte ihnen den Kontakt. Aber bei Streitigkeiten war sie immer auf der Seite der Frauen, und sie ermutigte ihre männlichen Freunde, ihren Frauen und Töchtern mehr Freiheiten zu geben.
Das Foto im Pass
„Die Tradition der Burrnesha ist nicht im albanischen Recht festgeschrieben worden“, erklärt Diana. „Ich habe mein ganzes Leben lang dafür gekämpft, sie zu bewahren. Selbst in den Zeiten des Totalitarismus, als die Regierung Kirchen und Moscheen schloss und Religion verboten war.“ Diana kämpfte damals so vehement für ihre Identität, dass die kommunistischen Behörden schließlich nachgaben... und ihr erlaubten, der Armee beizutreten. Das unverwechselbare Barett auf dem Kopf ist eine Erinnerung an diese Zeit. Sie bildete neue Rekruten aus und wurde angeblich von allen wie ein Mann behandelt. Ganz im Sinne der Tradition aus den albanischen Bergen. Doch in den Dokumenten ist noch immer nur seine weibliche Identität angegeben. Lachend erzählt sie von einer kürzlichen Reise nach Italien, als ein Polizist bei der Passkontrolle verwirrt zwischen dem Foto in ihren Papieren und seinem Gesicht hin- und herschaute und nicht wusste, was er davon halten sollte.Interessant ist, dass in der stark homophoben albanischen Gesellschaft selbst die Burrnesha sexuellen Minderheiten und Transgender-Menschen nicht mit Verständnis begegnen. Das sei unnatürlich, Gott wolle das nicht, und Männern, die sich gerne als Frauen verkleiden würden, müsse man solche Ideen mit einem Stock aus dem Kopf schlagen. Eine Burrnesha hingegen verleugne nicht ihr physisches Frausein und den Körper, den sie von Gott erhalten hat. Vielmehr sei sie ein Mann im Geiste. Außerdem sei dies nicht nur ihre egoistische Entscheidung, so Diana/Lali. Da spielte schon immer der wichtige Aspekt der Familie eine Rolle, der die Burrnesha in erster Linie dienen sollte, wenn es keinen anderen Ausweg gab und kein männlicher Verwandter befugt war, wichtige Entscheidungen zu treffen. „Heutzutage ist so etwas nicht mehr nötig“, sagt Diana. „Es wäre eine rein egoistische Entscheidung.“
Neben ihrer Arbeit hat Diana schon immer gern fotografiert, gemalt und Holzschnitzereien gemacht. Ihre erste Kamera bekam sie mit 26 Jahren. Im Ruhestand kam das Angeln zu ihren Hobbys hinzu. Sie liebt die Natur und jede Verbindung mit ihr erfüllt ihre Seele mit Schönheit und Frieden. Und die Liebe? „Jeder hat irgendeine, sie kann ein Leben lang im eigenen Herzen verborgen sein und die Menschen um einen herum sind sich dessen nicht bewusst. Mir gibt die Natur alles, was ich brauche. Welche größere Liebe kann es geben?“
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Oktober 2024