Das slowakische Opfersyndrom  Unsere Nation leidet wie keine andere! Oder wer leidet mehr?

Der slowakische Soziologe Michal Vašečka
Der slowakische Soziologe Michal Vašečka Foto: Tomáš Benedikovič | © privat

„Wir sind ein Volk von Tauben,
niemand will uns etwas Böses.
Alle schreien uns bloß an,
mit einem Wort, das ist …
über uns...
das ist über uns bekannt.“

Vielleicht verdeutlicht kein Kunstwerk auf so perfekte, aber gleichzeitig so verdichtete Art und Weise das Gefühl des slowakischen Schmerzes wie der Text des Liedes „My“ („Wir“) von Jaro Filip, geschrieben von Milan Lasica. Wir, die Slowaken haben es geschafft, die Selbst-Viktimisierung zu einer nationalen Strategie zu erheben, und mit genau dieser Strategie der Opferrolle treten wir nicht nur den Herausforderungen einer komplizierten Welt entgegen, sondern auch der Stimme unseres kollektiven Gewissens.

Mit dem Soziologen Michal Vašečka haben wir uns in einem Interview mit dem Thema Victimhood beschäftigt, und er behauptet, dass wir auch in dieser Hinsicht keine Ausnahme darstellen.

Die aktuellen politischen Ereignisse in der Slowakei wirken wie die Rache der Regierungspartei, die unter dem Beifall ihrer Wähler*innen die demokratischen Institutionen abbaut. Vor den Wahlen haben sie die ganze Zeit so getan, als seien sie Opfer einer riesigen Verschwörung. Mit diesem Narrativ haben sie die Wahlen dann auch gewonnen.

Ja, sich zum Opfer zu stilisieren, ist eine Strategien vieler Menschen, und zwar sowohl von Individuen als auch von ganzen Gruppen. Wenn man sich zum Opfer macht, kann man Dinge tun, mit denen man unter normalen Umständen nie durchkommen würde. Da man sich ja bloß verteidigt, in die Enge getrieben ist, hat man das Recht, sich auch aggressiv zu verhalten, gewalttätig zu sein. Wir als Opfer dürfen das, aber die anderen nicht!

Die Slowak*innen sehen sich selbst oft als „Taubenvolk“ und gleichzeitig als diejenigen, die „unter Jahrtausenden der Unterdrückung gelitten haben“. Diese Vorstellung haben wir so sehr verinnerlicht, dass sie für viele Slowak*innen zu einem Teil ihrer nationalen Identität geworden ist.

Dies ist eines der wichtigsten Autostereotypen der Slowaken. Dazu gehört dann auch noch der Mythos, dass die Slowaken nie jemanden angegriffen haben. Das entspricht jedoch ganz und gar nicht der Wahrheit, denn die slowakische Armee ist am 1. September 1939 gemeinsam mit der deutschen Armee in Polen einmarschiert, und die Slowaken waren zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die einzigen Verbündeten Nazi-Deutschlands. Dann marschierte die Armee des slowakischen Staates im Juni 1941 zusammen mit der Wehrmacht in die Sowjetunion ein, die slowakische Luftwaffe bombardierte Stellungen in der Ukraine, besetzte Mariupol und eroberte Rostow am Don.

Lügen werden also oft benutzt, um sich selbst zum Opfer zu stilisieren?

Lügen, Halbwahrheiten und verschiedene Mythologien. Und dabei würde es schon reichen, einige dieser Mythen genauer zu untersuchen. Denn wie konnten die Slowaken 1000 Jahre lang von den Ungarn unterdrückt werden, wenn diese noch im 18. Jahrhundert selbst nicht einmal wussten, dass sie Ungarn waren? Bis dahin hatte nämlich der Prozess der sozialen Konstruktion der modernen ungarischen Nation, oder, wie die Nationalisten sagen würden, die nationale Wiedergeburt, noch gar nicht stattgefunden. Bis zum 18. Jahrhundert sprach der Adel in Ungarn hauptsächlich Latein und es war ihnen herzlich egal, wer ihre Untertanen waren und welche Sprache sie sprachen. Solange sie auf den Feldern gut arbeiteten, waren sie Leibeigene. Das war zwar Unterdrückung, aber hier wurde ein Stand unterdrückt und keine Ethnie. Dies änderte sich erst im 19. Jahrhundert sehr grundlegend, also in den letzten 50 Jahren des Königreichs Ungarn. Bis dahin muss man eigentlich korrekterweise von einer Unterdrückung der Leibeigenen in Ungarn sprechen.

Was löschen die Slowak*innen sonst noch aus ihrem historischen Gedächtnis, weil es dem Bild einer Nation widerspricht, die ständig und ungerechterweise unterdrückt wird?

Der Mythos von Jánošík, dem Räuber, [*1688 – †1713, Nationalheld, stilisiert zu einer Art slowakischer Robin Hood, Anm. d. Red.] wurde hier geschaffen und entwickelte sich dann sogar zum Symbol des Landes. In Wirklichkeit war er ein Söldner. Er kämpfte zunächst auf der Seite von Rákóczi [Franz II. Rákóczi *(1676 – †1735) war ein ungarischer Adeliger, der eine Aufstand gegen die Habsburger anführte, Anm. d. Red.] gegen Wien. Nachdem er in Gefangenschaft geraten war, wechselte er die Seite und kämpfte gegen Rákóczi. Als er aufhörte zu kämpfen, fing er an zu stehlen. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass er von dieser „Räuberbeute“ gar nicht viel an die arme Bevölkerung abgegeben hat. Den Aufzeichnungen zufolge soll er lediglich einer Frau einen Ring geschenkt haben, und das auch nur, weil er an ihr interessiert war. Wir halten also diesen Mythos lebendig, dass er ein Räuber war, der die Reichen bestahl und es den Armen gab, aber dass die Aufstände von Bocskai, Tököly oder von Vater und Sohn Rákóczi auch zu unserer slowakischen Geschichte gehören, das ist in Vergessenheit geraten.
 
Jánošík a zbojníci podľa ľudovej maľby na skle

Jánošík und die Räuber nach einer Volksmalerei auf Glas | Stanisław Ignacy Witkiewicz, 1918 | Public Domain via wikimedia

Es geht also nicht so sehr darum, was wirklich passiert ist, sondern darum, woran man sich erinnert und wie eine Nation diese Erinnerungen pflegt und lebendig hält?

Genauso ist es. Die Realität ist nicht so wichtig wie die Wahrnehmung der Realität. Wichtig sind die Arten des Erinnerns, des Gedenkens, wie die Erinnerung wachgehalten wird oder wie umgekehrt etwas in Vergessenheit gerät oder gleich der kollektiven Amnesie anheimfällt. Bestimmte Dinge, die passen, werden in den Himmel gehoben. Und was nicht passt, lässt man in Vergessenheit geraten. Ich nenne mal ein Beispiel.

Viele Menschen in der Slowakei und sogar in Bratislava selbst haben keine Ahnung, dass das Gebäude der Universitätsbibliothek in der Straße Michalská ulica in Bratislava bis 1848 ein Sitz des ungarischen Parlaments war. Ungarische Touristen wissen das natürlich. An diesem Gebäude befindet sich eine Gedenktafel, die daran erinnert, dass sich Ľudovít Štúr hier als Abgeordneter für eine slowakische Nation ausgesprochen hat. Das ist also eine spezielle Information über einen Tag, an dem er sich Lajos Kossuth im Parlament entgegengestellt hat. Das ist auch in Ordnung so. Doch kurz darauf rief gerade jener Kossuth in derselben Stadt, nämlich in Pozsony (ungarisch für Bratislava), auf dem Weg aus dem Parlament die Republik aus und beendete somit offiziell den Feudalismus in Ungarn. Das ist ein absolutes Schlüsselereignis, das mit diesem Gebäude zusammenhängt: Der Feudalismus geht zu Ende, die Zeit der freien Gesellschaft ist angebrochen! Liberté, Égalité, Fraternité! Die Revolution begann nicht in Budapest, sondern in Pozsony. Eine Gedenktafel dazu werden wir allerdings nicht finden. Sie wurde 1919 demontiert. Die Slowaken kennen diesen größeren Zusammenhang nicht; für sie spielt sich ihre Geschichte in einem ganz anderen Rahmen ab und andere Ereignisse werden in den Vordergrund gerückt.

Unsere eigene Geschichte entfaltet sich also auf der Grundlage einer sehr selektiven und modifizierten Wahrnehmung der Fakten.

Und das ist sehr gefährlich. Aber die Slowaken sind nicht die einzigen, die daran glauben, ständig Opfer zu sein. Ein klassischer Fall sind die Serben. Sie leiten ihre Staatlichkeit sogar von der verlorenen Schlacht gegen die osmanische Armee auf dem Amselfeld ab. Seitdem ist es in ihrer Deutung so, dass die Serben dort, wo das Herz der serbischen Nation ist, dort wo die serbische Geschichte beginnt, dem Mythos zufolge verraten und besiegt wurden. Das ist der Ort, an dem der serbische Wolf verwundet wurde! Und ein verwundeter Wolf kann alles tun, denn er verteidigt sich ja nur.

Ein wichtiger Teil ihrer Geschichte ist die Erklärung, warum sie eigentlich verloren haben, denn das soll der Legende nach durch den Verrat eines Teils des serbischen Adels geschehen sein, aus den eigenen Reihen also. Daraus ergibt sich die Suche nach dem inneren Feind, nach dem sie eigentlich bis heute suchen. Der Niedergang, in dem sich Serbien heute befindet, ist eine unmittelbare Folge der Tatsache, dass sie sich selbst ständig in der Opferrolle sehen. Sie ertrinken darin.
 
Gemälde der Schlacht auf dem Amselfeld von 1389

Gemälde der Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 | Adam Stefanović, 1870 | Public Domain via wikimedia

Schauen wir uns doch mal unsere polnischen Nachbar*innen an!

Die bewegte Geschichte Polens hat einen Leidensmythos hervorgerufen, der wirklich alles andere ad absurdum führt: Polen als Christus der Völker. Man stelle sich das einmal vor! Eine Nation, die kollektiv leidet, wie Christus am Kreuz gelitten hat. So wie er für alle gelitten hat, die nach ihm kamen, glauben die Polen, dass sie für ganz Europa gelitten haben. Und das ist dann schon kein gewöhnliches Opfer mehr! Das ist gefährlich, denn wenn man sich für so etwas ausgibt, ist alles möglich. Leider gaben ihnen aber auch die objektiven Ereignisse des 20. Jahrhunderts das Gefühl, dass kein anderes Volk so sehr zum Opfer geworden ist, wie die Polen. Hinzu kam, dass sie das Gefühl bekamen, dass niemand ihr Leid anerkennen wollte. Solche Überzeugungen führen dann logischerweise zu dem Glauben, dass es eine Art Verschwörung gegen das eigene Volk oder die eigene Gruppe gibt. Die ganze Welt hat sich miteinander verbündet, um einen zu besiegen.

Dieses Gefühl ist bei den slowakischen Nationalist*innen sehr lebendig.

Ja. Sie sind auch davon überzeugt, dass in der Welt hegemoniale Kräfte am Werk sind, die alles tun, damit unser Land, unsere noch junge Slowakei, Misserfolge erleidet. Hier erweist sich die selbstgewählte Opferrolle als hervorragendes Mittel, um die eigenen Misserfolge zu erklären und zu rechtfertigen.

Meiner Meinung nach wird es der Slowakei in den kommenden Jahren nicht wirklich gut gehen, und unser Land wird aufgrund seiner Innenpolitik von vielen kritisiert werden. Wir werden also bald mitverfolgen können, wie dann wieder derartige Erklärungen herhalten müssen. Sie wollen uns für unsere Meinung bestrafen!

Sehen wir da nicht jetzt schon Anzeichen dafür?

Natürlich, denn diese Leute reden ja schon ständig so: Wir haben unsere Meinung zum Krieg in der Ukraine, die gefällt ihnen nicht, und dann kann man sehen, wie sie uns dafür bestrafen! Und es wird noch schlimmer werden. Ein typisches Merkmal bei diesen Gruppen ist das ständige Festhalten an der Behauptung, dass die Schuld nicht bei ihnen liegt.

Was sind die Folgen davon?

Die Gefahr dieser Haltung besteht darin, dass, wenn eine Person oder eine Gruppe erst einmal davon überzeugt sind, dass die Schuld nicht bei ihr selbst liegt, man natürlich auch nichts ändern wird. Man macht objektiv etwas falsch und scheitert. Aber dann macht man externe Faktoren für das eigene Versagen verantwortlich.

Es geht darum, wie unterschiedlich Menschen die Welt sehen. Je nachdem, welche Attributionen wir anwenden, wie wir die Welt um uns herum erklären, unterscheidet die Sozialpsychologie in der Attributionstheorie zwei Gruppen – Internalisten und Externalisten. Wenn Menschen der ersten Gruppe versagen, erklären sie das damit, dass sie selbst versagt haben und es beim nächsten Mal irgendwie besser machen sollten. Externalisten sehen die Ursachen nicht bei sich selbst, sondern Denken und Handeln anderer. Und diese Sichtweise haben sie bei allem. Sowohl in ihrem persönlichen Leben als auch bei größeren gesellschaftlichen Problemen.

Wir hatten einen Premierminister, später einen Finanzminister, der mit seinem Vorgehen die Mehrheit der Bevölkerung traumatisiert hat.

Ja. Alle anderen haben alles Mögliche gegen ihn unternommen, aber er selbst hat alles richtig gemacht, so stellt er es bis heute dar. Igor Matovič ist ein klassisches Beispiel für einen Externalisten.

Wie gehen Politiker*innen mit dem Phänomen Victimhood um? Gehen sie sogar so weit, die Opferidentität in der Gesellschaft bewusst zu fördern, um ihre Ziele zu erreichen?

Ich würde hier unterscheiden. Es gibt sicherlich Menschen mit guten Kenntnissen im Bereich Marketingkommunikation, die sich auf psychologische Forschung und Ähnliches stützen. Aber nicht hinter allem muss eine bewusste manipulative Absicht stehen. Manche Menschen sind tatsächlich solche authentischen Verschwörer, die sich selbst und ihr Umfeld eben als Opfer sehen. Sie sind selbst manipuliert durch ihr eigenes Bewusstsein und manipulieren dann ihre Umgebung weiter. Aber das muss nicht immer bewusst geschehen.

Können wir also zu einem bestimmten Punkt im Leben eines jeden Menschen gelangen, an dem er oder sie eine Unterdrückung erfahren hat? Hat er oder sie zum Beispiel in der frühen Kindheit eine seelische Verletzung entwickelt, die sich im Erwachsenenalter in der unbewussten Überzeugung manifestiert, dass andere Menschen und vielleicht sogar die gesamte Realität eine Bedrohung für ihn oder sie darstellen?

Ich halte diese psychologischen Erklärungen für vollkommen zutreffend. Viele unserer Traumata sind uns vielleicht gar nicht bewusst oder wir haben sie verdrängt. Die Glücklicheren unter uns erfahren erst Jahre später davon, eigentlich erst im späten Erwachsenenalter. Manchmal können wir sehr überrascht sein, was alles Auswirkungen auf uns gehabt haben könnte.

Lassen sich auch Gruppen finden, die echte Unterdrückung erlebt haben, aber ihre Erfahrungen konstruktiv oder internalistisch verarbeitet haben?

Nach schwierigen, traumatischen Erfahrungen geht es eher um Distanzierung und Reflexivität. Hier kommen wir zum Thema Versöhnung, in diesem Fall Versöhnung mit sich selbst, mit der eigenen Vergangenheit. Das beste Beispiel dafür sind in Europa die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Es hat lange gedauert, und das ist durchaus verständlich, aber heute haben die Deutschen nicht nur all das Schreckliche aufgearbeitet, was sie in wenigen Jahren in ganz Europa getan haben, sondern sie haben es auch geschafft, sich selbst zu verzeihen. Damit haben sie auch eine Phase der Selbstgeißelung überwunden. Als Ende der 1960er Jahre junge Deutsche ihre Eltern fragten, was sie eigentlich im Krieg gemacht haben, war die Wut groß. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die deutsche Gesellschaft hat es geschafft, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Aber das ist eine sehr außergewöhnliche Geschichte.
 
Dresden. Blick vom Rathausturm nach Süden mit der Allegorie der Güte (auch: Bonitas; Skulptur von August Schreitmüller, entstanden 1908/1910), Aufnahme 1945

Dresden. Blick vom Rathausturm nach Süden mit der Allegorie der Güte (auch: Bonitas; Skulptur von August Schreitmüller, entstanden 1908/1910), Aufnahme 1945 | Foto: Richard Peter, 1945 | Deutsche Fotothek | CC BY-SA 3.0

Die Deutschen hätten eigentlich auch aufgrund der Bombardierungen durch die Alliierten am Ende des Krieges sehr verletzt sein können...

Und das waren sie auch! Und sie haben riesige Gebiete verloren, die sie als ihre betrachteten, oder die objektiv gesehen für einen sehr langen Zeitraum deutsch waren. Aber sie haben es geschafft, das zu verarbeiten und sich weiterzuentwickeln. Andere in Mitteleuropa haben das nicht geschafft. Die Kroaten, Ungarn, Österreicher, Slowaken und nicht einmal die Polen. Die Vorstellung, dass auch die Polen auf der Seite des Bösen gestanden haben, dass auch sie im Jahr 1941 Juden ermordet haben, ist eine Geschichte, die für viele Polen völlig unverdaulich ist. Auch viele Slowaken können nicht verarbeiten, dass das slowakische Parlament und die Regierung damals Zehntausende ihrer Bürger in den Tod geschickt haben.

Und wie kann man das verarbeiten?

Wir müssen großzügiger sein. Im Jahr 1965 übermittelten die polnischen Bischöfe der deutschen Bischofskonferenz und dem gesamten deutschen Volk eine Botschaft: „Wir vergeben euch, und wir bitten euch um Vergebung.“ Darüber gab es in Polen eine große Kontroverse. Wofür sollen wir um Vergebung bitten? Wir sind doch diejenigen, denen Unrecht angetan wurde, hieß es. Aber genau das ist der Weg zur gegenseitigen Vergebung und Heilung.

František Mikloško [ein christdemokratischer slowakischer Politiker, Anm. d. Red] hat in den slowakisch-ungarischen Beziehungen etwas Ähnliches versucht, als er sich 2005 bei den Ungarn für die Zwangsvertreibung nach dem Krieg entschuldigte. Obwohl er dies in einem schönen christlichen Geist tat, erntete er in der Slowakei nur wenig Verständnis. Eine Menge Hass schlug ihm dafür entgegen.

Haben seine Kritiker dies als ein Zeichen der Schwäche gesehen?

Genau das. Wer muss uns denn überhaupt irgendeine Schuld vergeben? Aber genau das ist doch Stärke! Es fasziniert mich, dass Menschen, die sich offiziell als Christen bezeichnen, die Dimension dieser Botschaft nicht verstehen. Die Kraft der Vergebung kommt ja direkt aus der Lehre Jesu.

Aber nur wer stark ist, kann wirklich vergeben, oder nicht? Schließlich klammern wir uns mit Händen und Füßen an unsere Schwäche und tun so, als sei sie unsere Stärke.

Wir klammern uns an das Gefühl, dass wir immer noch Opfer sind. Und die Identität des Opfers wird, sobald die tatsächliche Unterdrückung beendet ist, eher von den Schwachen übernommen. Wer selbstbewusst ist und sich stark fühlt, hört dann auf, ein Opfer zu sein. Im Gegenteil: Solche Menschen oder Gruppen sind mit sich und ihrer Umgebung im Reinen. Sie haben keinen Grund mehr, ein Opfer zu sein, selbst wenn ihnen in der Vergangenheit auch noch so viel und so großes Unrecht widerfahren ist. Sie können sogar gestärkt aus der Situation hervorgehen.

Die Iren zum Beispiel waren im 19. Jahrhundert Opfer der englischen Politik; sie haben alles Mögliche durchgemacht. Und jetzt haben sie es geschafft, das Vereinigte Königreich beim Pro-Kopf-BIP zu überholen. So kann die Antwort eines Opfers aussehen, das sich von der Identität des Opfers freigemacht und losgelöst hat.

Manchmal ist es jedoch nicht einfach zu erkennen, wer das Opfer ist. Es kommt vor, dass echte Opfer vom Täter als jemand abgestempelt werden, der sich künstlich in die Rolle eines Opfers begibt. Dies könnte zum Beispiel bei LGBTI-Personen der Fall sein, die der so genannten Gender-Ideologie beschuldigt werden. Was halten Sie davon?

Das ist dann schon etwas ganz anderes. Hier wird das eigentliche Opfer in Zweifel gezogen. Das passiert auch mit Frauen, die Opfer von männlicher Gewalt werden.

Umgekehrt fühlen sich viele Männer nach der #MeToo-Bewegung als Opfer. Weil sie einer Frau nicht einfach einen Klaps auf den Hintern geben können.

Weil ich jetzt kein richtiger Frauenfeind mehr sein kann wie noch mein Großvater! (lacht) Aber das ist eine ganz andere Sache. Hier geht es darum, welche Möglichkeiten ein echtes Opfer hat, um zu beweisen, dass es wirklich ein Opfer ist. Welche Schritte er oder sie unternehmen darf und was erlaubt ist, wenn in Zweifel gezogeb oder heruntergespielt wird, dass er oder sie ein Opfer ist. Zum Beispiel passiert das auch gegenüber Afroamerikanern in den USA.

Es ist wahr, dass für ein echtes Opfer diese Zweifel äußerst schmerzhaft sind. Denn für ein Opfer ist die Anerkennung, dass es zum Opfer geworden ist, der psychologische Anfang, um in den natürlichen Zustand zurückfinden zu können. Nur so kann man sich von dem Trauma heilen, das einem Einzelnen oder einer Gruppe objektiv widerfahren ist. Das Trauma kann sich zu einer Pathologie vertiefen, die auf gesellschaftlicher Ebene an künftige Generationen weitergegeben wird.

Damit sind wir wieder bei den Polen. Wollte die Welt tatsächlich nicht anerkennen, wie sehr sie gelitten haben?

Zum Teil wollte man es den Polen gegenüber wirklich nicht anerkennen, das ist eine seltsame Geschichte. Ja, Polen hat wirklich viel gelitten, auf dem Staatsgebiet dieses Landes starben die meisten Menschen in den Vernichtungslagern, vor allem Juden. Aber auch die Menschen in Jugoslawien haben enormes Leid erfahren. Und die Menschen in Belarus oder der Ukraine haben noch viel mehr gelitten. Aber darüber zu streiten und zu wetteifern, wer während des Krieges mehr gelitten hat, ist an sich schon peinlich.

Im Gegenteil, man muss eine Sensibilität dafür entwickeln, warum diese Opfergefühle immer weitergegeben werden und wie diese Gefühle auch missbraucht werden. Irgendwann kommt immer der Zeitpunkt, an dem das Gefühl, Unrecht erlitten zu haben, missbraucht wird.

In der modernen polnischen Geschichte gibt es beispielsweise nur eine Sache, die tragischer ist als der Flugzeugabsturz, bei dem Lech Kaczyński und ein Großteil der polnischen Regierungsvertreter ums Leben kamen.

Was war das?

Die Art und Weise, wie dieses Ereignis von unvorstellbar tragischem Ausmaß in den folgenden zehn Jahren missbraucht wurde. Es wurde eine Geschichte kreiert, in der es an Opfern nur so wimmelte, eine große Verschwörung der Hegemonialmächte der Welt sowie Donald Tusk und Putin gegen die Republik Polen. Dieser Geschichte ist es zu verdanken, dass sich die PIS so lange an der Macht halten konnte. Sie haben Polen zum Opfer stilisiert, und die angebotene die sie dafür im Angebot hatten, ist weit über das hinausgegangen, was tatsächlich passiert ist.

Die Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass es keine Beweise für eine Verschwörung gibt, es war einfach ein Unfall, bei dem es zu einer Verkettung unglücklicher Umstände gekommen war. Die Opposition, die nun die Wahlen gewonnen hat, bezeichnete den fraglichen Mythos als eine Katyn-Lüge. Genauso wie die russische Lüge über die Ermordung der polnischen Eliten durch die Rote Armee während des Zweiten Weltkriegs, bei der behauptet wurde, die Deutschen wären es gewesen. Obwohl diesbezüglich systematisch gelogen wurde, wusste jeder in Polen, dass es eine Lüge war. Genau wie nach dem Absturz des Regierungsflugzeugs. Einige polnische Eliten begannen, das Opfersyndrom zu fördern, indem sie behaupteten, dass, so wie damals in Katyn gemordet wurde, nun auch wieder gemordet worden sei.
 
Polnischer Prometheus oder Allegorie des besiegten Polens. Werk von Horace Vernet (1789-1863) 1831 Öl auf Leinwand Musée des Beaux-Arts de la ville de Paris, Polnische Historische und Literarische Gesellschaft, Polnische Bibliothek

Polnischer Prometheus oder Allegorie des besiegten Polens Werk von Horace Vernet (1789-1863) 1831 Öl auf Leinwand Paris, Polnische Historische und Literarische Gesellschaft, Polnische Bibliothek | Emile Jean Horace Vernet, 1831 | Öl auf Leinwand | Polnische Bibliothek von Paris, Polnische Historische und Literarische Gesellschaft (SHLP) | via wikimedia

Gibt es heute in der Slowakei Gruppen, die unterdrückt werden und bei denen die Gefahr besteht, dass sie ihr Leid auf destruktive Art und Weise zu ihren Gunsten nutzen könnten?

Ja. Da ist zum Beispiel die so genannte Roma-Frage. Wir sehen es noch nicht, aber viele der zukünftigen Roma-Anführer werden das Thema der Roma als Opfer stark ausbauen, und sie werden zum Teil auch Recht haben. Das Problem wird sein, dass es bei den Darstellungen dann irgendwie zu Verzerrungen kommt. Sie fühlen sich so ausschließlich als Opfer, dass sie keine Diskussionen darüber zulassen werden, ob es noch andere Faktoren in dieser Frage gibt, wie zum Beispiel eine eigene Verantwortung. Eine solche Debatte wird es nicht geben. Wann immer eine Gesellschaft ein brennendes Thema ehrlich zur Sprache bringt und Aktivisten, Wissenschaftler und andere offen darüber diskutieren, wird Raum für diejenigen geschaffen, die mit dem Thema „Gewinne erzielen“.

Was wären das für Gewinne?

Sich zum Beispiel mit diesem Thema an die Macht zu katapultieren. Je mehr Emotionen man in die Debatten einbringt und das Thema polarisiert, vielleicht auch mit nicht ganz wahren Aussagen, desto besser kann man Menschen manipulieren. Das liegt auch daran, dass es im Umfeld der Roma über Generationen hinweg zu Stigmatisierungen und verschiedenen Formen der Diskriminierung gekommen ist. Und irgendwo sucht sich das dann ein Ventil. Für mich ist das strukturell vorhersehbar und unvermeidlich.

Im Moment leiden die Ukrainer*innen am meisten in Europa, sie sind jetzt eindeutig die Opfer eines Aggressors. Werden sie in Zukunft, wenn sie Teil der Europäischen Union sind, in der Lage sein, mit ihrer derzeitigen Notlage konstruktiv umzugehen?

Es wird für sie sehr verlockend sein, eine Opferidentität anzunehmen, insbesondere wenn sie mit ihren eigenen Versäumnissen konfrontiert werden. Das Opfersyndrom ist gerade deshalb problematisch, weil es nicht nur etwas Reales widerspiegelt, sondern auch sehr gut dazu geeignet ist, das eigene Versagen zu entschulden. Nicht zuletzt wurde ein solcher Mythos auch schon von der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. „Wir haben die Hauptlast des Krieges getragen, unzählige unserer Soldaten wurden auf eurem Territorium getötet. Wir haben euch befreit, wir haben uns für euch geopfert“, lautete ihr Argument, auf dessen Grundlage sie meinten, das Recht zu haben, die Gebiete anderer Staaten, einschließlich der Tschechoslowakei, zu besetzen und sie zu ihren Satelliten zu machen. Und in irgendeiner Form wiederholen die Russen dies auch heute noch.

Ich sehe die Zerstörungskraft der Selbst-Viktimisierung deutlich. Welche Haltungen können Nationen oder andere Gruppen davor bewahren, in diese Falle zu tappen?

Das Wichtigste ist, in Bezug auf sich selbst und die eigene Geschichte selbstkritisch zu bleiben. Es ist notwendig, großzügig zu sein. Und nicht so ablehnend gegenüber denjenigen, die darauf hinweisen, dass die Dinge komplizierter sind, als uns vielleicht lieb ist.
 

Doc. PhDr. Michal Vašečka, PhD. (*1972) ist Soziologe und studierte an der Masaryk-Universität sowie an der New School University in NYC. Seine beruflichen Schwerpunkte sind Studien über Ethnizität und Migration, Fragen zu Populismus, Extremismus und der Funktionsweise der Zivilgesellschaft. Seit 2017 ist er Programmdirektor des Bratislava Policy Institute, seit 2012 Vertreter der Slowakischen Republik in der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) beim Europarat in Straßburg und seit 2016 Vorsitzender des Redaktionsausschusses der Tageszeitung Denník N.

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