Rehab Hazgui
Etiology
„Etiology“ stellt die Bedeutung von „Erbe“ aus der Perspektive der Klangkünstlerin infrage. Da Erbe nicht als feste Kategorie existiert, sondern sich aus diskursiven Praktiken herausbildet, kann es zugleich eine Identitätsquelle sein, sowie auch Werte aufnehmen, die ihm von Gesellschaften, Institutionen und einzelnen Menschen verliehen werden.
In „Etiology” arbeitet Rehab Hazgui mit dem Stück „Ouyounik Soud عيونك سود”, dessen Aufnahmen in dem „Centre of Arab and Mediterranean Music (CAMM) / Ennejma Ezzahra“, einem tunesischen Klangarchiv, archiviert ist. In dem Stück sind die kraftvollen Klängen der Gasba (einer schrägen Rohrflöte mit offenem Mundstück) zu hören, die in populären tunesischen Praktiken Dorfbewohner in einem ekstatischen Tanz zusammenführt. Dieses Ritual hat in der Erinnerung der Künstlerin seit ihrer Kindheit einen lebenslangen tiefen Eindruck hinterlassen.
Mit „Etiology“ wählt Rehab Hazgui einen persönlichen Ansatz und kombiniert „Ouyounik Soud عيونك سود” mit Feldaufnahmen aus dem Archiv, die der deutsche Musikethnologe Wolfgang Laade 1960 im Südosten Tunesiens aufgenommen hatte. Laades Feldaufnahmen zeigt eine Improvisation auf der Gasba, die von der Bendir (einer Rahmentrommel) und Gesang begleitet wird und über den Bounawara-Rhythmus gespielt wird. Bounawara ist ein populärer Rhythmus, der fest in der tunesischen Erinnerung verwurzelt ist und in der Regel von einem Tanz mit demselben Namen begleitet wird. So bringt die Aufnahme drei Kernelemente populärer tunesischer (Volks-)Lieder zusammen: Gesang, Instrumente und Rhythmus, begleitet von Tanz.
Hypnotisiert von den wiederkehrenden, strukturierten und oftmals sehr tanzbaren Klängen der Gasba fügt Hazgui der Komposition synthetische Hornklänge hinzu. Diese, von Pierre Schaeffers und seiner Theorie zu Klangobjekten inspirierte Entscheidung verweist auf westliche Musik und schafft eine Überleitung in eine ganz andere Atmosphäre.
Länge: 3:11
Produktion: Rehab Hazgui
Feldaufnahmen: Wolfgang Laade
Instrumentierung: Gasba, Bendir, Synthesizer, Gesang
Originalkomposition/Datum: Feldaufnahmen von 1960
Aufnahme: August 2021
Text: keine Angabe
Tautology (Generative Landscape)
“Tautology” baut auf Klangexperimenten auf, die zwei Aspekte tunesischer Kultur zu Verbinden suchen: islamisch religiösen Traditionen und Musik. Die Künstlerin präsentiert verschiedene gesungene Darbietungen des Gebetsrufes Adhan, um einige seiner einzigartigen Elemente im heutigen Tunesien aufzuzeigen. Hazguis Ansatz, die Klänge des Adhan zu verwenden, versucht dabei bewusst, islamisches Erbe als kulturelles Phänomen zu fassen.
Im Einklang mit ihrer persönlichen Herangehensweise an dieses Thema verwendet Rehab Hazgui eigene Feldaufnahmen des tunesischen Gebetsrufs, die sie innerhalb der letzten beiden Jahre zusammengetragen hat. Der Adhan, als wichtigste musikalische Manifestation islamischer Kultur, führt die Gläubigen zur Moschee und kündigt die fünf täglichen Gebete an. Als Ritual besteht er aus einer Kombination von Phrasen, die einem exakten Muster (Iqamah) folgend zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt wiederholt werden. Die Worte des Gebetsrufes folgen einer festgelegten Betonung innerhalb der einzelnen Phrasen und einer spezifischen, durch Atempausen strukturierten Sequenzierung. Diese Sequenzen bleiben gleich, die Melodie jedoch verändert sich. Jedes Land zeigt dabei seine eigenen geringfügigen Variationen in der Flüssigkeit der Betonung.
In diesem Stück fängt die Künstlerin die Klangnuancen verschiedener Rezitationsmethoden und das akustische Ereignis, das sie in den unterschiedlichen Regionen Tunesiens erschaffen, ein. Hazgui benutzt dabei die langen Vokale, die in den letzten Worten der meisten Phrasen vorkommen, und erschafft durch die Synthese ihrer Auswahl Sound- Umgebungen. Diese Klänge mischen sich mit den einzigartigen (un-)harmonischen Strukturen der Welt, den Hup- und Verkehrsgeräuschen beispielsweise, welche (poly-)rhythmische Schleifen und Töne bilden, die sich auseinander strecken und über Ort und Raum hinaus nachhallen.
“Unsere gegenwärtige mobilitätsorientierte Welt hat bewiesen, dass Klang-Raum-Beziehungen zu allen Zeiten kulturell waren und sind und beständig historisch und sozial rekonfiguriert werden. Mit ‚Tautology’ lade ich Hörer dazu ein, die Idee, Klänge seien naturgemäß an bestimmte Orte und Kontexte gebunden, infrage zu stellen, da viele Klänge in anderen Kontexten neue Heimaten gefunden haben.”
Rehab Hazgui
Rehab Hazgui hat das Stück so komponiert, dass es eine Interaktion mit dem Zuhörer ermöglicht. Durch die Verwendung eines VCV Rack-Synthesizers sollte das Publikum die Möglichkeit bekommen, seine eigenen Aufnahmen hinzuzufügen. Aufgrund technischer Schwierigkeiten konnte diese Idee allerdings bedauerlicherweise nicht im Rahmen dieser Ausstellung realisiert werden.
Länge: 5’22
Produktion: Rehab Hazgui
Komposition:
Feldaufnahmen: Rehab Hazgui
Instrumentierung: Synthesizer
Originalkomposition/Datum:
Zeitpunkt der Feldaufnahmen: 2019 - 2021
Aufnahme: August 2021
Text: keine Angabe
Das Warum hinter der Musik
Rehab Hazgui
„Erbe“, das Konzept, das den Kern dieser musikalischen Entdeckungsreise bildet, ist für mich mit unangenehmen Konnotationen aufgeladen. Der Grund dafür liegt im fast schon mythischen Status dieses Begriffs. Indem er auf Traditionen, Wurzeln und Volk verweist, kann er flexibel und breit verwendet werden; jeder kann für sich selbst ein Erbe beanspruchen. Das, was für den einen „Erbe” ist, kann auch der „Pop Song“ eines anderen sein.
Für dieses Projekt habe ich einen persönlichen Ansatz dafür gewählt, zu entdecken, was der Begriff durch Musik bedeuten kann, weil ich glaube, dass sich individuelles Erbe von dem Erbe einer Gruppe in wichtigen Punkten unterscheidet. Die persönliche Erfahrung dieses Konzepts kann dabei genauso gültig sein, da es durch Familienerinnerungen, Raum, Ort und Praktiken gelebt wird. Es drückt sich durch musikalische Produktion, Instrumentierung, Spielweisen und tiefere Klangkonzepte aus. Alle diese Aspekte erfordern Interaktionen und Erfahrungen. Für mich ist Erbe deshalb etwas, das geschaffen, konstant verändert und weiterentwickelt wird.
Infolge verschiedener Wandlungsprozesse wird in einigen Ländern das musikalische Erbe als gefährdet wahrgenommen. Dabei erfordert die Konzeption eines „authentischen” künstlerischen Werkes eine gewissermaßen fetischistische Haltung. Im deutlichen Gegensatz dazu steht die Grundannahme einer Idee des Selbst innerhalb von Kultur. Erbe ist auf den Wechselspielen von Selbst, Ort, Zeit, Erfahrung und Menschen aufgebaut. Klang kann dabei helfen, diese Komplexität einzufangen und zu kommunizieren und so auch die einzigartige Charakteristik dessen hervorzuheben, was aus der Interaktion dieser Aspekte und Elemente entsteht. Das stellt uns als Klangkünstler in ein viel weiteres Kontinuum von Schall und Kultur.
Mein Ansatz in diesem Projekt entsteht aus der Fluidität und Offenheit, dem Wandelbaren in der Natur von Klang und Erbe, sowie der Dynamik zwischen Individuum und Gruppe. Da Gesang zugleich die Stimme der Kultur sein kann, auf die er sich bezieht, und die des individuellen Sängers, greifen meine beiden Arbeiten das gesangliche Erbe Tunesiens auf.