Jemenitische Künstler:innen kämpfen darum, nicht in kulturelle Vergessenheit zu geraten. Welche Rolle kann Kunst im Jemen spielen und welche Herausforderungen haben weiterhin aktive Künstler:innen zu meistern? Drei Portraits.
Jemen, ein Land bekannt für seine zeitlose Schönheit und sein reiches kulturelles Erbe, war schon immer Zuhause einer lebendigen Kunstszene. Künstlerische Ausdrucksformen im Jemen haben lokale Wurzeln im indigenen Erbe oder wurden von Kolonialmächten wie den Osmanen und den Briten übernommen. Die beiden Metropolen Sanaa und Aden sind kulturelle Knotenpunkte. In beiden Städten und im ganzen Land floriert die Kunst- und Kulturszene seit hunderten von Jahren.Seit dem Arabischen Frühling wurde die jemenitische Krise in den Medien als „unsichtbarer Krieg“ bezeichnet – tatsächlich ist der Krieg alles andere als unsichtbar. Jemenit:innen spüren die Auswirkungen jederzeit in ihrem Alltag. Im Zuge der Luftangriffe wurden Stätten des Kulturerbes dem Erdboden gleichgemacht. Die daraus resultierenden Schäden sind nicht zu beziffern. Die Auswirkungen auf die Kulturlandschaft als Folge dieser Ereignisse sind verheerend. Trotz allem haben Jemens Künstler:innen und Aktivist:innen die Hoffnung nicht verloren. Ich hatte die Ehre drei Künstler:innen – im Jemen und in der Diaspora – interviewen zu dürfen, um ihren Weg und Kampf kennenzulernen und damit die heutige kulturelle Szene zu beleuchten.
Asim Aziz: Ein preisgekrönter Filmemacher aus Aden
Asim Aziz ist ein preisgekrönter Filmemacher, der für individuelle Entfaltung eintritt und erfolgreich ein internationales Publikum erreicht. „Experimentelle Kunst hat keinen Raum im Jemen“, sagt Aziz „aber Aden ist der perfekte Ort für das Aufblühen dieser Art experimenteller Kunst und gleichzeitig meine primäre Quelle der Inspiration.“ Die Küstenstadt ist der Ursprungsort von Kulturszenen und Kunst in der Region. Bis in die 1930er-Jahre beherbergte Aden das erste Kino auf der arabischen Halbinsel ebenso wie eine lebendige Kunstszene aus Theaterensembles, Tanzgruppen und Lyrikkollektiven.Asim Aziz lebt im Kraytar-Bezirk, der in einem inaktiven Vulkankrater liegt und von historischen Monumenten viktorianischen, indischen und islamischen Ursprungs umringt ist. Umgeben von Jahrhunderten der Kunst als Inspiration fühlte er sich verpflichtet, die Themen der Menschen um ihn herum zu vermitteln. „In meiner Kunst geht es vor allem um psychologische Fragen im Zusammenhang mit dem Trauma des Bürgerkriegs von 2014“, erklärt Aziz, „ich frage Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf der Straße, wie sie mit diesem Trauma und ihren Alltagsproblemen umgehen. Sie sind immer lustig, umgänglich und auch bereit, Emotionales preiszugeben. Wenn ich könnte“, so Aziz weiter, „würde ich ihre Geschichten zum Leben erwecken und ihren leisen Stimmen in der Welt Gehör verschaffen.“
In seinem Kurzfilm „1941“ behandelt er Aspekte kultureller Isolation und den Wunsch nach Ablenkung. Die Kurzsichtigkeit, mit der seine Mitmenschen durchs Leben gehen, wird durch ein abgestumpftes Muster dargestellt, das die Schauspieler:innen ständig weiter stricken. Der Film war der erste im Jemen gedrehte und produzierte experimentelle Film, der auf internationalen Festivals mit Preisen geehrt wurde. Die erste Hürde, die Aziz überwinden musste, um seinen Film zu realisieren, war die Finanzierung. „Neben der finanziellen Förderung beinhaltete der Prozess ein Team zusammenzubringen, sie auszubilden und mit ihnen zu proben. Viele Leute hielten wegen des experimentellen Zugangs nichts davon, einen solchen Film zu drehen und die Schauspieler:innen davon zu überzeugen, ihre Kleidung abzulegen, war eine weitere gesellschaftliche Norm, mit der ich konfrontiert war.“ Die Internet- und Stromausfälle waren ein wiederkehrendes Thema während der Produktion des Films, ebenso wie sie Teil des Alltags der meisten Jemenit:innen sind.
Eine weitere Kunstform, die im heutigen Jemen fehlt, ist das Theater. Im Jahr 2014 wurden alle Kulturzentren und Theater geschlossen und nach Sanaa, Jemens Hauptstadt, umgesiedelt. Das Theater war in den vergangenen Jahren fast vollkommen von der kulturellen Landkarte Adens verschwunden. Der Grund dafür, erklärt Asim, sind mangelnde Finanzmittel und fehlendegeeignete Infrastruktur. Doch Jemens Kunstszene wäre ohne selbstorganisierte Räume und individuelles Engagement nichtwas sie ist. Ein solcher unabhängig organisierter Raum istArsheef: Eine neue Konzeptgalerie mit Sitz in Sanaa, gegründet von dem Künstler Ibi Ibrahim. In dieser Galerie konnte Asim seine experimentelle Fotografie im Rahmen der Ausstellung „Turning the Light On“ zeigen, die insgesamt fünf jungen jemenitischen Fotograf:innen eine Bühne bot. Asims vielschichtiger Ansatz des Storytellings wird in seiner Fotografie ebenso wie in seinem filmischen Werk sichtbar. Es gelingt ihm, Bildmaterial zu erstellen, das durch Verständnis und Empathie tiefe Emotionen hervorruft.
Najla Alshami: Kunst in der Diaspora
In Sanaa als Tochter eines Diplomaten geboren, lebte Najla in ihren jungen Jahren zwischen Europa und dem Jemen. Bis 2014 lebte sie in Sanaa, dann wurden sie und ihre Familie infolge des Kriegsausbruchs im Jemen aus ihren Leben gerissen und flohen nach Beirut. Heute lebt sie in Brüssel, von wo aus sie die KulturinstitutionYemen Art Base(YAB)betreibt. Neben der Kunst engagiert sich Najla als Aktivistin für unterschiedliche Themen, wie beispielsweise humanitäre Arbeit im Jemen.Auf die Frage nach den Wurzeln ihres Aktivismus erklärt Najla, dass ihr das globalisierte Aufwachsen ein sehr negatives Bild vom Jemen bescherte. Die Ungerechtigkeit gegenüber Frauen in ihrem Heimatland weckte eine instinktive Reaktion in ihr. So schlug sie als junge Erwachsene einen Karriereweg im Bereich soziale Gerechtigkeit ein. „Durch die humanitäre Arbeit entdeckte ich die Kunst, die in den Rissen dieses Landes versteckt ist. Ich begann mich danach zu sehnen, der Welt diese Schönheit zu zeigen“ erklärt Najla.
Was die Kunstszene im Jemen besonders braucht, sind Zugänge, die, wie sie sagt, der Schlüssel für Entwicklung in ihrem Land seien. „Als ich in Beirut war, blühte meine Kunst und mein Sozialleben auf eine Art auf, die ich mir nie hätte vorstellen können. Beirut war eine Drehscheibe, ein jugendliches, offenes Tor, mit Ressourcen und Gemeinschaft, besonders für jemenitische Künstler:innen. Jemen war lange Zeit isoliert. Bis vor einigen Jahrenwaren Kunstwerke dort von unterdurchschnittlicher Qualität, weil jemenitische Künstler:innen nicht sehen konnten, wohin sich die Welt bewegte.“
Ein verlässliches Netzwerk, umOnline-Ressourcen bereitzustellen, ist derzeit das Hauptziel von YAB. „Ich habe YAB neu gegründet, als ich in Beirut war“ sagt Najla, „mein Vorhaben war eine Datenbank zu schaffen, die all diese Künstler:innen verbinden würde, aber das erforderte eine Menge Arbeit. Durch unsereYa Salam-Kampagne machten wir die Weitläufigkeit dieser Szene sichtbar und damit das Potential für ein Netzwerk, in dem Künstler:innen einander unterstützen und Rat anbieten können. Der nächste Schritt ist jetzt, die Künstler:innen in Gruppen zusammenzufassen und ihre Bedürfnisse genauer zu analysieren.“Förderungen und Genehmigungen sind immer Hindernisse, aber es hat seine Vorteile in Europa zu leben: „Das Leben in Belgien hat mir viele Freiheiten verschafft. Wir haben mehr Möglichkeiten und mehr Sichtbarkeit, Finanzmittel zu bekommen ist leichter als vom Jemen aus. Sollten wir jemals Probleme mit den Behörden bekommen, können wir jederzeit die YAB-Büros von Sanaa nach Brüssel verlegen.“
Leider verfügen Einrichtungen, die ausschließlich im Jemen beheimatet sind, nicht über diese Privilegien. Eines der grundsätzlichen Probleme mit Förderungen in Sanaa ist, dass sie meist nach einem streng bürokratischen, oft europäischen Format ablaufen. In manchen Fällen wird von Künstler:innen verlangt, ihre Projektagenda oder das Narrativ zu verändern, um die Gelder zu erhalten. Finanzmittel werden oft durch lokale Regierungsvertreter:innen vergeben, die das Geld zur Förderung junger Kunstschaffender nutzen sollen, ihnen aber im Endeffekt sehr wenig bezahlen.
Sadiq Y. Al-Harasi: Die Archivierung des jemenitischen Kulturerbes
Sadiq ist Programmkoordinator, Autor, Erzähler und bildender Künstler und in Sanaa ansässig. Zu den Projekten, die Sadiq in den letzten paar Jahren durchführte, zählt das LiteraturprogrammKitabat(dt: Schriften) derRomooz-Stiftung. Das Programm hat einen großen Beitrag zum kulturellen Archiv des Jemen geleistet und hat dutzenden kreativen Köpfen Onlinekurse, Workshops und Hilfestellungen angeboten, wodurch literarische Werke unterschiedlicher Art entstanden. Im Rahmen desKitabat-Projektsführte Sadiq auchJalasatdurch, zehn Gesprächsrunden, in denen Autor:innen und Content-Creators zusammenkamen, um ihre Werke, ihre Inspirationsquellen und gemeinsame Herausforderungen zu diskutieren.Im Gespräch mit Sadiq wird schnell klar, wie wichtig diese Projekte waren, um einen sicheren Raum für andere Autor:innen anzubieten, in dem sie Kunst schaffen und lernen konnten. „Die Arbeit fürRomoozhat mir insgesamt Spaß gemacht, das für mich wichtigsteKitabat-Projekt, ist allerdings das E-Journal“, sagt Sadiq. Durch das E-Journal wurden hunderte jemenitischer Kulturmagazine aus den 1980er-und 1990er-Jahren aufbereitet und digitalisiert. Ein regelrechter Schatz für alle, die einen Blick darauf erhaschen wollen, wie der florierende Jemen aussah.
Sadiqs zentrales Anliegen ist, das soziokulturelle Erbe des Jemen zu bewahren. Außerdem koordinierte Sadiq ein Archivierungsprojekt, das achtzehn volkstümliche Geschichten in ihren ursprünglichen Dialekten dokumentierte. „Ich bin mit den Geschichten, die meine Mutter und mein Großvater mir erzählten, aufgewachsen“, sagt er, „das ist das erste Samenkorn, aus dem meine Vorstellungskraft wuchs. Wenn ich mir aber meine jüngeren Geschwister angucke, stelle ich fest, dass sie dieses Staunen nicht in sich haben, was nicht ihre Schuld ist. Es ist ein unumgängliches Ergebnis der kulturellen Auslöschung, die auftritt, wenn dein Heimatland von derartigen Turbulenzen heimgesucht wird.“ Sadiq plagt die Angst, dass seine zukünftigen Kinder ein ähnliches Schicksal ereilen wird und setzt daher alles daran, diese Situation zu verbessern. Mit der Archivierung bemüht er sich darum, diese Erzählungen und mythischen Figuren zu erhalten, damit es zumindest eine Chance gibt, ihren Platz im kollektiven Bewusstsein zu erhalten.
In seinem aktuellen Podcast und in weiteren schriftlichen Werken erzählt Sadiq mehr von diesen intimen Empfindungen. Als jemenitischer Mann, der außerdem kreativ arbeitet, galt es lange Zeit als Tabu, negative Gefühle auszudrücken und über sie zu sprechen. Sadiq beschreibt, dass sein kreativer Prozess ihn Seiten seines Inneren entdecken ließ, von deren Existenz er bis dahin nichts wusste. In einem seiner Podcasts führte er eines der ehrlichsten Gespräche mit seiner Mutter. Dabei tauchten sie in ihre gemeinsame schmerzhafte Vergangenheit ein, über die sie fünfzehn Jahre nicht gesprochen hatten.
Wie können wir jemenitische Künstler:innen unterstützen?
Die verheerende Situation im Jemen und das Durchhaltevermögen der jemenitischen Künstler:innen, der Situation zu Trotz, lässt uns mit vielen Fragen zurück. Wie kann Kunst trotz politischer Instabilität und sozialer Aufruhr weiter blühen? Was können uns diese Männer und Frauen über Resilienz beibringen und über die Fähigkeit, sich dem wirklich Wichtigen zu widmen, anstatt sich von alltäglichen Ängsten und Tragödien mitreißen zu lassen?Wir können uns alle daran beteiligen, Jemens historisches kulturelles Erbe zu bewahren und zu zelebrieren und es damit vor dem Vergessen zu bewahren. Egal ob durch Ausstellungsbesuche, den Kauf von Kunstwerken oder der Thematisierung in den Sozialen Medien.
Dieser Artikel wurde durch das Goethe-Institut Amman im Rahmen des „Kulturnetzwerke Jemen“-Projekt mit Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amtes gefördert, ebenso wurde der Artikel vom EU-finanzierten Projekt Yemen Creative Hubs unterstützt. Beide genannten Projekte empowern jemenitische Künstler:innen und Verantwortliche im Kulturbetrieb durch ein Angebot aus Trainings, Mentor:innenprogrammen sowie Fördermöglichkeiten für ihre Projekte.
Der Artikel erschien zuerst bei dis:orient.de im Februar 2024.
Juli 2024