Stille im modernen Tanz
Die Kraft der strukturierten Ruhe
Noch vor wenigen Wochen hätten sich nur wenige die Welt in einer solchen Lage vorstellen können. Während wir des Konflikts in der Ukraine gewahr werden, sehen wir den Schmerz der Verzweiflung und des Leids. Das Umgehen einer nuklearen Katastrophe fesselt uns an das Prinzip der Liminalität.
Niemand kennt das Ausmaß dessen, was vor uns liegt. Aber sicher ist, dass wir, während wir einen Strom von Menschen beobachten, die Grenzen überqueren, auch den Körper in Gefangenschaft erleben: außerhalb der vergänglichen Freiheit, eingeschlossen, unfähig wegzugehen oder sich zu bewegen. Es ist eine zutiefst traurige und traumatische Vergegenwärtigung von Stillstand.
Das Nachkriegsamerika der 1960er‑Jahre war dabei, sich neu zu erfinden. Damals näherte sich die Choreografin und Tänzerin Trisha Brown dem menschlichen Körper auf radikale Weise an. Bei Browns Choreografie eines scheinbar todesmutigen Spaziergangs in Man Walking Down the Side of a Building (1970) erleben wir, wie ein Künstler einen Raum zu einem Ort macht. In Lower Manhattan lief ein Mann, ihr damaliger Ehemann, der mit Gurtzeug waagerecht hängend an einem Seil befestigt war, sieben Stockwerke an der Außenwand eines Gebäudes hinunter. Im Zentrum dieses Stückes kreierte Brown einen liminalen Raum, der sich außerhalb – und oft in Widerspruch zu – der Kontrolle institutioneller Macht entfaltete. Sie entschied sich für eine Neuverortung von Navigation und Ort und veränderte das Paradigma dessen, was Tanz und performative Mobilität sein können.
Trisha Brown Dance Company's „Man Walking Down the Side of a Building“ (1971) aufgeführt in der Tate Modern während der UBS Openings: Das lange Wochenende Montag, 28. Mai 2006 | © Trisha Brown Dance Company, Photo © Sheila Burnett, courtesy of Tate Images. Dieser Wandel war sinnbildlich für die Tanzszene in Downtown Manhattan, die tänzerische Konventionen und die starre Funktion des Bühnentanzes infrage stellte. Das Building‑Stück war nicht von den üblichen Strukturen der Tanzkomposition motiviert, sondern von der erfinderischen Natur von Browns forschender Arbeit und der Kühnheit, mit der sie eine geheimnisvolle und einzigartige Zwischenzone und eine ephemere Auseinandersetzung mit Raum entstehen ließ. Die Erfahrung von Verfremdung oder gar Angst des Tänzers bei der Ausführung und des Publikums beim Zuschauen verbindet Wagnis und körperliche Belastung mit einem Gefühl der Ehrfurcht während des gemeinsamen Erlebens dieses außergewöhnlichen Werks.
Studierende in einer Gaga-Klasse | © Ascaf Indem sie sich auf den Gaga-Reflex einlassen, erleben die Tanzenden (wieder) die Freude am Tanzen und die Kraft des Tanzes, so Naharin, und erschließen sich neue Möglichkeiten, die ihre Virtuosität und Kreativität beeinflussen. Mit den Fähigkeiten der Tanzenden geschieht etwas Signifikantes, denn Gaga arbeitet an Sinneswahrnehmung, Koordination und Empfindsamkeit. Die Tanzenden sind stark und locker zugleich. Gaga macht sich den Einsatz von Dehnung, Über- und Untertreibung, von Laut und Leise zunutze und wirkt sich auf Biegsamkeit, Beweglichkeit, Bewegungseffizienz, Intentionalität und Klarheit aus. Gaga nimmt Bezug zu Schwächen, körperlichen Fixierungen und dem, woran jeder Mensch unbewusst festhält. „Es geht darum, sich der Bewegung hinzugeben, und um das Verhältnis zwischen Leidenschaft, Anstrengung, Schmerz und Vergnügen, Sexualität und Sublimierung“, führt Naharin aus. Gaga setzt sich mit überlagernden, vielschichtigen Aufgaben auseinander, die auf Vorstellungen aufbauen. Es ist ein zutiefst privater Ort der Neuorientierung, der das Gefühl von Gelassenheit heraufbeschwören kann, die Stille fördert und uns im Wesentlichen dazu befähigt, uns von der Hektik des Lebens abzuwenden und in eine innere Ruhe einzukehren. „Es ist das Gegenteil von Blockade“, meint Naharin. „Wenn wir etwas erzwingen, werden wir krank und müssen heilen.“ Er vergleicht es mit Groove. „Groove ist nicht immer Musik, sondern auch eine Schwingung. Gaga bringt die Knochen zum Schwingen.“
Wir können die Bedrohungen, denen wir gegenüberstehen, nicht unbedingt herunterspielen, aber unsere Aufgabe während der gegenwärtigen Herausforderungen, bei denen sich die Geschichten des Körpers, des Traumas und der Emotion überschneiden, muss sein, durch unsere schöpferische Arbeit oder im Mikrokosmos unserer einfachsten Handlungen grundsätzlich Sinn zu stiften. Wozu uns dieser Augenblick befähigt hat, ist, zu entschleunigen, zuzuhören, mit der Kraft dieser strukturierten Ruhe mitzuschwingen und sich des Innehaltens und der Erneuerung bewusst zu werden, welche die Möglichkeit zum Wandel bieten.
Ein Moment der Stille
In der Anfangsphase der COVID-19-Pandemie, als etliche von uns sozial distanzierte Stubenhocker*innen wurden und alles stillgelegt werden musste, war so vieles unbekannt. Angst griff um sich, und Isolation war allerorts. Offenbar schnellten zu jenem Zeitpunkt Google‑Suchanfragen nach den Wörtern „liminal“, „Liminalität“ und „liminale Räume“ in die Höhe. Der Anthropologe Victor Turner und die Anthropologin Edith Turner beschreiben mit Liminalität einen Übergang, eine Schwelle, bei der die allgemeinen Regeln alltäglicher Anforderungen nicht mehr greifen. Es ist ein Moment des Durchatmens und der Besinnung, ein Moment der Stille und vielleicht vor allem ein Moment, in dem die Zeit angehalten wird. Innerhalb dieses Rahmens möchte ich Beispiele von Tänzer*innen erörtern, die sich in ihrer Bedrängnis in diesen Zwischenraum begeben und richtungweisende Begegnungsorte für Erkundungen und Entdeckungen eröffnet haben.Das Nachkriegsamerika der 1960er‑Jahre war dabei, sich neu zu erfinden. Damals näherte sich die Choreografin und Tänzerin Trisha Brown dem menschlichen Körper auf radikale Weise an. Bei Browns Choreografie eines scheinbar todesmutigen Spaziergangs in Man Walking Down the Side of a Building (1970) erleben wir, wie ein Künstler einen Raum zu einem Ort macht. In Lower Manhattan lief ein Mann, ihr damaliger Ehemann, der mit Gurtzeug waagerecht hängend an einem Seil befestigt war, sieben Stockwerke an der Außenwand eines Gebäudes hinunter. Im Zentrum dieses Stückes kreierte Brown einen liminalen Raum, der sich außerhalb – und oft in Widerspruch zu – der Kontrolle institutioneller Macht entfaltete. Sie entschied sich für eine Neuverortung von Navigation und Ort und veränderte das Paradigma dessen, was Tanz und performative Mobilität sein können.
Trisha Brown Dance Company's „Man Walking Down the Side of a Building“ (1971) aufgeführt in der Tate Modern während der UBS Openings: Das lange Wochenende Montag, 28. Mai 2006 | © Trisha Brown Dance Company, Photo © Sheila Burnett, courtesy of Tate Images. Dieser Wandel war sinnbildlich für die Tanzszene in Downtown Manhattan, die tänzerische Konventionen und die starre Funktion des Bühnentanzes infrage stellte. Das Building‑Stück war nicht von den üblichen Strukturen der Tanzkomposition motiviert, sondern von der erfinderischen Natur von Browns forschender Arbeit und der Kühnheit, mit der sie eine geheimnisvolle und einzigartige Zwischenzone und eine ephemere Auseinandersetzung mit Raum entstehen ließ. Die Erfahrung von Verfremdung oder gar Angst des Tänzers bei der Ausführung und des Publikums beim Zuschauen verbindet Wagnis und körperliche Belastung mit einem Gefühl der Ehrfurcht während des gemeinsamen Erlebens dieses außergewöhnlichen Werks.
„Nicht Nein sagen“
Das Verändern der Geist-Körper-Dynamik und Schaffen einer neuen Art der Auseinandersetzung mit der Welt ist auch eng mit Ohad Naharins selbst entwickelter Bewegungssprache „Gaga“ verbunden, mit der alle Tänzer*innen, mit denen er arbeitet, täglich trainieren. Es ist ein kreatives System, in dem spielerische Übergefühle an die Oberfläche dringen und Tänzer*innen (und Nicht‑Tänzer*innen) dabei helfen, ihre Bewegungsgewohnheiten und Schwachstellen zu erfassen und damit Bewegung und letztlich das Sein neu zu erkunden. Diese wichtige Beziehung ist zugleich ein kraftvoller liminaler Raum, in dem nichts, insbesondere keine soziale Struktur, das Innehalten stört oder behindert, das auf einer tiefen Ebene verbindet und zu einem erweiterten Verständnis der Weite des Stillseins führt. Ein Schlüsselelement zum Durchdringen des Gaga-Ideals ist, wie mich Naharin vor einigen Jahren in einem Interview wissen ließ, einer negativen Einstellung entgegenzuwirken. „Nicht Nein sagen“, erklärte er nachdrücklich.Studierende in einer Gaga-Klasse | © Ascaf Indem sie sich auf den Gaga-Reflex einlassen, erleben die Tanzenden (wieder) die Freude am Tanzen und die Kraft des Tanzes, so Naharin, und erschließen sich neue Möglichkeiten, die ihre Virtuosität und Kreativität beeinflussen. Mit den Fähigkeiten der Tanzenden geschieht etwas Signifikantes, denn Gaga arbeitet an Sinneswahrnehmung, Koordination und Empfindsamkeit. Die Tanzenden sind stark und locker zugleich. Gaga macht sich den Einsatz von Dehnung, Über- und Untertreibung, von Laut und Leise zunutze und wirkt sich auf Biegsamkeit, Beweglichkeit, Bewegungseffizienz, Intentionalität und Klarheit aus. Gaga nimmt Bezug zu Schwächen, körperlichen Fixierungen und dem, woran jeder Mensch unbewusst festhält. „Es geht darum, sich der Bewegung hinzugeben, und um das Verhältnis zwischen Leidenschaft, Anstrengung, Schmerz und Vergnügen, Sexualität und Sublimierung“, führt Naharin aus. Gaga setzt sich mit überlagernden, vielschichtigen Aufgaben auseinander, die auf Vorstellungen aufbauen. Es ist ein zutiefst privater Ort der Neuorientierung, der das Gefühl von Gelassenheit heraufbeschwören kann, die Stille fördert und uns im Wesentlichen dazu befähigt, uns von der Hektik des Lebens abzuwenden und in eine innere Ruhe einzukehren. „Es ist das Gegenteil von Blockade“, meint Naharin. „Wenn wir etwas erzwingen, werden wir krank und müssen heilen.“ Er vergleicht es mit Groove. „Groove ist nicht immer Musik, sondern auch eine Schwingung. Gaga bringt die Knochen zum Schwingen.“
Die Möglichkeit zum Wandel
Es herrscht die grundlegende Auffassung, dass Tanz als Katalysator des Wandels dient. In Lin Hwai‑mins Songs of the Wanderers (1994) vom Cloud Gate Dance Theatre sehen wir einen Mönch in weißem Gewand, der siebzig Minuten lang regungslos auf der Bühne steht, während unablässig Reis auf ihn herabfällt. Der so genannte „Stehende Mann“ des Taksim-Platzes, Erdem Gündüz, nimmt am 26. Oktober 2014 an dem Performance-Projekt „Verhaltet Euch ruhig“ im Kesselhaus in Berlin, Deutschland, teil. Die Formate des Projekts zeigen Methoden auf, die zivilen, gewaltfreien Widerstand, Kunst und die Möglichkeiten der Partizipation und Zuschauer*innenschaft miteinander verbinden. | Jörg Carstensen © picture alliance / dpa Diese Pose hebt Stärke, Kontrolle und Konzentration sowie eine darunterliegende innere Einkehr hervor. Sie spricht von einem Raum des Übergangs, nicht von einem abgeschiedenen Schwebezustand, und von einer Bewegung hin zu einem befreiten Zustand des Seins und einem göttlichen Licht, das darin enthalten ist. Selbst Samuel Beckett, zuweilen als Barde der Trägheit bezeichnet, hätte das vielleicht anerkannt. 2013 nahm der türkische Tanzkünstler Erdem Gündüz mit seiner Standing-Man-Performance eine ähnliche Haltung ein und wurde zu einer Ikone des stummen, friedlichen und stillen Protests. Als „Stehender Mann“ (auf Türkisch: Duran Adam) ist er sogar zu einem Meme geworden. Während seiner Aktion warf er weder Steine noch rief er Slogans, sondern stand einfach stundenlang bewegungslos mitten auf dem Istanbuler Taksim-Platz und blickte auf das Porträt des Gründers der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, um für Meinungsfreiheit und gegen Polizeigewalt zu demonstrieren.Wir können die Bedrohungen, denen wir gegenüberstehen, nicht unbedingt herunterspielen, aber unsere Aufgabe während der gegenwärtigen Herausforderungen, bei denen sich die Geschichten des Körpers, des Traumas und der Emotion überschneiden, muss sein, durch unsere schöpferische Arbeit oder im Mikrokosmos unserer einfachsten Handlungen grundsätzlich Sinn zu stiften. Wozu uns dieser Augenblick befähigt hat, ist, zu entschleunigen, zuzuhören, mit der Kraft dieser strukturierten Ruhe mitzuschwingen und sich des Innehaltens und der Erneuerung bewusst zu werden, welche die Möglichkeit zum Wandel bieten.