Stillstand in der technologischen Kunst
Die Zeit anhalten?

Yoojin Lee, „Lie down: a prelude (first iteration)“ als Part von „As long as there is time to sleep“, 2018 © Bild mit freundlicher Genehmigung von Yoojin Lee und von Nest, Fotografie von Lotte van Uittert

Mit der Einführung des Zeitfaktors in die Medienkunst ist Stillstand zu einer Möglichkeit geworden. Für unser Dossier beleuchtet Esther Bourdages diesen spannenden Aspekt der zeitgenössischen Kunst.

Esther Bourdages

Wie die deutsche Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte‑Haber in ihrer Monografie Rolf Julius, Small Music (Grau) (1995) aufzeigt, hat die Kunst im Laufe des 20. Jahrhunderts eine neue Form der Interaktivität angenommen. Kreuzungen und Kombinationen von Medien verwischten die Grenzen künstlerischer Praktiken und ermöglichten, Raum und Zeit als Komponenten zu integrieren. Beispielsweise wurde der Klangraum als Erweiterung der visuellen Künste entwickelt. Auf diese Weise werden Kunstwerke innerhalb eines flexiblen Rahmens geschaffen, in dem verschiedenste Arten von Zeitlichkeit bis hin zum völligen Stillstand verbunden werden können.

Ein Zweig der Kunst, der Wissenschaft und Technik heranzieht, hat der Materie mittels Physik oder Chemie Bewegung verliehen und so kinetische Kunst, Op‑Art, Roboterkunst, Videokunst, digitale Kunst, Medienkunst und andere hervorgebracht. Diese dynamischen Kunstformen sind zeitlich und räumlich gebunden, müssen aber auch über einen längeren Zeitraum betrachtet werden.

Bewegung ist statisch!

Anstatt dem Rhythmus der Maschinen zu folgen, bedienen sich einige Künstler*innen der Technologie, um auf verschiedene Weise das hektische Produktivitätstempo der Industriegesellschaft zu hinterfragen. Dieser Artikel beleuchtet in diesem Zusammenhang künstlerische Projekte, die der technischen Effizienz den Rücken kehren und bewusst ein langsames, bis zum völligen Stillstand reichendes Tempo vorgeben.

Im Laufe der Geschichte haben Künstler*innen daran Freude gefunden, Maschinen zu verfremden, wie der Schweizer Künstler Jean Tinguely (1925–1991), dessen bewegliche metallene Skulpturen häufig absurde Formen annehmen: Einige wiederholen unablässig die gleiche Bewegung im Leerlauf; in einigen Fällen bewirken sie Langsamkeit oder eine Panne während des Betriebs. In anderen Fällen ist, wie bei Homage to New York (1961), die Selbstzerstörung der künstlerischen Installation vorprogrammiert. Tinguely selbst sagte dazu: „Haben Sie schon einmal eine Maschine gesehen, die eine Zeitung druckt? Man sieht nichts, so schnell geht das. Es ist verrückt ... Meine Maschinen hingegen sind immer garantiert nutzlos, immer garantiert visuell. Ich trödle, ich bin langsam.“ Der Schweizer Kunsthistoriker Jean‑Pierre Keller bemerkt, dass es Tinguely im Laufe seiner Karriere gelungen ist, unzählige Varianten ein und derselben Maschine zu schaffen: eine Maschine zum Anhalten der Zeit. (Jean‑Pierre Keller, 2010)

Die Zeit ist in Tinguelys Werk ein wichtiges Element. In einigen seiner Manifeste, die sich mit der Demokratisierung der Kunst befassen, stellte er gern die Bewegung als künstlerisches Element in den Vordergrund. Im März 1959 warf er 15.000 Exemplare seines Manifests Für Statik über der Stadt Düsseldorf ab, eine Ode an das Genießen des Augenblicks, an das statische Verharren in der Bewegung, welche seiner Meinung nach das einzig Beständige ist.

„Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht. Lasst euch nicht von überlebten Zeitbegriffen beherrschen, fort mit den Stunden, Sekunden und Minuten. Hört auf, der Veränderlichkeit zu widerstehen. Seid in der Zeit – seid statisch, seid statisch – mit der Bewegung.“

Jean Tinguely, „Für Statik“, Auszug, 14. März 1959. archives.skafka.net

In dem im selben Jahr veröffentlichten Text Static, Static, Static werden die auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinenden Begriffe Bewegung und Statik von Tinguely erneut zusammengeführt und miteinander verknüpft:
 
„Bewegung ist statisch! Bewegung ist statisch, weil sie das einzig Unveränderliche ist - die einzige Gewissheit, das einzig Unveränderliche. Die einzige Gewissheit ist, dass Bewegung statisch ist.“ (Jean Tinguely,1959)

Eine Kunst, die wie die kinetische Kunst in der Gegenwart wirkt, spricht direkt die Sinne des Publikums an. Die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss berichtet über einen Raum voller sich langsam bewegender Skulpturen von Pol Bury: „... in der Stille spürt man ... das Knarren der Seile ... schafft eine Umgebung, die die Sinne schärfen soll ...“ (Krauss, 1997).

Bei den Werken des deutschen Künstlers Rolf Julius (1939–2011), die das Visuelle und das Akustische eng miteinander verbinden, müssen die Betrachter*innen sich auf das Entstehen von Klangstücken konzentrieren, die sich aus minimalen, von den Materialien verstärkter Objekte erzeugten Tönen zusammensetzen. Manchmal wird die Akustik des Ortes in seine Werke einbezogen, wie im Konzert für einen gefrorenen See (1982): Das Publikum wurde gebeten, sich zum Anhören eines Klangstücks auf einen zugefrorenen See in Berlin zu begeben, wo aus kleinen Lautsprechern die Musik eines zugefrorenen Sees ertönte. Diese Ruhe findet man auch in dem Werk Raum der Stille wieder: Julius hatte einen Ort der Ruhe geschaffen, dem Kunst oder Musik oder beide zusammen eine Atmosphäre der Unbeweglichkeit verliehen und in den sich die Besucher*innen zurückziehen und im Stillen ausruhen konnten. Seine Idee war, auf der gesamten Welt derartige Räume der „aktiven Immobilität“ einzurichten, minimalistische Ruhezonen, die zum Erleben visueller Kunst, zum Zuhören und zur Konzentration einladen.
Gefrorener See Gefrorener See | © Shutterstock | rangizzz

„Slow Tech“

Den völligen Stillstand findet man auf einer weißen Leinwand, auf der nichts zu sehen ist und die so das Verschwinden des Bildes signalisiert. Die Fotoserie Drive-In Theaters (1978– ) des japanischen Künstlers Hiroshi Sugimoto (1948– ) spielt mit der Dualität der Gegenwart und dem Fehlen von Bildern, indem sie scheinbar leere Leinwände von Kinos und Autokinos zeigt. Tatsächlich zeigen die Fotos der blendend weißen Leinwände die Sicht eines Fotoobjektivs, das alle Bilder eines projizierten Films in einem einzigen Bild festgehalten hat. Die abgelaufene, in einem einzigen Bild erfasste Zeit beschwört ein verschwundenes Werk herauf, von dem nichts als ein Abdruck von Licht verbleibt.

In unserem digitalen Zeitalter nimmt die Technologie einen wichtigen Platz im Alltag ein. Überall auf der Welt werden auf unzähligen Netzwerken ununterbrochen Datenoperationen abgewickelt. Angesichts der übermäßigen Beanspruchung durch Computer, Telekommunikationsgeräte und soziale Netzwerke fordert die amerikanische Künstlerin und Autorin Jenny Odel in ihrem Buch How to Do Nothing: Resisting the Attention Economy eine Abkehr von der Aufmerksamkeitsökonomie. Stattdessen fordert sie eine neue Art der Wahrnehmung von Zeit und Raum, die sie „Placefulness“ nennt, eine Art Raumzeit mit „Gefühl und Verantwortung für die Geschichte (was hier geschehen ist) und die Ökologie (wer und was hier lebt oder gelebt hat)“ (Odel, 2019).

Unabhängige Kulturorganisationen reagieren angesichts der Allgegenwärtigkeit der Technologie. Mit seiner zwischen 2019 und 2021 realisierten Serie Slow Tech bezieht das feministische, der technologischen Kunst gewidmete Künstlerzentrum AdaX diesbezüglich eine kritische Position, die sich auf drei Aspekte gründet: Umwelt, Zeitlichkeit und Interaktionen (soweit sich diese Interaktionen auf konkrete Örtlichkeiten und Personen beziehen).

Im Anschluss an Slow Tech veröffentlichte die in Großbritannien ansässige Künstlerin Yoojin Lee im Februar 2022 ihre Arbeiten zum Thema Schlaf. Bewegt durch die Hyperkonnektivität, in der wir leben, reflektiert sie in Videos, Installationen und Texten über die Wechselbeziehungen zwischen den Menschen und den „Technologien des Lichts“. In As long as there is time to sleep untersucht sie das Thema Schlaf und sein paradoxes Fortbestehen in einer ständig beleuchteten Welt.

Der Akt des Schlafens, so die Künstlerin, sei zwangsläufig nicht mehr mit der von Operationsanfragen unterbrochenen Welt vereinbar, er verkörpere vielmehr eine Form des individuellen und universellen ​​​​​​ Widerstands. Yoojin Lee „slowth (habitats)“, 2020 Yoojin Lee „slowth (habitats)“, 2020 | © Bild mit freundlicher Genehmigung von Yoojin Lee und Titanik | Fotografie von Hertta Kiiski Sie stützt sich dabei auf die Philosophie des amerikanischen Autors Jonathan Crary, der die „Zeit der Gleichgültigkeit“ analysiert: die produktivitätsorientierte Zeit, nach der wir leben, „leugnet den sensiblen Rhythmus und die Textur des menschlichen Lebens ... verlangt von uns grenzenlose Verfügbarkeit, [und erzeugt gleichzeitig] ständige Unzufriedenheit, usw.“ (Lee, 2016)

Lee empfiehlt, den Akt des Schlafens einfach neu zu überdenken, sich diese Aktivität wieder zu eigen zu machen, um sie zu genießen. Sie betont zudem die Gegenwärtigkeit: „Ein Körper, der schläft, ein Mensch, der schläft, ist verletzlich und intim, aber gleichzeitig auch sehr gegenwärtig.“ Mit ihren sich über die Zeit entwickelnden technologischen Werken lehren uns die Künstler*innen, uns der Gegenwart bewusst zu werden und uns von der linearen produktivitätsorientierten Zeit zu distanzieren, um Zuflucht in einer abgeschotteten und unbeweglichen Raumzeit zu suchen.
 

Literaturnachweise

  • Helga de La Motte-Haber, Rolf Julius, Small Music (Grau), Heidelberg 1995, Kehrer Verlag, Seite 18
  • Jean-Pierre Keller, Tinguely et le mystère de la roue manquante, Genf 1992, Éditions de l'aube, Seite 41
  • Jean Tinguely, Für Statik, Auszug, 14 März 1959
  • Jean Tinguely, Static, Static, Static, November 1959
  • Rosalind Krauss, Passages: une histoire de la sculpture de Rodin à Smithson. Paris 2000, Macula, Seite 233
  • Jenny Odell, How to Do Nothing: Resisting the Attention Economy, Brooklyn 2019, Melville House, Seite 28
  • Yoojin Lee, As long as there is time to sleep. Eigenverlag, 2016. Onlinebuch

Das könnte euch auch gefallen

Tänzer*innen der Batsheva Dance Company nehmen an der Generalprobe ihrer neuen Show „Last Work“ in Tel Aviv am 1. Juni 2015 teil.
Foto (Detail): Ronen Zvulun © picture alliance / Reuters
Eine Frau erlebt ein Kunstwerk „One Minute Sculptures“ des österreichischen Künstlers Erwin Wurm.
© picture alliance/AP Photo | Kin Cheung