Klima und Autobahn Waldbesetzungen in Deutschland

Das Foto zeigt ein Baumhaus hoch oben in den Ästen eines Kiefernwaldes.
Foto: Lena Maurer

Wenn Waldstücke Bauvorhaben zum Opfer fallen sollen, sind sie meistens nicht weit: Aktivist*innen, die den Wald besetzen. Eine Reportage über Waldbesetzungen, den Alltag im Wald und Alternativen zum kapitalistischen System. 
 

Ein kalter Windstoß fegt über das zweite Stockwerk der hölzernen Plattform. Die Abdeckplane flattert, das Holz knarzt und die Kiefern, die die Plattform tragen, lassen den Boden schwanken. Mara sitzt mit angewinkelten Beinen auf einer nackten Matratze. „Autobahnen sind für mich eine Wüste, fernab von allem Lebendigen“, sagt sie. Ihre Kapuze ist über den Kopf gezogen. Um ihre karierte Jacke baumelt eine Brusttasche mit einem Funkgerät. Aufschrift „Presse“. Mara vertritt heute die Waldbesetzung in der Funktion als Pressesprecherin. „Es ist diese Gleichförmigkeit. […] Sogar die Raststätten sind überall gleich. Man kann überall die gleichen, schlechten, aufgeweichten Sandwiches essen. Und man gleitet über den Asphalt, ohne Widerstand.“ Autobahnen seien damit ein gutes Sinnbild von dem, was der Kapitalismus mit unserem Leben anstelle, schließt Mara. Ihre Augen leuchten. Auch wenn sie müde aussieht, wirkt ihr Geist hellwach.

Mara war schon in mehreren Waldbesetzungen. Sie hat im Hambacher Forst gelebt, hat sich aus dem Dannenröder Forst räumen lassen und jetzt ist sie hier: im Kiefernforst von Grünheide bei Berlin, keinen Kilometer entfernt vom Fabrikgelände des Automobilherstellers Tesla. Seit über einem Monat lebt Mara im Wald. Aktivist*innen haben hier seit Ende Februar 2024 mehr als ein Dutzend Baumhäuser und Strukturen errichtet. Sie protestieren damit gegen die Werkserweiterung in einem Wasserschutzgebiet. „Eine Autobahn in die soziale Klimakatastrophe“, so wird auf der Website der Waldbesetzung die Erweiterung des Werkes beschrieben.

Waldbesetzungen in Deutschland

Waldbesetzungen sind mittlerweile in Deutschland keine Seltenheit mehr. Immer öfter werden Waldabschnitte besetzt, die beispielsweise für den Straßenbau gerodet werden sollen. Die Website des Bündnisses Wald statt Asphalt, das sich während der Besetzung im Dannenröder Forst 2020 gegründet hat, zeigt besetzte Orte in ganz Deutschland.

„Der Danni [Dannenröder Forst] hat damals viele Menschen inspiriert […], selbst aktiv zu werden“, schreibt das Bündnis. Deswegen wolle es heute „Austausch und Vernetzung vielfältiger Akteur*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung“ fördern, die sich „gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Versiegelung natürlicher Flächen einsetzen“. Waldbesetzungen seien eine Form zivilen Ungehorsams und zielten darauf ab, Bauvorhaben auszubremsen, damit zum Beispiel „Bürger*innen-Initiativen und NGOs mehr Zeit erhalten, um juristisch gegen die Zerstörung vorzugehen“. Eine Räumung kann für die Aktivist*innen demnach auch rechtliche Konsequenzen haben. Um ihre Identität zu schützen, sind viele der Besetzer*innen daher mit fiktiven Namen unterwegs, manche sind sogar vermummt.

Waldbesetzungen sind laut des Bündnisses aber nicht nur eine Blockadeform, sondern auch Orte, an denen Utopien gelebt werden können und „ein hierarchiefreies, selbstorganisiertes und respektvolles Miteinander“ erprobt wird.

Sommer, Sonne, Anarchie

Auch Mara wurde anfangs von der Lebensweise in der Besetzung angezogen. Lifestyleorientiert und mit Lust auf Sommer, Sonne, Anarchie sei sie am Anfang an die Sache herangegangen. Als die 23-Jährige vor fünf Jahren das erste Mal in eine Waldbesetzung kam, wurde sie geschluckt von dem besetzten Ort, wo Beziehungen so anders aufgebaut waren, alles selbstbestimmt war und sie ständig in der Natur sein konnte.

Heute will Mara die Besetzung vordergründig politisch sehen. Denn auch, wenn in Besetzungen an Utopien angeknüpft wird, will sie das, was außen passiert, nicht mehr vergessen. Sie erzählt von der lokalen Bürgerinitiative, mit der sie zusammenarbeitet, aber auch von den Tesla-Mitarbeiter*innen, die sie verstehen kann. Und sie spricht von der Perspektive indigener Gemeinschaften, die in Südamerika ihren Lebensraum aufgrund des Lithiumabbaus verlieren. Komplex sei das alles, und daher will sie eine Position finden, mit der sich viele identifizieren können. „Für die Menschen und gegen den Kapitalismus zum Beispiel,“ sagt sie. Das Leben im Wald soll demnach ein Protest und kein Selbstzweck sein.

Alltag im Wald

In Grünheide begegnet man dem Versuch, die Besetzung als Protest zu sehen und den Wald zu schützen, an jeder Ecke. Die kleinen Bäumchen auf den buckeligen Forstwegen sind mit bunten Bändern markiert, damit niemand sie versehentlich zertrampelt. Die Baumhäuser werden mit Seilen an den Bäumen befestigt, damit keine Nägel in die Baumrinde geschlagen werden müssen. Und gekocht wird direkt an der Straße, damit im Wald kein Feuer ausbricht.

Neben der von Mara beschriebenen politischen Arbeit entstehen unzählige Aufgaben, die täglich erledigt werden müssen. Es gibt Aktivist*innen, die die Waldwege kennzeichnen, um die niedrigwachsenden Heidelbeeren zu schützen. In der Küfa, der Küche für alle, wird für bis zu hundert Menschen Porridge und ein warmes Abendessen gekocht. Über Spenden oder Foodsharing werden die wichtigsten Lebensmittel besorgt. Warme Kleidung, Schlafsäcke oder Powerbanks werden bei Bedarf gratis verteilt. Daneben gibt es täglich Freiwillige, die Wasser in großen Kanistern holen, abspülen, sich um die selbstgebauten Trenntoiletten kümmern oder an kalten Tagen warmes Wasser für Wärmflaschen aufkochen. Das Abwasser wird in großen Tonnen gesammelt und abtransportiert. Eine Gruppe von Aktivist*innen, so Mara, versucht gerade sogar, ein eigenes Solarsystem aufzubauen. Weitere Grundbedürfnisse, wie Duschen oder Wäsche waschen, werden häufig im angrenzenden Berlin erledigt.

Zudem finden täglich Workshops und Gruppentreffen statt. Diejenigen, die klettern können, bauen an den Baumhäusern weiter oder bieten Kletter-Workshops an. Es wird Pressearbeit geleistet, der Internetauftritt gepflegt und sich mit anderen politischen Gruppen ausgetauscht. Außerdem gibt es Awareness-Personen, mit denen in einem geschützten Raum über Emotionen gesprochen werden kann, und die Unterstützung im Fall von Diskriminierung oder übergriffigem Verhalten bieten. Und das zu jeder Uhrzeit.

Die verschiedenen Aufgaben werden jeden Tag im ToDo-Plenum am Morgen oder im Abendplenum auf freiwilliger Basis verteilt. Wer Pause machen will, kann das tun – auch wenn das der Anzahl an Aufgaben entsprechend nicht allzu häufig vorkommt.

Montag ist eigentlich Pausentag

„Viele Menschen in Besetzungen machen keine Pausentage“, betont Nemo, ein*e Aktivist*in, die fast täglich in der Küfa unterstützt, Klettern lehrt und am einzigen Pausentag in der Woche gerade angefangen hat, ein Zelt für die Lagerung der Lebensmittel aufzubauen.

Hier in Grünheide sind manche nur zu bestimmten Zeiten vor Ort, weil sie daneben noch einen Job ausüben. Einzelne fahren sogar von der Besetzung aus zur Schule. Und die Vollzeit-Besetzer*innen sind den ganzen Tag damit beansprucht, das Leben im Wald am Laufen zu halten. Dazu gehört auch, Entscheidungen zu durchdenken, sich abzusprechen und Lösungen für Probleme zu finden. Denn auch wenn der Umgang untereinander respektvoll ist, sind die Aktivist*innen nicht immer einer Meinung. Dazu kommt, dass das Leben im Wald auch anstrengend sein kann. Wenn Aktivist*innen mit Vorurteilen begegnet wird, die Räumung näher rückt, es besonders kalt ist, oder weil es keine Tür gibt, die man mal so eben zuziehen kann.

Eine Schneise

Von Sommer, Sonne, Anarchie ist bei den Besetzer*innen, die länger dabei sind, wenig zu spüren. Vieles hätten die Aktivist*innen in früheren Besetzungen gelernt, und ernsthafter sei die Auseinandersetzung geworden, sagt Mara. Dass Orte nicht geräumt werden können, glauben Mara und Nemo nicht mehr. In den Dannenröder Forst ist Mara damals allein für die Räumung gekommen. Zwei Monate wurde eine Schneise „durch den Wald, aber auch durch das Leben ganz vieler junger Menschen geschlagen“, meint sie heute. Ob sich Mara aus dem Forst in Grünheide räumen lassen wird, weiß sie noch nicht genau. Aber „das ist auch nicht das Wichtigste, was man hier tun kann.“

Die Vögel zwitschern im Hintergrund. Der Wind hat die Wolken vertrieben, die Sonne malt Schatten auf den moosbewachsenen Waldboden. Hier im Kiefernforst von Grünheide ist nichts zu spüren vom glatten gleichförmigen Asphalt ohne Widerstand.

Redaktionelle Anmerkung:
Mara und Nemo: Aktivist*innen in Besetzungen wollen meist anonym bleiben. Die Namen sind von den Aktivist*innen selbst ausgesucht und fiktiv.
 
 

Hambacher Forst: Der Hambacher Forst wird von Aktivist*innen als „Hambi“ bezeichnet. Der Wald wurde seit 2012 immer wieder aus Protest gegen die kontinuierliche Erweiterung des Hambacher Braunkohle-Tagebaus besetzt. Die Rodung wird seit 2018 unter anderem aufgrund eines vorläufigen Rodungsstopps und dem 2020 beschlossenen Kohleausstiegsgesetz der Bundesregierung ausgesetzt.

Dannenröder Forst: Der Dannenröder Forst wird von Aktivist*innen als „Danni“ bezeichnet. Der Wald wurde 2019 aus Protest gegen den Bau der A49 von Aktivist*innen über ein Jahr lang besetzt. Ende 2020 wurde der Dannenröder Forst geräumt und eine Schneise für die Autobahn gerodet