Ein Leben mit Thomas Mann Der Arzt aus Tel Aviv und seine Liebe zum „Zauberberg“

Jeden Tag liest Michael Siedner etwas von Thomas Mann. „Weil er meine Seele berührt“, sagt der Arzt aus Tel Aviv. Mindestens 50 Mal hat sich der 69-Jährige allein in „Den Zauberberg“ vertieft, von Anfang bis Ende. Bei einem Besuch im Goethe-Institut Tel Aviv verrät er, warum ihm dieser deutsche Autor so viel bedeutet.
Über meinem Klavier hängen drei Porträts: von meiner Mutter, von meinem Vater und daneben von Thomas Mann. Für mich ist er ein Genie. Mein Leben, so stark muss man es einfach sagen, hat er erleuchtet, immer wieder.Wer Mann liest, merkt: Er hat gelebt, um zu schreiben. Er war ein Meister der Sprache und unglaublich produktiv, bis zum Ende seines Lebens. Zugleich verkörpert er für mich Humanität, Wissen und Neugier. Ein Freund hat mich kürzlich einmal gefragt: Ist Thomas Mann vielleicht sogar so etwas wie ein Vater-Ersatz für dich? Ich glaube, da ist etwas dran.

Thomas Mann-Bild in der Wohnung Michael Siedners, neben den Bildern seiner Eltern | Foto: Cedric Dorin © Goethe-Institut Israel
Fragt mich jemand, welches mein absolutes Lieblingsbuch von Thomas Mann ist, ist die Wahl so schwer, als sollte man seinen liebsten Finger an der Hand kürzen. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde auch Thomas Mann einmal gefragt, in welchem seiner Protagonisten am meisten von ihm selbst stecke, da sagte er: in allen.
Der Zauberberg ist allerdings ein Werk, das jeder einmal gelesen haben muss. Denn an diesem Buch kann man exemplarisch sehen, warum Thomas Mann solch ein Genie ist. Dieses Buch ist so komplex und systematisch aufgebaut wie eine Fuge in der Musik. Deshalb geht es mir wohl wie vielen: Man greift immer wieder danach, weil man bei jedem Lesen etwas Neues entdeckt. Geredet wird dort über Politik, über Kunst, Musik, Medizin, Physik, Anatomie und Theologie, das hat fast schon etwas von einer Enzyklopädie. Durch seine Gabe, genau zu beobachten und dann präzise und mit Humor zu beschreiben, erschafft Thomas Mann auf diesem Zauberberg einen ganz eigenen Kosmos mit Charakteren, die einem vertraut wie Freunde werden. Gelegentlich glaubt man sogar genau zu wissen, wie sich ihre Stimme anhören.

Der Zauberberg von Thomas Mann auf Hebräisch | Foto: Cedric Dorin © Goethe-Institut Israel
Der Freund, der kürzlich vermutete, dass Thomas Mann eine Art Vater-Ersatz für mich ist, fragte mich auch: Wenn es möglich wäre, ihn zu treffen, was würdest du ihn fragen? Dazu kann ich nur sagen: Ich würde ihn nichts fragen, ich würde ihm nur danken wollen. Und ich glaube, ihn würde es sehr freuen, dass Menschen solch starke Gefühle für ihn haben.
Mika Adler, Mitarbeiter des Goethe-Instituts Israel, führte das Gespräch mit Michael Siedner. Cedric Dorin, Journalist und Fotograf, protokollierte Michael Siedners Aussagen und fertigte die Fotos an.