Sight.Seeing Bundestag - Marion Eichmann
Die Werke von Marion Eichmann spiegeln den Versuch wieder, den Alltag eines Parlaments zu beobachten und die hochkomplexe Maschinerie der Demokratie in ihren Kunstwerken einzufangen. Sie richtet ihr Augenmerk dabei auf sowohl medial bekannte Räume und ikonische Fassaden als auch für die breite Öffentlichkeit kaum sichtbare Arbeitsräume, Maschinen, Hinweisschilder und Geräte. Mehr als einhundert komplexe und farbenfrohe Papierschnitte, Collagen und Zeichnungen sind innerhalb eines Jahres entstanden und zeigen das Parlament aus ungewohnten Blickwinkeln.
Im Rahmen der Veranstaltung "Sight.Seeing Bundestag - END-Alumni im Gespräch mit Marion Eichmann" haben Stipendiatinnen und Stipendiaten ihre Beobachtungen und Interpretationen einzelner Werke gemeinsam mit der Künstlerin diskutiert. Abgerundet wurde der gemeinsame Austausch durch einen individuellen Gang durch die Ausstellung. Die weiteren Bilder zeigen eine Auswahl der von den Alumni interpretierten Werke. Wir bedanken uns herzlich für die spannenden Gespräche an der Schnittstelle von Kunst und Politik.
"ADLER WEISS"
Kommentar von Mariella Cantagalli, Senior expert, DG TRADE, EU-Kommission
© Marion Eichmann
Als ich das Verbindungsbüro des Deutschen Bundestags in Brüssel betrat, war ich sofort von dem weißen Adler an der Wand neben der Pförtnerloge im Eingangsbereich beeindruckt. Mir kamen dabei zwei Ideen:
Der Adler, ein ehemaliges Symbol kaiserlicher Macht, befindet sich heute im Plenarsaal im Reichstagsgebäude und wird heutzutage als Symbol der deutschen Demokratie verstanden. Marion Eichmanns Adler erhält durch die Verwendung von Papier und durch die Technik der Collage eine Leichtigkeit und auch eine gewisse Luftigkeit, die der Symbolmacht als solches die Schwere nimmt, jedoch zugleich die Macht der Demokratie dem Volk näherbringt.
Weiter erinnert mich dieser Adler an meine Kindheit: Die Ausstrahlung in seiner Leichtigkeit und die Gefühle, die er in mir hervorruft, sind für mich schön und angenehm. Er gibt mir ein Gefühl von Sicherheit und ich fühle mich von ihm geschützt.
"FAHNE"
Kommentar von Raphael meyer, Jurist, Rat der Europäischen Union
© Marion Eichmann
Es gibt ein Kunstwerk an sich, als reales Objekt. Aber ich glaube, das eigentliche Kunstwerk entsteht wirklich in der Begegnung zwischen diesem realen Kunstwerk und dem Zuschauer und dessen eigener Vergangenheit und Geschichte.
In diesem Kontext muss ich sagen, dass ich mich besonders von Marion Eichmanns Arbeit im Bundestag angesprochen fühle und glaube, dass das zum Teil von meiner persönlichen und familiären Geschichte her kommt.
Meine Mutter war immer von zeitgenössischer Architektur begeistert und eine Zeit lang als Innenarchitektin tätig. Zuhause hatten wir immer Architekturpläne oder Modelle, sowie Bücher über Architektur, die in ihrem Büro herumlagen. In den Ferien haben wir immer einen Umweg gemacht, um dieses oder jenes moderne Gebäude zu besichtigen.
Dieses Universum von Linien, Bögen, Kreisen, Perspektiven, flach, aber auch dreidimensional, in dem auch gebastelt wird, versehen mit wenig Farben, hat mich direkt angesprochen und kommt mir bekannt und familiär vor. Ich war nicht überrascht als ich später im Katalog gelesen habe, dass der Vater von Marion Eichmann selbst Architekt war.
Weil ich mich eben von vielen Bildern dieser Ausstellung angesprochen fühlte, war es nicht einfach ein Bild auszusuchen. Als Jurist habe ich das Bild mit dem Bücherregal mit den Gesetzbüchern wirklich eindrucksvoll gefunden. Auch die Perspektive aus dem Reichstaggebäude auf den Friedrich-Ebert-Platz mit Blick auf den Reichstagspräsidentenpalais gefällt mir sehr.
Aber am Ende habe ich mich für das Bild „Fahne“ entschieden, erstens, weil ich es sehr repräsentativ für dieses Projekt gefunden habe. Es ist keine monumentale, künstliche oder artifizielle Perspektive, die man vielleicht nur mit einer Drohne sehen könnte, sondern eine Sicht aus einer menschlichen Perspektive, aus einem menschlichen Auge, wie es ein Besucher oder ein Mitarbeiter des Bundestags sieht, wenn er im Gebäude unterwegs ist. Oben in der linken Ecke des Bildes sieht man ein Stück Fenster oder Jalousie, und Linien, wie in einem Fenster, welche das Bild durchqueren.
Zweitens habe ich mich für dieses Bild entschieden, weil ich es sehr repräsentativ für das Reichstagsgebäude finde. Dem Architekt Norman Foster ist es gelungen, das existierende Gebäude nicht nur zu bewahren, sondern wirklich hervorzuheben. Er hat das Gebäude für ein modernes demokratisches Parlament zweckdienlich gemacht, ohne die existierende Architektur zu verdecken, und auch ohne etwas Kitschiges zu schaffen, oder eine ahistorische Replik, wie im Fall des Berliner Schlosses.
In diesem Bild sieht man wirklich die Verbindung von Tradition und Moderne, die das Reichstaggebäude prägt. Es zeigt auch, wie der Architekt interessante Blickachsen quer durch das Gebäude geschaffen hat. Drittens, direkter in Verbindung mit dem Bild selbst, finde ich, dass es eine reale Bewegung zum Ausdruck bringt, eine Dynamik. Ich bin kein Spezialist aber ich denke, dass das von den starken schwarzen Linien kommt, und auch von der Fahne, die man sich fast bewegen sieht. Es sieht auch ziemlich streng aus, geschäftsmäßig, wie ein Parlament auch sein muss!
"DEM DEUTSCHEN VOLKE"
Kommentar von Juan GOMEZ-RIESCO, Legal Officer, GD JUST, EU-Kommission
© Marion Eichmann
Ich habe das Bild “Dem Deutschen Volke” ausgewählt, weil es mich zum Nachdenken gebracht hat. Dieses Bild zeigt die Westfassade des Reichstagsgebäudes mit Barrieren. Die Fassade ist nur eine Skizze und steht etwas im Hintergrund. Die Fassade ist mit Graphit gezeichnet, wohingegen die Barrieren rot, grau und weiss sind. Dadurch entsteht ein Kontrast. Es scheint so, als ob der Schwerpunkt oder die Betonung auf den Barrieren liegt.
Es stimmt, dass das Reichstagsgebäude täglich viele Besucher hat, und es auch Sicherheitsgründe für das Errichten von Barrieren gibt: Besichtigungen müssen organisiert, Unfälle oder Angriffe müssen verhindert werden. Dennoch regen diese Barrieren vor dieser Fassade zum Nachdenken an. Hier scheint ein Widerspruch zu zwischen dem Titel „Dem deutschen Volke“ und diesen Barrieren zu bestehen, die den Zugang blockieren und das Gebäude schützen. Das lässt mich an die Krise der repräsentativen Demokratie und an die Krise des repräsentativen Parlamentarismus und den zunehmenden Populismus in einigen Staaten denken. Es besteht ein Widerspruch zwischen der Offenheit des Parlaments und den Barrieren. Hierin sehe ich eine gewisse Symbolik und eine Aufforderung bzw. Einladung zum Nachdenken. Ich vermute jedoch auch, dass jeder Mensch eine andere Sicht auf dieselben Bilder hat, auch abhängig vom eigenen Hintergrund.
"Handeln für morgen"
Kommentar von Aigi Kasvand, GD Mobility, Policy officer, EU-kommission
© Marion Eichmann
Ich habe das Werk "Handeln für Morgen" ausgewählt. Mich hat sehr fasziniert, wie detailreich und detailgetreu das Bild ist. Man erkennt die wichtigsten Wahrzeichen in Berlin wie den Fernsehturm, den Bahnhof Friedrichstrasse, die Spree usw. Für frühere Arbeiten hat die Künstlerin zuerst die Stadt erkundet und danach die Bilder erstellt. Die Arbeit im Bundestag war anders als Marion Eichmanns vorherige Werke, weil sie viel Zeit im Reichstag selbst verbracht hat. Welche Rolle hat die Stadt Berlin dabei gespielt?