Julio Ludemir, Schriftsteller, Drehbuchautor und Kulturproduzent, ist einer der Gründer und Organisatoren der FLUPP (Festa Literária das Periferias). Sein Repertoire als Junge war das Repertoire des Fußballes – bis die Kunst und die Literatur in sein Leben getreten sind. Mit der FLUPP, die bei jeder Auflage in einer anderen Favela zu Gast ist, ungewöhnliche internationale Autoren einlädt und junge Autoren, oftmals von der Peripherie, formt, trägt er heute, unter Mitwirkung des Goethe-Instituts Rio de Janeiro, selbst zur Transformation in den Köpfen und in der Realität der Menschen bei.
Herr Ludemir, wie ist es zu Ihrer Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Rio de Janeiro gekommen?
Das Goethe-Institut Rio ist von Anfang an ein treuer und strategischer Partner der FLUPP gewesen, die Zusammenarbeit eine Geschichte von viel Kooperation, viel Verständnis. Wer die FLUPP als erstes verstanden hat, waren das Goethe-Institut und andere internationalen Institutionen, viel mehr als die Brasilianer.
Inwiefern?
Brasilien ist das Land der herzlichen Beziehungen. In Brasilien wird zuerst die Personen unterstützt und dann das Projekt. In Bezug auf Deutschland und das Goethe-Institut wussten wir nicht, wer unsere Ansprechpartner/in ist. Wir hatten nur eine Telefonnummer, die haben wir angerufen und erklärt was unser Projekt ist: “Wir sind die FLUPP, wir sind ein Literaturfestival und wir suchen Partner”.
Also haben Sie mit der Idee und dem Konzept der FLUPP überzeugt.
Schon bei der FLUPP 2012 hatten wir einen deutschen Autor dabei, der über eine Partnerschaft, die die Universidade Federal Fluminense (UFF), das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland und das Goethe-Institut beinhaltet, und ein Residenzprogramm an die UFF kam. Dieser Autor hat eine Fußball-Nationalmannschaft aus Schriftsteller/innen angeregt. An einem kalten Abend im Jahr 2013 haben wir ein Spiel an der Peripherie Frankfurts mit 1:9 verloren. Da haben wir die Weltmeisterschaft schon vorweggenommen. Bei einem Rückspiel in Rio inmitten der großen Besetzung der Maré durch das Militär haben deren Bewohner/innen und die funkeiros quasi mit den Panzern nebenan gegen ein deutsch-brasilianischs Team gewonnen. Danach haben wir eine Lesung mit den Texten veranstaltet, die jede/r dieser Schriftsteller/innen produziert hatte. Das Goethe-Institut hat diese Texte publiziert.
Ein internationales Literaturfestival in einer Favela gibt es nicht jeden Tag. Welche Rolle spielt es dabei, dass viele Leute nicht verstehen, was die Favela ist oder was sie bedeutet, auch weil sie einfach keine Erfahrung damit haben?
Der Tourismus im Vidigal oder in der Babilônia ist viel intensiver mit Europäern, US-Amerikanern und anderen Ausländern als mit Brasilianern. Es ist einfacher, dass ein ausländischer Jugendlicher in der Babylônia unterkommt als beispielsweise ein Jugendlicher aus der Mittelklasse aus Recife oder Rio. Es gibt diese verdeckte brasilianische Voreingenommenheit, die meiner Meinung nach schlimmer ist als offener Rassismus. In dem Maße, in dem die internationalen Institutionen uns akzeptieren, aufgenommen und ermutigt haben, hatten wir mehr Leichtigkeit, in Brasilien zu operieren als davor.
Wenn Sie Bilanz ziehen und auf die kommenden 60 Jahre blicken – worin sehen Sie die Herausforderungen für Rio de Janeiro, die FLUPP, den deutsch-brasilianischen Austausch?
Als wir den “Rio Poetry Slam” gegründet haben, haben wir sofort die deutsche Szene integriert. Der Gründer und Verbreiter des Poetry-Slam in Deutschland kam nach Rio. In diesem Jahr sind wir sogar dabei, unsere Partnerschaft zu vertiefen. Unsere erste Veranstaltung wird zusammen mit dem Goethe-Institut sein. Am 23. April werden wir eine Feijoada im Vidigal machen, der Comunidade, die uns in diesem Jahr aufnimmt. Diese Veranstaltung wird mit dem Thema der Immigration einhergehen. Nur, dass Immigration in Brasilien und Rio de Janeiro eine andere Bedeutung hat als in Europa und besonders in Deutschland. Für uns ist ein/e Immigrant/in eine Person aus dem Nordosten, die wie ich nach Rio kommt und in einer Favela wohnt. Und wir werden diese Immigrant/innen, die sich im Vidigal angesiedelt haben, von ihren Erinnerungen erzählen lassen.
Für Deutschland hat Immigration eine völlig andere Bedeutung.
Für Deutschland ist Immigration mehr extern als intern, Immigrantinnen und Immigranten sind vor allem die Syrer/innen, die kommen, nicht wahr? Es sind die Opfer dessen, was ich in “weltweite Kartographie des Konflikts” nenne. Es gibt ein Problem, eine Diktatur, einen Krieg – und einen intensiven Migrationsfluss in die großen europäischen und US-amerikanischen Städte.
Das Goethe-Institut promotet derzeit weltweit Veranstaltungen, in denen das Schlüsselwort “Migration” ist. Welche Parallelen sehen Sie zwischen der Migration in Europa und Brasilien?
Diese großen Migrationsströme, die es gegeben hat, werden die Idee von Europa neu definieren. So wie wir die Migrantinnen und Migranten aus Pernambuco oder Syrien empfangen, wird definieren, wie die kommenden 60 Jahre sein werden. Wir werden eine andere Hautfarbe haben, andere Akzente, eine andere Kultur, Religion. In Deutschland war in den 1970er Jahren von Breitner und Beckenbauer ein dunkelhäutiger Spieler in der Nationalmannschaft undenkbar. In Brasilien wird diese Krise vorübergehen und das Land seine Bestimmung wiederfinden. Die Krise ist gewaltig. Aber Brasilien ist noch nicht verloren. Je größer die brasilianischen Krisen sind, umso besser geht Brasilien daraus hervor.
Welche Rolle kann das Buch dabei spielen? Und inwiefern kann es die Köpfe der Menschen verändern?
Ich werde von mir sprechen, Julio. Ich wäre eigentlich ein Fußballspieler geworden. Seitdem das Buch in mein Leben getreten ist, habe ich mich so verändert, so dass ich ein Schriftsteller geworden bin und ein kultureller Produzent. Auf die Art und Weise, wie Bücher Personen verändern, verändern sie Gesellschaften und darüber hinaus konsolidieren sie die Demokratie.
Brasilien kann in diesem Aspekt noch entdeckt werden, wobei die FLUPP zur Ausbildung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern beiträgt.
Die Lösung Brasiliens liegt in der Peripherie. Und die Festivals können sich nicht nur mit dem beschäftigen, was besteht, sie müssen anfangen zu suchen und neue Formen der Literatur schaffen. Dazu gehört eben der “Rio Poetry Slam”, aber auch die Schreibwerkstätten der FLUPP, die sich über das ganze Jahr hinweg ziehen. Die Stimmen von der Peripherie können einen großen Beitrag zur Interpretation der Welt leisten. Die Welt, die wir interpretieren, ist eine andere als die, die die Peripherie interpretiert. Und die Welt von der Peripherie interpretiert kann, sehr viel interessanter sein als die Lektüre von jemanden aus dem Zentrum.