Jens Glüsings Interesse als Journalist galt von Anfang an, seit der freien Mitarbeit beim “Hamburger Abendblatt”, Lateinamerika. So reiste er nach dem Studium viel durch diese Region und arbeitete frei für deutsche Medien. Inzwischen arbeitet Jens Glüsing für das Magazin “Der Spiegel”, ist einer der deutschsprachigen Korrespondenten, der am längsten in Rio de Janeiro ist, und gilt als profunder Kenner der politischen und sozioökonomischen Strukturen Brasiliens und Südamerikas. Auch die Erwartungen und Enttäuschungen Deutschsprachiger mit Rio und dem “Land der Zukunft” sind ihm wohlbekannt.
Herr Glüsing, Sie sind seit 1991 in Rio de Janeiro und haben in der Zeit einen tiefen Einblick in die brasilianische Politik und Gesellschaft bekommen. Gleichzeitig haben Sie deutsche Werte wie Gemeinsinn und den kulturellen Koffer der germanischen Kultur mitgebracht. Was bedeutet das für Ihre Berichterstattung?
Ich muss brasilianische Zustände in deutsche Begriffe übertragen, was nicht einfach ist. Es ist ein dauerndes Ringen. Das fängt schon an mit Parteien, Parteiendemokratie. Die Gesellschaft ist so anders strukturiert als die deutsche und wir haben gleichzeitig eine solche Sympathie zwischen Brasilien und Deutschland. Die Deutschen lieben Brasilien, die Brasilianer/innen lieben Deutschland. Und beide tun das jeweils aus den falschen Motiven.
Inwiefern?
Für die Deutschen ist Brasilien immer die Projektionsfläche ihrer eigenen Sehnsüchte gewesen. Stefan Zweig ist kein Deutscher gewesen, aber der unselige Ausdruck vom “Land der Zukunft” hat damit zu tun. Das haben die Brasilianer/innen dann aufgenommen, ohne es umgesetzt zu haben. Brasilien ist das Land der Zukunft und wird es auch bleiben. Weil die Grundlagen sich nicht ändern. Die Deutschen verbinden mit Brasilien die Sinnlichkeit, das Tropische, das Exotische, die Natur und gleichzeitig diese unglaublichen Versprechungen, die in der Bezeichnung von Zweig stecken. Das ist eher eine Reflektion dessen, was man in Deutschland nicht hat. Die Politiker sind sehr nüchtern, die Sichtweise ist sehr viel nüchterner als hier. Es ist der utopische Traum des Paradieses. Das Bild vom glücklichen Seins Zustand irgendwo anders.
Was waren für Sie in dem deutsch-brasilianischen Kontext Ihre wichtigsten Geschichten? Sie haben ja auch das Buch “Das Guyana-Projekt” veröffentlicht.
Was mich immer fasziniert hat – und worüber ich auch in dem Buch geschrieben habe – sind die historischen Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien sowie die Wahrnehmungen dieser Geschichten in Brasilien. Da sind Deutsche mit sehr fest geprägtem, paternalistischem Weltbild nach Brasilien gekommen, aber haben damit über Indigene geforscht. In Brasilien existieren ganz archaische Gesellschaften im Amazonasgebiet gleichzeitig mit High-Tech-Inseln im Süden / Südosten, nicht miteinander, sondern nebeneinander, sodass man auf den Spuren von Indianern immer noch erfahren kann, wo die Menschheit herkommt, auch wenn die indianischen Wurzeln ignoriert werden.
Sie haben zu Brasilien und Deutschland auch mit dem Goethe-Institut zusammengearbeitet. Wo waren da Anknüpfungspunkte?
Ich habe mehrmals an Veranstaltungen, Konferenzen und Seminaren teilgenommen, bei denen es um die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung Brasiliens, das Deutschlandbild der Brasilianer, das Brasilienbild der Deutschen ging, das war immer spannend. Alfons Hug hatte mich auch zu der Ausstellung über den Süden in Feuerland / Argentinien eingeladen, über die ich berichtet habe.
Sie haben auch über Curt Meyer-Clason, der auf der Ilha Grande die Literatur entdeckt hat und das Goethe-Institut Lissabon zu einem Zentrum der Opposition gemacht hat, und seine Agententätigkeit für die Nazis berichtet.
Ich habe auch einmal mit ihm telefoniert, da war er ziemlich sauer. Außer Politik habe ich auch Spanisch studiert und da war er natürlich ein Begriff. Ich habe quasi Vatermord begangen. Meyer-Clason war eine Koryphäe als Übersetzer und Literaturvermittler zwischen Brasilien / Lateinamerika und der deutschsprachigen Welt. Und dann bekommt er da im “Spiegel” so eine reingewürgt. Das war nicht nett, aber es gehört manchmal zu meinem Job.
Wie sehen Sie das heute?
Meyer-Clason war kein Kriegsverbrecher, aber er war Nazi und hat mit der Naziregierung kollaboriert. Er hat niemandem persönlich auf dem Gewissen oder direkt ausgeliefert an die Nazis. Er saß in Porto Alegre und hat die Schiffe, die aus Argentinien, Uruguay und Brasilien nach Europa gefahren sind, um die Alliierten zu verpflegen, an die Nazis verpfiffen – aus Überzeugung, so wie viele hier Nazis waren.
Im Journalismus spießt man so etwas auf. Ist das nicht ähnlich wie bei Günter Grass, der als 17-Jähriger Mitglied in der Waffen-SS war?
Entwertet das jetzt das Werk des Mannes? Natürlich nicht. Wir alle haben Widersprüche und ich kann von niemandem verlangen, dass er sein Leben absolut widerspruchsfrei verbringt, schon gar nicht unter diesen historischen Umständen. Auf der anderen Seite ist es der Job eines Journalisten, so etwas aufzudecken. Ich finde, dass das nötig ist. Und da ist auch “Der Spiegel” das richtige Blatt dafür.
Wenn Sie Bilanz ziehen – was ist Ihr Ausblick für die kommenden 60 Jahre deutsch-brasilianischer Zusammenarbeit und worin liegen die Herausforderungen?
60 Jahre, das ist eine Kristallkugel. Ich würde mich nicht einmal trauen zu sagen, wie es nach den Wahlen im kommenden Jahr weitergeht. Vieles wird davon abhängen, wie sich die wirtschaftliche Situation entwickelt. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Brasilien und Deutschland existieren und werden weiter existieren, die großen deutschen Unternehmen wie Siemens oder Volkswagen, die hier sind, werden weiter hier bleiben.