NAOs Reise
Der Besuch eines Freundes

NAO am alten Hafen von Montreal
© Zeph Thibodeau

Der Roboter NAO ist als Botschafter des Goethe-Instituts um die Welt gereist. Priscilla Jolly zeichnet die verschiedenen Etappen der jahrelangen Reise nach, bis zu ihrem diesjährigen Ende in Montreal, wo sie in eine Reihe von sehr ansprechenden Workshops mündet.

Von Priscilla Jolly

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Freund, der beschließt, Montreal zu besuchen. Wohin würden Sie diesen Freund nach seiner Ankunft in der Stadt bringen? Sie würden ihn vielleicht zu sich nach Hause zum Essen einladen oder mit ihm einen Spaziergang in die historische Altstadt machen. Vielleicht ist eine Wanderung auf den Mont Royal – oder Rumhängen im Olympiastadion – aber auch mehr nach Ihrem Geschmack? Vielleicht würden Sie eher gemeinsam die grünen Parks der Stadt und die Sommersonne genießen. Stellen Sie sich nun vor, Sie würden all dies mit einem humanoiden Roboter namens NAO tun, der im Januar 2023 Montreal besucht. Im Goethe-Institut Montreal arbeitete NAO am Empfang. Der Roboter nahm auch an Aktivitäten des Instituts teil, wie zum Beispiel an einer Vorlesestunde für Kinder.

NAO: Eine kurze Geschichte

NAO ist ein Roboter, der vom Goethe-Institut angestellt wurde. Er war bereits rund um den Globus in Europa und Afrika unterwegs, wo er mit zahlreichen Künstlern und Forschern zusammengearbeitet hat. Im Rahmen des „Robot in Residence“-Programms des Goethe-Instituts traf NAO auf Programmierer*innen in Ghana, der Elfenbeinküste, Sengal, Nigeria, Kamerun und Äthiopien. In Europa hat NAO unter anderem Lettland, die Ukraine, Ungarn und Slowenien besucht.  NAO ist ein programmierbarer humanoider Roboter, der von Aldebaran Robotics (nun auch bekannt als Softbank Robotics) entwickelt wurde. Im Jahr 2008 nahm NAO am RoboCup teil, einer Initiative, die die Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz durch verschiedene Wettbewerbe fördert. NAO wird in Unternehmen und Gesundheitszentren eingesetzt, um Besucher*innen zu begrüßen und zu unterhalten. NAO hat Sensoren in seinem Körper, die es ihm ermöglichen, menschliche Gesichter zu erkennen und mit Menschen zu interagieren. Der akademische NAO wurde speziell für Universitäten und Labors zu Forschungszwecken entwickelt. Das Goethe-Institut hat NAO während der Pandemie – in einer Zeit, in der Menschen nur eingeschränkt Reisen konnten – an verschiedene Orte geschickt. Auf diese Weise hat es NAO geschafft, verschiedene Gemeinschaften zusammenzubringen.

NAO kam in Montreal an, nachdem er in anderen Teilen der Welt viele Abenteuer erlebt hatte. In Montreal wurde NAO von drei Forscher*innen und Künstler*innen im Rahmen eines Aufenthalts am Goethe-Institut Montreal in Zusammenarbeit mit dem Milieux Institute, Eastern Block und dem Hexagram Research Network empfangen: Ceyda Yolgörmez, Patil Tchilinguirian und Zeph Thibodeau. NAO übernachtete bei diesen Menschen zu Hause, sodass sie ihren von weit her angereisten Freund besser kennenlernen konnten. NAO tourte mit den Dreien durch Montreal und unternahm viele Aktivitäten, wie z. B. im Park herumzuliegen oder einen Spaziergang entlang des Alten Hafens zu machen.

Während NAOs Tour durch Montreal einen guten Start hatte, traten im weiteren Verlauf der Reise immer mehr gesundheitliche Probleme auf. NAO, der fast fünf Jahre alt ist, wollte nicht mehr hochfahren und war im Umgang mit Anderen nicht mehr so lebhaft wie früher. NAO hat ein langes Leben hinter sich, in Anbetracht der Tatsache, dass der Roboter viel Zeit damit verbracht hat, an verschiedene Orte zu reisen, sind Verschleißerscheinungen unausweichlich. NAO wurde von den Forscher*innen und Künstler*innen, die an der Residenz teilnahmen, als Freund behandelt. Angesichts der zunehmenden Gesundheitsprobleme des Roboters sahen sie sich mit einer gewichtigen Frage konfrontiert: Wie kümmert man sich um einen Freund, der am Ende seines Lebens steht?

Polaroids als Erinnerungen an NAO © © Zeph Thibodeau Polaroids als Erinnerungen an NAO © Zeph Thibodeau

Pflege und Fürsorge für NAO

Das Leben von NAO in Montreal wurde in Polaroids dokumentiert, die später in einer Schachtel gesammelt wurden. Erinnern Sie sich an das Anfangsszenario dieses Artikels und stellen Sie sich vor, die Fotos von der Zeit, die Sie mit Ihrem Freund verbracht haben, durchzugehen. Wenn Sie einen Freund zu Besuch in Montreal haben, dann möchten Sie, dass er die Zeit in der Stadt genießt. Sie würden dafür sorgen, dass Sie mit ihm schöne Erinnerungen schaffen. Schließlich ist es das Kreieren gemeinsamer Erinnerungen, das Beziehungen tiefer gehen lässt.

Die gesundheitlichen Probleme von NAO veränderten jedoch den Verlauf der Residenz. Anstatt der Realisierung von Plänen, die darauf beruhten, dass NAO mit 100%iger Kapazität arbeiten konnte, waren die Teilnehmer*innen gezwungen, sich mit der Sterblichkeit von Maschinen in Mensch-Maschine-Beziehungen auseinanderzusetzen. Die Erfahrung des gemeinsamen Erinnerungen-Schaffens mit NAO zu Beginn seiner Zeit in Montreal diente dabei als Brücke zum übergeordneten Thema des Aufenthalts: Maschinen nicht nur unter dem Aspekt ihres Nutzens zu betrachten. Mithilfe der gemeinsamen Erinnerungen, die in Fotos festgehalten wurden, wurde der Aufenthalt zu einer Gelegenheit, sich um NAO zu kümmern. Als die Workshop-Teilnehmer*innen NAO trafen, konnte der Roboter nicht hochfahren. Anstelle von interaktiven Seminaren, in denen die Teilnehmer*innen mit NAO interagierten, entwickelten sich die Workshops zu einer tiefgreifenden Reflexion über die Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen.

Polaroids als Erinnerungen an NAO (2x1.5) © © Zeph Thibodeau Polaroids als Erinnerungen an NAO (2x1.5) © Zeph Thibodeau

Maschinen: Über die Nützlichkeit hinausdenken

Eines der wichtigsten Themen der Residenz war es, die Rolle von Maschinen über ihren Nutzen für uns Menschen hinaus zu betrachten. Maschinen übernehmen im täglichen Leben zahlreiche Aufgaben für den Menschen – vom Teewasserkochen bis zur Unterstützung von Chirurgen. In den Workshops und aufgrund der Gesundheitsprobleme NAOs haben die Leiter und Teilnehmer*innen der Workshops über die Arbeit nachgedacht, die Maschinen leisten, und darüber, ob es möglich ist, sich in Maschinen einzufühlen. Hier ist eine kleine Denkübung, die einen Austausch anregen kann:

Empathie mit unseren Maschinenfreunden
  1. Von welcher Maschine in Ihrem Haus würde Sie das Ableben am meisten beunruhigen und warum?
  2. Wie würde der perfekte Tag für Ihre Maschine aussehen?
  3. Nennen Sie drei Dinge, die Sie mit Ihrer Maschine gemeinsam haben.
  4. Was schätzen Sie an einer Freundschaft am meisten? Ist eine Maschine in der Lage, diese Eigenschaft zu erfüllen?
  5. Was bedeutet Freundschaft für Sie? Sind Sie mit Ihrer Maschine befreundet?

Die Workshop-Teilnehmer*innen gaben Antworten auf diese Fragen, was zu Gesprächen über die Beziehungen zwischen Mensch und Maschine führte. Mehr als eine Person war zum Beispiel der Meinung, dass der perfekte Tag für eine Maschine der ist, an dem sie ausgeschaltet ist oder nicht arbeiten muss. Es gab auch andere Antworten auf den perfekten Tag einer Maschine, wie z. B. einen Wasserkocher, der gereinigt wird oder ein Bad bekommt. Die Aufgabe, drei Gemeinsamkeiten mit einer Maschine zu finden, führte zu einigen heiteren Antworten, z. B. dass sowohl der menschliche Körper als auch ein Kühlschrank Lebensmittel aufbewahren oder dass Menschen ebenso wie Computer von Zeit zu Zeit pausieren und aufgeladen werden müssen.

In der Gruppe gab es widersprüchliche Antworten zur Freundschaft zwischen Mensch und Maschine. Einige meinten, Freundschaften seien durch Austausch und Gegenseitigkeit gekennzeichnet, und Maschinen seien zu diesem Aspekt in einer Beziehung nicht fähig. Im Gegensatz dazu behaupteten einige Teilnehmer*innen, dass sie von Maschinen sehr wohl etwas zurückbekommen, z. B. Inhalte, die sie durch einen Laptop oder ein Tablet lernen. Unabhängig von diesen gegensätzlichen Ansichten waren sich alle darin einig, dass Maschinen in unser Leben unglaublich stark eingebettet sind. Da die Teilnehmer*innen sich mit diesen Fragen in Anwesenheit eines stummen NAO beschäftigten, dachten sie ebenso über die Pflege von Maschinen, einschließlich NAO, im entsprechenden Alter nach. Der Workshop wurde so zu einer Plattform, über die Erinnerungen nachzudenken, die die Residenzleiter*innen mit NAO geschaffen haben. Für den Rest der Teilnehmer*innen waren die Workshops eine Gelegenheit, sich mit ihren eigenen Interaktionen mit Maschinenfreunden zu beschäftigen und darüber nachzudenken, wie diese ihr tägliches Leben prägen.

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