Unter dem Motto OHNE PUNKT UND KOMMA widmet sich die vierte Version von entreLíneas den offenen Formen der Poesie: Maßlosigkeit in jeder Hinsicht erwünscht. Welche Mittel und Wege findet Lyrik, um die Sprache aufzuwühlen, in ihre Ecken zu spähen und zum Gespräch zu bitten? Wir fragen nach, Zeile für Zeile, und vor allem: dazwischen.
Die diesjährigen Teilnehmer*innen sind Macarena Cortés, Rafael Cuevas Bravo und Emilia Pequeño Roessler aus Chile sowie Marlene Fleißig, Slata Roschal und Elena Schaetz aus Deutschland. Seit Anfang Juli 2021 tauschen sie sich untereinander in einer virtuellen Autor*innenwerkstatt aus und schreiben auf dem entreLíneas-Blog.
Eingerahmt wird ihr Austausch von der Lektüre von Friederike Mayröcker und Raúl Zurita, die beide sozusagen OHNE PUNKT UND KOMMA schreiben, sei es in den Weiten der Wüste oder im Himmel, via Sprachnachrichten oder in Notizbüchern, auf Steilküsten oder unzähligen Zetteln, im Takt der Schreibmaschine oder mit dem Handy.
Wir laden ein zur Lektüre der im Rahmen von entreLíneas2021 entstandenen Texte:
19. Juli, Ohne Punkt und Komma
2. August, Antworten
16. August, Zurita deine Gesänge
30. August, Wenn nichts passiert
13. September, Frei heraus
27. September, Wider den Tod
Wider den Tod
27. September 2021
Die folgenden Arbeiten sind durch die Beschäftigung mit der Lyrik Friederike Mayröckers entstanden. Zeitlebens hat die erst kürzlich verstorbene Autorin gegen den Tod angeschrieben. Ihre Texte bleiben und verbreiten sich über den Ozean.
du hasst den Tod – Tränende Augen– In Ligurien – / im gedenken an inelia merino – Besessen davon, Spuren des Himmels am Boden zu finden – Winddrachen am Strand
du hasst den Tod
von Marlene Fleißig
du hasst den Tod
jetzt hat er dich
du schreibst nicht mehr,
du schweigszt
Nicht mal der Schneider kann‘s noch ändern –
Poëme zu Epitaphen
Nie nachgelassen,
Nachlass nur
Farnkrautaugenverwitterung;
Was brauchst du noch in der Wolken Flut?
.
Tränende Augen
von Slata Roschal
Tränende Augen und weisze Vögel mit Tattoofarbe vertuschen, mit Einwegnadeln verritzen, wenn sie irgendwann wieder zum Vorschein kommen, weiß ich, dass ich endgültig alt bin.
In Ligurien
von Elena Schaetz
am Balkongeländer stehen
den Blick aufs grüne Blätterdach
ich versenke den Sonnenuntergang in meinem Glas
später dann durch die Straßen streichen
alles Weitere zur Seite schieben
jetzt gibt es nur noch Berge und Küste
Sonne und Salz
schmale Gassen aus alten Steinen
die hungrige Gischt am Strand
und das warme Rauschen in meinem Kopf
/ im gedenken an inelia merino
von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher
es wachsen rübsen, gräser, inkalien
am kanalrand die wasserkonstruktion
ein fluss in gegenrichtung der wolken
in der dämmerung wetzten die grillen ihre flügel
hennen pickten übereinander her
reisreste und kartoffelschalen
dieses land ist knospe und spross der sauerkirsche
dieses land ist ein flackerndes schweigen
Besessen davon, Spuren des Himmels am Boden zu finden
von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Besessen davon, Spuren des Himmels am Boden zu finden
Erdrutsche
die Linien in der Wüste sind nicht immer Wege
oder Konstellationen
die Wege sind nicht immer Routen
ich verwechsle Bäche mit Schluchten
ich verliere Breiten
gasförmige Körper, die keine Spuren hinterlassen
ich verliere die Orientierung.
Winddrachen am Strand
von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Der magere Hund
ist eine Spalte aus Wind,
ein Blitz
in der Luft gefangen
von den Augen bis zum Schwanz.
Mit diesem Betteln
im Blick, wird er von Gott sprechen
und unserem Stamm. Der Geist
der Weichtiere atmet
in jedem einzelnen Stein;
es ist das Blau und die Schale der Wolken,
weiß vom Aufbauschen. Es ist bekannt,
dass es auch etwas aus Schaumblasen
in der Persönlichkeit des Hundes gibt.
Etwas aus Sonne, um nicht weniger zu sein,
ein Etwas aus Liebe.
Frei heraus
13. September 2021
post Unterdrückung – Wozu, frage ich mich – Orkane mit weiblichen Vornamen –Dolmetschnotizen – Weißwein in Teetassen – über das blaue im gedicht – Knäuel
post Unterdrückung
von Marlene Fleißig
Glühende Liebesbriefe
Benachrichtigungen über Lottogewinne
Nachrichten lange verloren geglaubter Freunde
Postkarten aus fernen Ländern
Entschuldigungschreiben unfreundlicher Menschen
Einladungen zu rauschenden Festen
Fünfstellige Steuerrückzahlungsbenachrichtigungen
Karten mit: „Ich hab dich gern“
Briefe an Oma.
Geniale Manuskripte.
Pläne zur Weltverbesserung.
Botschaften über den Sinn des Lebens.
Wozu, frage ich mich
von Slata Roschal
Wozu, frage ich mich, wenn die Nachbarn einander anlachen und grüßen, Garten an Garten, ich über ihnen schwebend, hockend, auf dem Balkon, hinter roten Geranien, oder wenn bärtige, faltige Menschen sich als Nachwuchsautoren bezeichnen, oder wenn eine Freundin aus Umweltgründen auf Tampons verzichtet, oder wenn ich in der Zeitung lese, dass ein Mann seine Frau im Kasten unter dem Kinderbett versteckt hielt, sie haben zuerst nichts gefunden, die Polizisten, bei der ersten Durchsuchung, kehrten zurück, bemerkten dann einen fleckigen Teppich ─
Orkane mit weiblichen Vornamen
von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Orkane mit weiblichen Vornamen. Ein Hügel stürzte am Strand der Toten zusammen. Der Schmerz in den Knochen meiner Mutter ist eine Regenvorhersage. Je höher die Luftfeuchtigkeit ist, umso kälter empfindet man die Luft. Weißdorn wächst auf beschädigtem Boden und schafft Mikroklimata zum Schutz der Knospen. Überschwemmungen und Erdrutsche. Kondensierte Tropfen zerstörten Häuser. Mein Großvater bewohnte ein verlassenen Zugbahnhof inmitten der Wüste. Chacance des Araukanischen, Seufzerbrücke. Meeresanstieg und Rückgang der Küstenlinie. Als Kind tauchte ich meine Wunden in Schlamm.
Marlenes (hypothetische) Dolmetschnotizen zum Text "Orkane" von Macarena
von Marlene Fleißig
Dolmetschnotizen
Weißwein in Teetassen
von Elena Schaetz
Während ich mich an die letzten Tage des Sommers klammer
schütteln die Linden auf meiner Straße bereits die ersten Blätter ab
der Herbst war noch nie leicht
aber solange ich deine schwarzen Haare auf meiner Bettdecke finde
habe ich nichts zu fürchten
während ich morgens noch die Sonnenmilch auftrage
bläst abends ein Wind durch die Wildenbruchstraße
der nach Winter schmeckt und Abschied schreit
vielleicht sollte ich aufhören so pathetisch zu sein
es ist das größte Wunder
dass dich das nicht verschreckt
in meinem Kopf gibt es seit ich dich kenne kein Zerdenken mehr
nur eine Montage mit Bildern von dir
du
in der U8
mit müdem Blick nach langen Nächten
du
mit hochgelegten Beinen im Garten
mit Weißwein in deiner Teetasse
du
im James Simon Park
mit dem Gesicht in der Sonne und deiner Hand auf meinem Bein
du
auf deinem Fahrrad auf dem Tempelhofer Feld
kurz bevor die Sonne sich den Betonwegen neigt
du
an der Bar vom About Blank
am Sekt bestellen
ein Glas
dann doch eine Flasche
du
auf den Raves
dein Name ein dauernder Widerhall
so viele Leute wollen was von dir
du
wie du dich wieder doch zu mir umdrehst
zu mir
am Ende immer nur zu mir
du
in Schwarz mit schweren Boots und kurzen Shorts
in ehemaligen Fabriken
wo der Bass durch die Betonhallen peitscht
du
wie du mich auf meinem Fahrrad von der Hasenheide nach Hause fährst
der Himmel pink und rot über unserer Großstadtidylle
du
wie du mit allem immer durchkommst
dich mit deinem Charme jeder Regel widersetzt
du
wie ich dir alles verzeihen würde
du
wie du mich wegschickst
um mich dann wieder einzuholen
du
wie du vor dem Club auf dem Parkplatz weinst
die dunkeln Augen groß und schwer
ich
betreten daneben
will dir alle Schwere nehmen
dir das beste aller Leben versprechen
will dir die Spinnen aus dem Schlafzimmer tragen
dein Mineralwasser kühlen und die Joints für dich drehen
ich
will dir jedes Uber bezahlen
dass du nie mehr nach dem Club in der Ringbahn einschlafen musst
ich
will dir alles schreiben
bis es nichts mehr zu sagen gibt
egal wo du bist
ich bringe dich
nach Hause
über das blaue im gedicht
von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher
so wie ein buchstabe distanz auflöst und schafft
ist durchsichtigkeit eine täuschung
das blau des horizonts markiert die nötige distanz
zum studium der dinge
die erst sinn ergeben, wenn sie verloren sind
die person, die diesen vers liest, spüre ich nicht
ich berühre höchstens ihre oberfläche
durch die porösität des papiers
haut benötigt luft und raum
zyanotisches Fleisch
markiert die gesten, die ein körper
in stille vereint
aus abschnürung wird nekrose
grapheme aus blauer tinte
Knäuel
von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Wieder Fische sein,
Strudel, Wasserhose
zerstreut vor der Meeresküste. Aus deinem Haar
kann ein Fluss werden und Schale
einer perfekt geschälten Orange
in deinem Rücken: Faden und Nabel des Schlafes.
Die Katzen hinterlassen ls in den Ecken
des Hauses, verborgene Buchstaben zwischen Töpfen
und Obstschalen, Versuchung in der Traube
eingeschlossenen Nieselregen zu sehen.- Ich schlafe,
die Dinge beobachten mich, ich wache auf,
ich gebe den Fliegen Namen.
Ich taste nach einer Frucht
und finde einen Schuh
vergessen in einer Talsohle.
Wenn nichts passiert
30. August 2021
Was passiert, wenn nichts passiert? Die folgenden Arbeiten durchforsten die Möglichkeit von Texten ohne Handlung und von einer Sprache, die frei ist von Erzählzwängen.
Ein Stäbchen aus Rosenholz – Drei Schritte zum Café Kotti – mit einem dünnen Schlauch – hinten vorne – Notizen vom 30 und 31 August – Tram 9 Tram 11 Bus 60
Ein Stäbchen aus Rosenholz
von Slata Roschal
Ein Stäbchen aus Rosenholz, weil es gut klingt vielleicht, es fühlt sich nach Bambus an, erinnert an Gärten, zurückschieben alles, mit einer kleinen schweren Schere beseitigen, einen Finger, der in Blut gerät, mit Rot übermalen, eine Feile aus rauem Glas, eine Seite zum Formen, eine zum Streicheln, ein Pinsel, ein weicher glänzender Tropfen, würde das Resultat doch nur ein wenig dem Vorgang entsprechen ̶
Drei Schritte zum Café Kotti
Von Elena Schaetz
Die Hermannstraße liegt im immerzarten Grau. Herbst im August, es grüßt die deutsche falsche Spätsommerödnis. Vorbei am Bäcker, im Blumenladen sitzt der kleine Hund wieder im Fenster, die breiten Ohren aufgestellt. Vielleicht wartet er auf etwas. Im Frisörladen ist der Vogelkäfig offen, der Wellensittich will trotzdem nicht fliegen. Ich kann’s nachempfinden. Die U8 rattert durch den Schacht, wenn die U-Bahn einfährt, wird die schwarze Alufolie hochgeweht. Ich beiße mir auf die Lippe, hoffe, dass heute niemand nach Kleingeld fragt, heute will ich nicht nein sagen müssen. Der Kotti ist das letzte Stück Berlin, das bleibt, wenn der Rest nur noch Start-Up und Yogastudio ist. Vorbei am Obststand, Orangensaft für 1,50, mit großen Schritten über benutzte Spritzen auf nassem Asphalt. Die schwere Metalltreppe hoch, Stufe um Stufe wächst mein Blick über den Kreisverkehr. Eigentlich will ich heute gar nicht arbeiten, eigentlich will ich heute gar nicht schreiben, will nur am Geländer lehnen, mein Blick ins Glas vertiefen und mich im blauen Licht sonnen, bis das Neonlicht allen Schattengestalten den Weg in bessere Sünden weist.
mit einem dünnen Schlauch
von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
mit einem dünnen Schlauch, gieße ich den Vorgarten bis die kleine Terrasse überläuft und den Gehweg nass macht, ich spritze meinen eigenen Boden voll,; die Frühstückslichter umrahmen die Buddhastatuen und die Moai in der Türlaibung, durch die Vorhänge schimmern die Silhouetten der Krankenschwester und des Lastwagenfahrers; des Lehrers und der Hausherrin; des Polizisten und der aus gutem Hause; der Rentnerin und ihrem autistischen Sohn, der sie anschreit, wenn sie ihn nicht beachtet und nach drei Uhr nachmittags mit dem Hund redet, wenn er auch anfängt stur zu werden, um fünf
wir lachen über sein nie hilfst du mir bei irgendetwas,
über den Hund, der bellt und den Spaziergang, der folgt,
ohne in die Augen zu sehen; unsere Sorge
ein Büßergürtel an einem Phantombein,
Schmerz der sich im Spiegel löst,
hinten vorne
von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher
hinten vorne
(Löschverfahren nach a, A novel von Derek Beaulieu)
Notizen vom 30 und 31 August
von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Notizen vom 30 und 31 August / Übung zur Extraktion inspiriert durch “Lo real y lo posible” („Realität und Möglichkeit“) von Fernanda Aránguiz
Zurita deine Gesänge
16. August 2021
Basis für die folgenden Texte ist die Lektüre von "Lied an seine verschwundene Liebe" des chilenischen Dichters Raúl Zurita.
Krieg kenne ich von facebook – Die ersten Schritte waren holprig – Lied von seiner verschwundenen Liebe – Was kommen wird ist das Grab – die faust fühlen – Auszug DES
Krieg kenne ich von facebook
von Slata Roschal
Krieg kenne ich von facebook, wenn sich Barrikaden bilden, Bündnisse geschlossen werden, Dichter aus kulturideologischen Gründen einander Drohungen verschicken. Einmal nahm ich meine Tabletten nach zwei Gläsern Wein, das Herz schlug wild, daher weiß ich, wie es ist, zu sterben. Folter stelle ich mir als eine Umsetzung aller Gedanken meiner Eltern vor, die mich zu richtigem Verhalten bringen wollten. In München gibt es ein unterirdisches Museum, in der Gabelsbergerstraße, mit Sarkophagen und Glasperlen und viel warmem Metall, Es riecht hier nach Blut, sagte mein Sohn, als wir den ersten Saal betraten, und ich dachte an die gebückte, sammelnde Isis.
Die ersten Schritte waren holprig
von Elena Schaetz
1/ Die ersten Schritte waren holprig, die ersten Zeilen gebrochen.
Du sprichst von deiner Heimat, ich mag dieses deutsche Wort nicht, Heimat, bei dir macht es mir aber nichts aus, schließlich ist deine Heimat eine andere. Wir sitzen auf dem Boden, irgendwie sitzen wir immer zu zusammen im Dreck, auf den schmutzigen Steinen der Admiralsbrücke, auf Bürgersteigkanten, auf dem Parkplatz vor dem Club, mal eine Flasche Weißwein, mal ein halb warmes Bier in der Hand.
Jenseits des Berliner Elfenbeinturms muss man schnell rennen können, wenn man so ist wie wir. Du erzählst von deinem besten Freund und wie sie ihn durch die Straßen gejagt haben. Ich kenne diese Geschichten, nicht nur von Chile, auch aus Russland, auch von näher, Polen, manchmal noch näher, Brandenburg, fast zuhause also. Wie als wir in kurzen Hosen auf unsere Fahrräder stiegen und zum Liepnitzsee fuhren. Kurz vor dem Bahnhof hielten wir an, ich rückte näher an dich, dein Blick wie warmer Honig, ich küsste dich, während die Sonne auf den Asphalt fiel, nur um einen Moment später Herzrasen zu bekommen, weil der Truck, der um die Ecke fuhr, auf einmal bedrohlich nah kam. Später habe ich dann gelacht, weil es so ein Klischee ist, der homophobe Trucker in Brandenburg, die Erkenntnis kam erst schleichend, es bleibt ein Niederschlag, auch mein Lachen war im Grunde nur verbittert.
2//
Vielleicht sollte ich
Gift und Galle spucken auf ihre Trucks und Stahlkappen
Vielleicht sollte ich
Jedem von ihnen den Mund verbieten
ihn mit Nadel und Faden zunähen
bis nicht eine ihrer Silben mich mehr erreichen kann
Manchmal möchte ich
ihnen die Handgelenke verdrehen und die Finger nach hinten biegen bis
ihre Knochen brechen wie dünnes Geäst
bis nicht eine ihrer schmutzigen Hände mich oder meine Schwestern mehr berühren kann
Wenn wir beisammen sind und die Nacht ihr tiefstes Blau erreicht
greife ich nach den Händen meiner Freundinnen
wenn ich sie auf den Straßen sehe
mit hohen Schuhen und wallendem Haar
mit Baseball Caps und stoppeligen Beinen
mit rasierten Köpfen und aufgeschlagenen Knien
sehe ich die Sanftheit in jeder von ihnen und frage mich
was ihnen wohl widerfahren ist
wie viele Worte und wie viele Hände sie missachten haben
und wie sie es schaffen
ihre Zartheit dagegen zu stellen
und vielleicht ohne es zu wissen
damit jeden Tag über jene zu triumphieren
Lied von seiner verschwundenen Liebe
von Marlene Fleißig
Lied von seiner verschwundenen Liebe
Such nicht mehr nach mir,
es hat mich nie gegeben.
Limbus
Da sagte Raúl zu Rita:
ich sing dir jetzt ein Lied
ach dein Ohr ist sterblich, so wie auch dein Auge
Rául, so Rita, ich bin eine Taube.
Was kommen wird ist das Grab
von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Mahlen, mahlen, singen die Frauen.
Das Mädchen entflieht dieser Arbeit. Sie sucht das Grab auf der Anhöhe hinter dem Haus. Es überhört die Rufe der Eltern. Schritte den Hügel hinauf, dem Ziegenpfad entlang. In seinem Kopf spinnt es eine Inka-Phantasie zusammen, ein geometrisches Muster. Das Mädchen versucht, die Grabstätte mit einem Metallstück zu öffnen. Das Mädchen träumt vom Stein, als würde es von der Zukunft träumen. Es macht einen Versuch und die Arme aus Weinranken weichen, vermischen sich mit der Erde. Die Frauen verabschieden sich und eine Reihe von Händen wedelt im Tal in der Luft. Ein kleiner Berg aus gestapelten Schaufeln. Ein Litri-Baum, dem sie den Gruß nehmen. Die Gespenster setzen sich nieder, um den Schatten unter den Bäumen zu genießen. Das Mädchen versucht, das Grab zu öffnen und nun kommt es auf es zu. Der Wind und der Regen bestimmen den Anfang und das Ende.
Mahlen, mahlen, sangen die Frauen.
die faust fühlen
von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher
die faust fühlen, den hieb, die oberhaut verdrehen der schändenden hände, hass zwischen den zähnen. sehen ist
nicht alles
ich höre die gipfel. ihr weißes gleißen. santiago ist ein halb geschmolzener gletscher. ich denke daran, wie wir fallen, rücken an rücken. der unveränderliche fels der gipfelkette zerschellt wie eine pflaume auf dem asphalt, dein mund, kann sie zerfetzen. auf ihre weise sind lücken teil der kartographie.
körper waren nicht dort
wir zerbrachen in stücke
Auszug DES
von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Auszug DES: Silbe aus der Romanischen Sprachfamilie des-, die die Inversion der Aktion bedeutet, vergleichbar mit der Vorsilbe ent- im Deutschen.
Antworten
2. August 2021
Eine geologische Störungszone – den Finger der Naht entlangführen – Der Regen sickerte bis zum Untergeschoss durch – Das Schwimmbad als Museum an Körpern – eine sehr schmale Dschungelaugenbraue – Der Erdrutsch folgte dem Lauf eines ausgetrockneten Flussbettes
Eine geologische Störungszone
von Marlene Fleißig
Antwort auf den Text von Macarena Cortés
Eine geologische Störungszone zwischen Lausitz und Erzgebirge. Sandsteinzähne ragen in den Himmel, wo früher einmal ein Meer. Der Schnitt von zwei Geraden ist ein Fadenkreuz, zwei Geraden bedeuten: gestrichen. Glück auf, der Steiger kommt, und er hat sein helles Licht bei der Nacht. Regen flutet die Steinbrüche, die jetzt Seen sind, Feinstaubpartikel ertrinken darin. Kohle wird nicht mehr abgebaut, aber abgebaut. Ich streue Brotkrumen und suche den Weg zurück. Die Erde dreht sich zu schnell, der Tag hat zu viele Stunden. Kein Staub mehr, um einen Lichtstrahl aufzunehmen. Die Wäsche an den Leinen ist wieder weiß. Bei Sturm tritt die Elbe über die Ufer, nachts hat keiner einen Schatten. Ich lege die Zeitung beiseite und springe in den See. Ich atme aus
den Finger der Naht entlangführen
von Elena Schaetz
Antwort auf den Text von Emilia Pequeño
den Finger der Naht entlangführen
ein loses Stück Stoff
den Faden greifen
ein Ruck genügt
der Riss
befreit
ein rohes Wort
fast verschluckt
kaum ausgesprochen
die kalte Haut spannt sich
hält
zusammen
wo sonst Risse waren
die Streifen blass
wo sich Hände treffen
vergrab die Finger im Sand
zu den Wurzeln
der vor dir
und den Samen
der nach dir
die Erde ist noch warm
wartet auf frisches Grün
wartet auf den ersten Tropfen
Der Regen sickerte bis zum Untergeschoss durch
von Rafael Cuevas Bravo
Antwort auf den Text von Marlene Fleißig
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Der Regen sickerte bis zum Untergeschoss durch und durchnässt die Wände des Parkhauses. Mit der Feuchtigkeit erscheinen Formen auf der Zementhaut: kleine Silhouetten von Möwen in Schwärmen, eine Wellenform von etwas wie Hügeln, vielleicht wo die Großmutter lebte und nicht mehr lebt. Ein Blitz einer Schlucht. Die Bilder pulsieren und das Parkhaus füllt sich mit Geistern. Ein angesichts eines Schneegestöbers stummer Maultiertreiber, ein junger Minenarbeiter, der seine Hände bei einer Dynamit-Explosion verliert, die Großmutter, wie sie Küken in den Taschen hat. Der Wachmann ist nicht da, er ist wohl auf dem Rundgang zwischen den Fahrzeugen. Kurven um Kurven aus Chrom unter dem Dach aus Beton, die Fahrgestelle spiegeln zwei drei Mal seinen Kopf wider, ziehen ihn lang und flach, mehr oder weniger dünn. Stell dir Pfirsiche vor, wie sie in einer Milchpfanne kochen. Stell dir Mücken vor, die als Opfer der Leuchtstoffröhre in die Suppe fallen. Stell dir eine Seifenblase vor, die aufsteigt und sich auf der Oberfläche der Lagune auflöst.
Das Schwimmbad als Museum an Körpern
von Slata Roschal
Antwort auf alle
Das Schwimmbad als Museum an Körpern, zum Schauen und Staunen, allein die Narben von Kaiserschnitten, Blinddarmoperationen, die Dehnungsstreifen, blauen Flecke und Muttermale, es ist schwer, nicht danach zu schauen, dabei könnte es nicht harmloser sein. In einigen Bäuchen wölbt sich das Mittagessen, in einigen wachsen Embryonen, vor hundert Jahren noch hätten fast alle Frauen graue Haare und fast alle Männer schwarze Zähne, die Polyesterstreifen unter den Bäuchen furchtbar symbolisch, und drinnen, in diesen Formen und Förmchen, liegen Lungen und Fettgewebe verborgen und Mitochondrien, und alles, was darüber hinaus liegen soll, ist gar nicht zu sehen. Die großen Körper beinhalten kleine, von den gleichen Umrissen, aufeinander gestülpt, es geht immer weiter, ich halte mich am Beckenrand fest.
eine feine Waldbraue
von Emilia Pequeño
Antwort auf alle
Übersetzung von Johanna Malcher
eine feine Waldbraue
da sind
Wellen
Sonne
unmöglich über die Geometrie
hinwegzusehen
ihre Gerade sein, und ihr Punkt
vielleicht muss man den Stift nehmen
oder Kontinente spielerisch
wenn die Erde sich öffnete
wenn der Wald nun nicht mehr wäre
Der Erdrutsch folgte dem Lauf eines ausgetrockneten Flussbettes
von Macarena Cortés
Antwort auf alle
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Der Erdrutsch folgte dem Lauf eines ausgetrockneten Flussbettes. Wir hatten keinen Winter. Baukonstruktion ohne Bindemittel. Die Inka benutzten die Anthropometrie: Maße mit Verbindung zum menschlichen Körper. Erdbeben in Alaska. Wir sind Teil des pazifischen Feuergürtels. Unterirdisches Summen. Die Breite des Fensters entspricht meiner Hand und dem ausgestreckte Arm bis hin zur Schulter, mein Kopf reicht nicht bis zur Mitte der Höhe. Auf dem Glas sind Abdrücke von Händen zu sehen. Die romanischen Dachziegel werden dort auch als „Muskel-Ziegel“ bezeichnet. Die lateinamerikanischen haben die Eigenheit, dass sie länger und beständiger sind, es ist allgemein bekannt, dass das wegen der Physiognomie der Sklaven so ist. Meine Mutter wechselte die Vorhänge. Sie haben sich an die Dunkelheit gewöhnt.
OHNE PUNKT UND KOMMA
19. Juli 2021
Unsere Autor*innen schaben mit den Stiften, kratzen an der Tastatur, schlendern durch die Werktstatt und hinterlassen ein Zeugnis.
Form – Alle guten Gedichte – das Wort – ein Fluss aus Klärschlamm – kleinarbeiten – Formen in Valeskas Gesicht
Form
von Marlene Fleißig
In den Semesterferien arbeite ich in der Backformfabrik am Fließband. 6:30 Uhr Schichtbeginn, Kaffeepause 15 Minuten, Mittagspause 30. Mit der Linken die Papp-Banderole nehmen, mit der Rechten in die Form kleben. 8 Stunden am Tag, 10 Wochen lang. Alle paar Sekunden fährt eine neue Form vorbei, die exakt so aussieht wie ihre Vorgängerin. Und wenn dem einmal nicht so ist, wenn die Maschine sich verschluckt hat und Dellen oder Kratzer entstehen, muss die Form aussortiert werden. Der Markt will es so.
Eine Kastenform hat vier Ecken, keine Täler, in denen unschön der Teig hängen bleibt. Ein Gugelhupf ist ein Gugelhupf ist ein Gugelhupf. Wer die Banderole erwartungsvoll von einer neuen Form reißt, will glatte, makellose Oberflächen. Hier kann noch alles werden.
Auf die Verpackung ist ein Rezept gedruckt, exakte Mengenangaben, damit der Kuchen klappt. Immer gleich gut. Nur nicht über den Rand. Auf-, aber nicht übergehen. Wer sich mal was traut, greift zur Herz-Springform, deren Winkel exakt so berechnet sind, dass es beim Lösen des Rings nicht bricht.
Es gibt eine Zeit vor und nach Teflon. Die Formen heute sind alle beschichtet. Unsere Omas schrubbten noch. Aber der Kuchen hat immer geschmeckt, schön Buttercreme, Frankfurter Kranz. Omas Schürzenknoten, der ihren Körper am Rücken in die Proportionen von damals teilt.
Sie weiß nicht, wie man mit den neuen Formen umgehen muss, nicht, dass man sie mit dem Messer verkratzt, die Beschichtung löst. Dass heute niemand mehr Buttercreme will.
In der Kaffeepause Müsli. Der Rest steht auf dem Innenhof und raucht. Sie sind immer hier, die Ferienarbeiter sind ihre einzige Abwechslung, werden misstrauisch umkreist und nach ein paar Tagen vergessen.
An meiner Uniformjacke ist ein silberner Knopf am Ärmel. Ich will damit auf die glatte, makellose Oberfläche schreiben. Die Kastenform zusammendrücken, mit einer Hand, eine Ellipsenform jetzt, für Ellipseneclairs.
Formen auch, für die man keine Form braucht. Donutformen, runde Weihnachtsausstecher und Vanillekipferlformen. Oma formte fingerlange Teigstränge und bog sie zu kleinen Monden. Sie waren alle gleich. Die Banderole um das Vanillekipferlblech ist groß, das Rezept deutlich sichtbar. Omas Rezept funktioniert nicht für das neue Kipferlblech, der Teig will sich nicht aus der Form lösen. Was soll sie machen, wenn sie nicht kratzen darf.
Ich reiße die Knöpfe von meiner Jacke, um nicht in Versuchung zu kommen. Einen davon stecke ich in den Mund und lutsche ihn wie ein Bonbon.
Es ist August. Ich packe Weihnachtsausstecher in kleine Schachteln. Immer: Ein Stern, ein Tannenbaum, ein Herz.
In der Kaffeepause dreieckig geschnittenes Toast, in die Ecken meiner Dose gestapelt.
Nach 10 Wochen gebe ich die Stahlkappenschuhe ab. Zum Abschied bekomme ich ein Vanillekipferblech geschenkt. Ich gebe es meiner Nichte, sie nimmt es mit auf den Spielplatz und füllt Sand hinein.
Alle guten Gedichte gleichen einander
von Slata Roschal
Alle guten Gedichte gleichen einander, jedes schlechte Gedicht ist schlecht auf seine eigene Weise. Gut bedeutet, zeitgemäß, dringend, unverzichtbar zu sein. Nie war der Anspruch, die Konkurrenz so hoch, fast alle Menschen in diesem Land können schreiben, tun es gerne, überall und ständig. Unsere Zeit gehört den kurzen Formen, ein Internetforum für Depressive ist intensiver als ein zigster Debütroman über Depressionen, die Werbeprospekte vom Discounter sind lakonischer als mancher Lyrikband, es ist ein gewaltiges Wagnis, Gedichte zu schreiben, zu unserer Zeit. Die Aufgabe besteht nicht mehr darin, Schriften anzulegen, Wörter durchzukomponieren, vielmehr aufmerksam die Fülle des Omnipräsenten zu fixieren, Material zu sammeln, es zu verfremden, selbst wenn es eine bloße Wiederholung außerhalb des pragmatischen Kontextes bedeutet, dem ästhetischen Potential von E-Mails, Posts, Tweets, Bahnhofsdurchsagen, Aufklebern, Plakaten, Hausordnungen, Formularen zur Entfaltung zu helfen.
Das Wort
von Elena Schaetz
das Wort
das den Rahmen sprengt
die Grenze verschiebt
die Zweifel auflöst
sich dann
zwischen uns schiebt
den Raum ergreift
mich stumm zurücklässt
zwischen Schotter meiner Syntax
und verbranntem Papier
an der Fingerspitze klebt Ruß
auf deiner Zunge mein letztes Wort
bieg die Silbe
bis sie bricht
sprich
solange es noch geht
Ein Fluss aus Klärschlamm
von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
Ein Fluss aus Klärschlamm in Shizouka. Der Vulkan, der im kaspischen Meer ausbrach, liegt in einem See. Der Schnitt von zwei Geraden ist ein Punkt, während die Gerade eine Summe aus Punkten ist. Blaue Kerzen für die Ruhe. Der Regen zerstreut die Verschmutzung. Feinstaubpartikel enden in der Kloake. Zuerst baute man Baumwolle an und danach Pflanzen zur Ernährung. Ich flechte die Weide, um mich nicht zu verlaufen. Die Erde dreht sich schneller und hat 16 Stunden. Ich häufe Staub an, um einen Lichtstrahl aufzunehmen. Kann eine kondensierte Form den Lufteintritt ermöglichen? Überschwemmungen werden immer gewöhnlicher. Das Erheben des Schattens ist eine Heilmethode. Ich halte jedes Mal die Luft an, wenn ich einen Text lese. Ich atme ein
kleinarbeiten
von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher
eine Steinreihe legen
einen Steckling umpflanzen
eine Artischocke essen
zwei Körper verknüpfen
eine Naht zerreißt
die Wunde
Bindeglied am Knochen
angenagtes, besticktes
Wort
in den Sinn kommt mir ein Fluss
Hohlformen
Einschlüsse
gestickte Collage
planzliches Papier, Seidenpapier, Ausgeschnittenes, Stofffäden
Formen in Valeskas Gesicht
von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzt von Veronika Reinertshofer
Ihre Stirn vollendet sich an der Decke des Loft. Die Betrunkenen, die auf der Marmortreppe schmoren, der Süchtige an der zerstörten Ampel: das ist die Rundung ihres Kinns. Sie lächelt gleich dem aus Staub und Eisen gegossen alten Tor. Die Laterne kurz vor dem Fallen ist der Schwindel des Zäpfchens.
Wenn sie traurig ist, pressen ihr die Gespenster der alten Bisse die Zähne zusammen. Sie wiederholen sich in der Rutine der Mahlzeiten: in einer ersten Humita; entzündetes Zahnfleisch vom Saufen, Gewirr auf dem Rancagua-Platz voll mit Sprachen und Rucksäcken und Pinguinen.
In ihrem Grübchen auf der linken Wange rollt sich eine 14-jährige Hündin zusammen, der ich nicht zu stören rate.
Manchmal hat das Gurgeln die Geschwindigkeit von Graffitis, die spiralförmig aufsteigen. Aufmerksam sein, weil sie den Schaum in Farben denkt, wenn die Gefühle bis zur Nase reichen. Wie damals als sie neben den Booten im trunkenen Wellengang mit dem Gitarristen trieb, und sie das Schillern auf der Meeresoberfläche zwischen den Hafenkränen sah.
Unter den breiten und runden Augenbrauen, die sie von ihrem Vater geerbt hat, ruhen zwei Katzen in deren Schnurren eine Taube atmet. Die Einstimmigkeit der Vogelschwärme, die aus dem Gebäude ausströmen, ist ein Geheimnis sowie der Chimangokarakara, der auf nur einen Versuch das Abenteuer des gesamten Konzepts erfasst. Es scheint, als hätte die Familie in einer Pfote Platz und würde dort sterben.
An einem Tag der Läuterung entschied sie sich zu reisen: nach Norden verabschiedete sie die Kälte des Südens, nach Süden, verabschiedete sie ihren Vater. Die asiatischen Augen füllten sich mit Schuld und Palmen.
Maia Traine
entreLineas@goethe.de