Kochkunst und Geschichte
Dekonstruktion der Küche Bahias
Dass sich in Bahias Küche afrikanische Züge erhalten hätten, die sich von denen anderer brasilianischer oder in der „Schwarzen Diaspora” gelegener Städte unterscheiden würden, halten Experten für einen Mythos.
„Die Imagebestandteile der Marke ‚Bahia‛ (zu der auch die Küche gehört) speisen sich insbesondere aus symbolischen, statischen und alltäglichen Handlungen, die für den Tourismus aufgerufen und instrumentalisiert werden und dessen wichtigste Ressource die Betonung des kulturellen Erbes ist“, stellt Joachim Michael Krones in seinem Artikel Turismo e Baianidade: a construção da marca ‚Bahia‛ (Dt.: Tourismus und ‚Bahianität‛: die Konstruktion der Marke ‚Bahia‛) fest. „Die als ‚afro‛ charakterisierten Kulturformen bestimmen das Alltagsleben der Stadt Salvador und verleihen ihr ein besonderes, attraktives, vermarktbares und exportierbares Profil“, sagt der Wissenschaftler.
Aus ernährungstechnischer Sicht trägt diese kulturelle Konstruktion zudem zu einer Unsichtbarmachung des starken indigenen Einflusses auf die Küche Bahias bei. „Maniokmehl war die Königin auf allen Tischen Bahias; der König war Fleisch“, erklärt Jeferson Bacelar, Wissenschaftler am Zentrum für afroorientalische Studien CEAO und Dozent für die Postgraduierung in Anthropologie, Ethnologie und Afrikanistik der Bundesuniversität Bahia in seinem Artikel A comida dos baianos no sabor amargo de Vilhena (Dt.: Das Essen der Bahianer mit dem bitteren Geschmack Vilhenas).
Bacelar skizziert darin die Küche Bahias unter Bezug auf ein gemeinhin als Cartas de Vilhena bekanntes Werk über Bahia am Ende des 18. Jahrhunderts. „Auf den Tischen der Stadt spiegelte sich die Hierarchie der unterschiedlichen Maniokmehlsorten: feines Mehl, Copioba genannt, für die Begüterten; das gelbe, grobe, stockige für die Schwarzen und Armen. Das andere Hauptnahrungsmittel der Bewohner von Salvador war Fleisch. (...) Die Viehzucht etablierte sich bereits früh als einer der wichtigsten Faktoren für die Besiedelung des Sertão. Ihre Ausbreitung ins Landesinnere Brasiliens begann über Bahia“, schreibt der Wissenschaftler.
Religiosität und Widerstand
Chef Angélica Moreira. | Foto: Safira Moreira Für Bacelar ist es die religiöse Küche, in der sich Kraft und Tradition der Präsenz afrikanischer Züge in Bahia bewahrt haben. „Die Kultstätten des Candomblé haben eigene Opferspeisen entwickelt, die Resultat des religiösen Austauschs zwischen Brasilien und Afrika sind“, sagt er und betont, dass es selbst in der Küche der Kultstätten keine „authentische“ oder „originale“ Ernährung gebe. Alles sei durchdrungen von vielfältigen kulturellen Bezügen.Bacelar zitiert gern einen der wichtigsten Ernährungsanthropologen Bahias: „Vivaldo da Costa Lima hatte eine kritische Sicht auf die Neuerfindung der Tradition dessen, was es in Afrika gegeben habe und gegenüber der Art, wie sich diese Rekonstruktion in Brasilien darstellt. Er hätte nie eine starre Sichtweise eingenommen und war der Ansicht, dass sich alles beständig verändert.“ Vivaldo da Costa Lima (1925-2010) war „Obá“ der afrobrasilianischen Gottheit Xangô am „terreiro“ Ilê Axé Opô Afonjá, emeritierter Professor der Bundesuniversität Bahia (UFBA) und einer der Pioniere des Zentrums für afroorientalische Studien CEAO. Noch kurz vor seinem Tod verfasste er letzte Notizen für eine 1965 gemeinsam mit der damaligen Priesterin der „terreiro“ Alaqueto, D. Olga Francisca Régis, verwirklichte Untersuchung der dortigen Opferküche, die 2011 im Verlag Corrupio veröffentlicht wurde.
Essen und Macht
Für Bacelar sollte mehr in die Erforschung der Volksküche Bahias investiert werden. „Man weiß nur wenig über deren Geschichte“, sagt er. „In der Kolonie herrschte ein hierarchisches Geflecht von Positionen, in dem Elemente wie Kleidung und Essen die soziale Bedeutung jedes Individuums definierten. (...) Wenn es um Bahias Küche geht, stellt man eine komplette Unsichtbarmachung der weißen Frau fest, der Hausherrin. Es wird übersehen, dass Essen auch Machtverhältnisse reflektiert, und daher ist die Vorstellung illusorisch, schwarze Köchinnen hätten allein durch ihre Anwesenheit in den Räumen der Weißen die Küche dominiert und ihren Geschmack durchgesetzt. Sie haben einige Elemente eingebracht, bestimmte Zutaten hinzugefügt, aber stets unter der Aufsicht und auf Geheiß der weißen Herrin. Schließlich war der Tisch einer der wichtigsten Dominanzräume der weißen Frau im kolonialen und kaiserlichen Brasilien“, schreibt der Forscher.Neuinterpretation in der heutigen Küche
Mariscada. Restaurant Ajeum. | Foto. Safira Moreira „Das volkstümliche, auf der Straße verkaufte Essen Bahias verwendet einige Elemente der Opferküche, ist aber nie eine einem bestimmten Orixá gewidmete Speise. Es gibt eine universelle gastronomische Invasion, und wir in Bahia erhalten uns, insbesondere durch unsere Religiosität, kulturelle Elemente der afrikanisch geprägten Küche, die sich über die Zeit gerettet hat. Es ist der Kampf um die Stärkung schwarzer Identität“, findet Köchin Angélica Moura, die vor annähernd vier Jahren das Restaurant Ajeum da Diáspora: cozinha da resistência (Dt. etwa: Essen der Diaspora: Küche des Widerstands) gründete.Ajeum ist ein Yoruba-Wort für Essen im Sinne des Genusses von Geschmäckern, Düften und Gewürzen. „Es ist wie eine gastronomische Reise“, erklärt Moura. Auf der Suche nach Autonomie und Überleben schuf sie ein Restaurant, für das sie sporadisch ihre Wohnung öffnet und jedes Mal ein einzigartiges Menü bietet, Resultat einer intuitiven Forschungsarbeit in dem Versuch eines Dialogs mit der Afrikanischen Diaspora. „Ich wollte etwas Besonderes anbieten, denn in Salvador weißt du, wo es gute Feijoada, Rabada, Mocotó oder Sarapatel gibt. Ich wollte nicht in dasselbe Horn blasen. Also begann ich das Essen einiger afrikanischer Länder zu erforschen, denn in Salvador kann man die Zutaten dafür bekommen. Also begann ich zu machen, zu kreieren und zu kopieren. Ich schaue mir viele Gerichte aus Kuba, New Orleans, Nigeria, Angola, Benin an und verfeinere sie. Ich gehe sehr kreativ vor bei der ästhetischen Gestaltung meiner Gerichte, denn es muss schön sein“, verrät die Köchin aus dem Stadviertel Tororó in Salvador.